Der Tote am Steinkreuz Peter Tremayne Schwester Fidelma ermittelt #5 Eigentlich hatten Fidelma und ihr Begleiter, der angelsächsische Mönch Eadulf, gehofft, nur wenige Tage im Tal von Araglin zu bleiben. Doch so leicht, wie sie zunächst annehmen, sind die Schuldigen an der blutigen Ermordung des Stammesfürsten und dessen Schwester doch nicht zu entlarven. Jeder in diesem schönen Tal scheint etwas zu verbergen, jeder scheint ein düsteres Geheimnis zu hüten, und keiner ist wirklich bereit, Fidelma und Eadulf bei ihrer Aufgabe zu unterstützen. Ein Netz geheimer Intrigen verbindet offenbar alle, und Fidelma und ihr Begleiter geraten in Gefahr, sich darin zu verfangen. Wer die Mönchkrimis von Ellis Peters mag, wird von Schwester Fidelma nicht lassen können. Peter Tremayne ist das Pseudonym eines anerkannten Historikers, der sich auf die versunkene Kultur der Kelten spezialisiert hat. In bisher vier weiteren historischen Kriminalromanen löst die irische Nonne und Anwältin bei Gericht, Schwester Fidelma, auf kluge und selbstbewußte Weise die schwierigsten Fälle: Nur der Tod bringt Vergebung (1998); Ein Totenhemd für den Erzbischof (1998); Der Todesstein (Geschichten, 1999); Die Tote im Klosterbrunnen (2000); Tod im Skriptorium (2001). Die Originalausgabe unter dem Titel »The Spider’s Web« erschien 1997 bei Headline Book Publishing, London. Für meinen guten Freund Terence, den Mac Carthy Mor, Fürst von Desmond, in direkter ununterbrochener männlicher Linie in der 51. Generation ein Nachkomme des Königs Eoghan Mor von Cashel (gest. 192 n. Chr.), der Schwester Fidelma freundlich in die Familie seiner Vorfahren aufgenommen hat! Gesetze sind wie Spinnennetze: Wenn ein armes schwaches Geschöpf dagegenfliegt, verfängt es sich darin, doch ein größeres kann es durchstoßen und entkommen. Solon von Athen (geb. um 640 v. Chr. - gest. nach 561 v. Chr.) Historische Anmerkung Diese Geschichte ereignete sich in dem Monat, den die Iren des siebenten Jahrhunderts als Cet-Soman kannten und der später Beltaine oder Mai genannt wurde. Sie spielt im Jahre 666. Leser früherer Abenteuer der Schwester Fidelma kennen bereits die Unterschiede zwischen der irischen Kirche des siebenten Jahrhunderts, die man jetzt gewöhnlich die keltische Kirche nennt, und der römischen Kirche. In vielem wich die irische Liturgie und Philosophie von der römischen ab. Ich habe schon erläutert, daß der Begriff des Zölibats bei Mönchen und Nonnen zu der Zeit nicht populär war, weder in der keltischen Kirche noch in der römischen. Man muß sich vor Augen halten, daß in Fidelmas Tagen viele Klöster häufig beide Geschlechter beherbergten und Mönche und Nonnen oft heirateten und ihre Kinder zum Dienst im Glauben erzogen. Sogar Äbte und Bischöfe durften damals heiraten und taten es auch. Das muß man bedenken, wenn man Fidelmas Welt verstehen will. Da den meisten Lesern das Irland des siebenten Jahrhunderts recht wenig vertraut sein wird, habe ich eine Skizze des Königreichs Muman beigegeben. Ich habe lieber diesen Namen beibehalten, als die anachronistische Bezeichnung zu benutzen, die dadurch entstand, daß man im neunten Jahrhundert die nordische Endung stadr (Ort) an Muman anhängte, woraus der moderne Name Munster wurde. Weil auch viele irische Eigennamen des siebenten Jahrhunderts unbekannt sein werden, habe ich eine Liste der Hauptpersonen als Hilfsmittel beigefügt. Zum besseren Verständnis des Lesers erwähne ich noch, daß die Währungseinheit cumal einen Wert von drei Milchkühen besaß. Als Einheit der Ackergröße entsprach ein cumal etwa 13,85 Hektar. Schließlich muß der Leser wissen, daß Fidelma im Rahmen des alten irischen Gesellschaftssystems agiert, dessen Gesetze der Fenechus besser unter der Bezeichnung Gesetze der Brehons (von breaitheamh = Richter) bekannt sind. Sie ist als Anwalt bei Gericht zugelassen, eine Stellung, die Frauen im Irland jener Zeit häufig bekleideten. Hauptpersonen Schwester Fidelma von Kildare, eine dalaigh oder Anwältin bei Gericht im Irland des siebenten Jahrhunderts Bruder Eadulf Von Seaxmund’s Ham, ein angelsächsischer Mönch aus dem Lande des Südvolks Cathal, Abt von Lios Mhor Bruder Donnan, ein Gerichtsschreiber Colgü von Cashel, König von Muman und Fidelmas Bruder Beccan, Oberrichter der Corco Loigde Bressal, ein Herbergswirt Morna, Bressals Bruder Eber, Fürst von Araglin Cranat, Ebers Ehefrau Cron, Ebers Tochter und seine Tanist, seine designierte Nachfolgerin Teafa, Ebers Schwester Moen, ein blinder Taubstummer Duban, Kommandeur der Leibwache Ebers Critan, ein junger Krieger Menma, oberster Pferdewärter im rath von Araglin Dignait, die Hausverwalterin Grella, eine Dienerin Pater Gorman von Cill Uird Archü, ein junger Bauer aus Araglin Scoth, seine Verlobte Muadnat vom Schwarzen Moor, sein Vetter Agdae, Muadnats Oberhirt und Neffe Gadra, ein Einsiedler Clidna, eine Bordellwirtin Kapitel 1 Der Donner grollte um die hohen kahlen Gipfel der Berge, die den Maoldomhnach umgaben und nach ihm genannt wurden. Gelegentlich erhellte ein Blitz die runde Kuppe und ließ die Schatten schnell über das Tal von Araglin gleiten, das inmitten seiner nördlichen Vorberge lag. Es war eine dunkle Nacht, in der sich die Gewitterwolken zusammenballten und über den Himmel jagten, als würden sie vom mächtigen Atem der alten Götter durcheinandergewirbelt. Auf den hochgelegenen Weiden drängten sich die zottigen Rinder zusammen, manchmal aufgeregt brüllend, nicht nur, um sich vor dem drohenden Gewitter zu schützen, sondern auch, um einander vor dem allgegenwärtigen Geruch hungriger Wolfsrudel zu warnen, die durch die dichten Wälder am Rande der Bergwiesen streiften. In einer weit von den Rindern entfernten Ecke der Weiden stand ein majestätischer Hirsch und bewachte besorgt seine Hirschkühe und ihre Kälber. Ab und zu warf er den Kopf mit dem weitverzweigten Geweih hoch und sog mit zitternden Nüstern die Luft ein. Trotz der Dunkelheit, der schweren Wolken und des nahen Gewitters spürte er die heraufziehende Dämmerung hinter den fernen Gipfeln im Osten. Unten im Tal, an dem düsteren, murmelnden Fluß, lag eine Gruppe unbefestigter Gebäude in völliger Finsternis. Kein Hund rührte sich um diese Zeit, und es war noch zu früh für die Hähne, den Anbruch eines neuen Tages zu verkünden. Selbst die Vögel hatten ihren Morgengesang noch nicht begonnen und hockten schläfrig in den Bäumen ringsum. Doch ein menschliches Wesen regte sich bereits in dieser finsteren Stunde, ein Mann erwachte in dieser Zeit der Stille, in der die Welt wie tot und verlassen wirkte. Menma, der oberste Pferdewärter Ebers, des Fürsten von Araglin, ein großer, schwerfälliger Mann mit einem buschigen roten Bart und einem Hang zum Trinken, blinzelte, warf das Schaffell ab und erhob sich von der Strohmatratze seines Bettes. Ab und zu erhellte ein Blitz seine einsame Hütte. Menma stöhnte und schüttelte den Kopf, als würde ihn das von den Nachwirkungen des Besäufnisses vom Vorabend befreien. Er langte zum Tisch, suchte mit zitternden Händen nach Feuerstein und Zunder und steckte die Talgkerze auf dem Tisch an. Dann reckte er seine verkrampften Glieder. Obwohl er soff, besaß Menma ein eigentümliches angeborenes Zeitgefühl. Sein ganzes Leben lang war er in der dunklen Stunde vor dem Morgengrauen aufgestanden, wie spät er auch sinnlos betrunken auf sein Bett gefallen sein mochte. Sein Morgenritual bestand darin, die gesamte Schöpfung zu verfluchen. Menma fluchte gern. Manche Leute begannen den Tag mit einem Gebet, andere mit ihrer Morgenwäsche. Menma von Araglin begann den Tag damit, daß er seinen Herrn, den Fürsten Eber, verfluchte und ihm alle möglichen Todesarten wünschte: Ersticken, Krämpfe, Zerfleischen, Ruhr, Gift, Ertrinken, Erdrosseln und noch ein paar andere, so weit seine dürftige Phantasie reichte. Nachdem er seinen Herrn nach allen Regeln der Kunst verwünscht hatte, ging Menma dazu über, seine eigene Existenz zu verfluchen und seine Eltern, weil sie nicht reich und mächtig waren, sondern einfache Bauern, und ihn dadurch zu einem Leben als gewöhnlichen Pferdewärter verurteilt hatten. Seine Eltern hatten als arme Landarbeiter auf den Höfen ihrer reicheren Vettern gelebt. Sie hatten keinen Erfolg im Leben, und daraus hatte sich Menmas eigene untergeordnete Lebensstellung ergeben. Menma war neidisch und verbittert und mit seinem Schicksal unzufrieden. Dennoch erhob er sich automatisch in der Dunkelheit des frühen Morgens und zog sich an. Er machte sich nie die Mühe, sich zu waschen oder die verfilzte Masse seines schulterlangen roten Haares und seines großen buschigen Bartes zu kämmen. Ein langer Zug aus dem Krug mit corma, dem ekelhaften Met, der immer neben seinem Bett stand, war die ganze Säuberung, die er für den Tag brauchte. Der Gestank seines Körpers und seiner Kleidung verriet allen, die ihm na-he genug kamen, um den üblen Geruch einzuatmen, daß Menma und Sauberkeit nicht zueinander paßten. Er schlurfte zur Tür seiner Hütte und spähte hinauf zum dunklen Himmel. Der Donner grollte noch, aber er wußte instinktiv, daß es an dem Tag im Tal nicht regnen würde. Das Gewitter zog auf der anderen Seite der Berge von Osten nach Westen, also parallel zum Tal von Araglin. Es würde nicht nach Norden über die Berge gelangen. Nein, der Tag würde trocken bleiben, wenn auch bewölkt und kühl. Die Wolken verdeckten die Sterne, so daß er die Zeit nicht genau bestimmen konnte, doch er ahnte mehr als er es sah, daß die blasse Linie der Morgendämmerung nur knapp hinter den Gipfeln der Berge im Osten lag. Der rath des Fürsten von Araglin ruhte noch still in der Dunkelheit. Es war nur ein unbefestigtes Dorf, doch die Höflichkeit gebot, den Sitz eines Fürsten als rath oder Burg zu bezeichnen. Menma stand in der Tür und begann nun leise den Tag selbst zu verfluchen. Es ärgerte ihn, daß alle noch schlafen konnten, er aber als erster aufstehen mußte. Als er mit dem Tag fertig war, konnte er immer noch über das ganze Araglin herziehen und tat das mit dem vollen Einsatz seines bescheidenen Vokabulars. Er wandte sich kurz zurück in seine Hütte und blies die Kerze aus, dann schlurfte er den Weg entlang, der zwischen den friedlichen Gebäuden zu den Ställen des Fürsten führte. Dazu brauchte er keine Kerze, denn diesen Weg war er oft genug gegangen. Seine erste Aufgabe war es, die Pferde auf die Weide zu treiben, die Jagdhunde des Fürsten zu füttern und dann das Melken der Kühe des Fürsten zu beaufsichtigen. Wenn die Pferde auf der Weide und die Hunde gefüttert waren, dann wurden die Frauen in der Wirtschaft wach und kamen zum Melken. Das war keine Männerarbeit, und Menma ließ sich nicht dazu herab. Aber kürzlich waren in dem Tal Rinder geraubt worden, und Fürst Eber hatte ihn angewiesen, vor jedem Melken die Herde zu kontrollieren. Es kränkte die Ehre eines Fürsten, wenn jemand es wagte, auch nur ein Kalb aus seiner Herde zu stehlen, und Eber war außerdem wütend darüber, daß Rinderdiebe den Frieden seines Landes störten. Seine Krieger hatten die ganze Gegend nach den Räubern abgesucht, doch ohne Erfolg. Menma näherte sich der mächtigen dunklen Festhalle, einem der wenigen großen Steingebäude innerhalb des alten rath. Das andere steinerne Gebäude war Pater Gormans Kapelle. Die Ställe lagen auf der anderen Seite des Runddorfs gleich hinter dem Gästehaus. Menma mußte dorthin im Halbkreis hinter den hölzernen Anbauten an der steinernen Halle entlanggehen, in denen sich die Privatzimmer des Fürsten und seiner Familie befanden. Menma blickte sie neiderfüllt an. Eber würde noch den ganzen Morgen schnarchend im Bett liegen. Menmas Bart verbarg sein lüsternes Grinsen. Er fragte sich, ob wohl in dieser Nacht jemand Ebers Lager teilte. Dann runzelte er ärgerlich die Stirn. Warum Eber und nicht er selbst? Was war so Besonderes an Eber, daß er Reichtum und Macht besaß und Frauen in sein Bett locken konnte? Welches Schicksal hatte ihn selbst zum Pferdewärter bestimmt? Warum ...? Plötzlich blieb er stehen und hielt den Kopf schief. Die Dunkelheit schien ohne jeden Laut. Der rath lag noch im Schlummer. Von hoch oben in den Bergen durchbrach das langgezogene Heulen eines Wolfs die Stille. Doch das war es nicht, was ihn den Schritt verhalten ließ. Es war ein anderes Geräusch. Ein Ton, den er nicht einordnen konnte. Er wartete einen Moment, aber es blieb still. Er wollte das nur halb vernommene Geräusch schon als ein Spiel des Windes abtun, als er es wieder hörte. Ein leises, klagendes Stöhnen. War das wirklich der Wind? Menma bekreuzigte sich plötzlich und erschauerte. Gott wende alles Übel von mir ab! War es etwa einer von denen, die im Berge wohnten? Von den sidh-Leuten, den Zwergen, die nach Seelen suchten und sie in ihre dunklen Höhlen schleppten? Da ertönte ein plötzlicher Schrei, nicht laut, aber durchdringend genug, um Menma zusammenfahren zu lassen. Sein Herz schlug schneller. Dann hörte er wieder das leise Stöhnen, diesmal etwas lauter und länger. Menma schaute sich um. Nichts regte sich zwischen den dunklen Schatten der Gebäude. Niemand anders schien den Laut vernommen zu haben. Er versuchte ihn zu orten. Er kam aus der Richtung von Ebers Zimmern. Er klang zwar geisterhaft, doch Menma erkannte nun, daß es eine Menschenstimme war. Erleichtert atmete er auf, denn so grob seine Sicht auf die Welt auch war, er hielt es nicht für geraten, sich mit den szdh-Leuten anzulegen, wenn sie darauf ausgingen, Seelen zu stehlen. Rasch sah er sich um. Das Gebäude schien dunkel und still. War Eber krank? Unschlüssig runzelte er die Stirn. Eber war sein Fürst, und was auch kam, Menma hatte eine Verpflichtung gegenüber seinem Fürsten. Diese Verpflichtung ließ ihn selbst seine Verbitterung nicht vergessen. Vorsichtig ging er zur Tür von Ebers Wohnung und klopfte leicht an. »Eber? Bist du krank? Brauchst du Hilfe?« rief er leise. Es kam keine Antwort. Er klopfte noch einmal an, diesmal etwas stärker. Als er wieder keine Antwort erhielt, nahm er seinen Mut zusammen und hob die Klinke an. Die Tür war nicht verschlossen, was er auch erwartet hatte. Niemand verschloß seine Tür im rath des Fürsten von Araglin. Er trat ein. Ohne Mühe gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Das Zimmer war leer. Er wußte, daß Ebers Wohnung aus zwei Zimmern bestand. Das erste, in dem er sich befand, hieß das »Gesprächszimmer« und war das private Empfangszimmer des Fürsten, in dem er besondere Gäste vertraulich bewirtete, fern von der Öffentlichkeit der Festhalle. Dahinter lag das Schlafzimmer des Fürsten. Nachdem Menma festgestellt hatte, daß das erste Zimmer leer war, wandte er sich dem zweiten zu. Sogleich bemerkte er einen Lichtstreifen unter der Tür. Dann fiel ihm ein anschwellendes Stöhnen auf, das aus dem Zimmer drang. »Eber!« rief er laut. »Fehlt dir etwas? Ich bin’s, Menma der Pferdewärter.« Es kam keine Antwort, und das Stöhnen wurde nicht leiser. Er ging zur Tür und klopfte heftig an. Nach kurzem Zögern trat er ein. Auf dem Tisch brannte eine kleine Lampe. Menma blinzelte rasch, um die Augen an das Licht zu gewöhnen. Er spürte, daß jemand zusammengekauert neben dem Bett hockte, hin und her schaukelte und wimmerte. Das war das Stöhnen, das er vernommen hatte. Er bemerkte dunkle Flecken auf der Kleidung der Gestalt. Dann weiteten sich seine Augen. Es waren Blutflecke, und etwas blinkte und funkelte im Lampenlicht, etwas in den Händen der Gestalt. Es war ein langes Messer. Einen Augenblick stand Menma unbeweglich da, gebannt von dem Anblick. Dann erkannte er eine zweite Gestalt in dem Zimmer. Jemand lag auf dem Bett, neben dem die stöhnende Gestalt kniete. Menma trat einen Schritt vor. Auf dem Bett, nackt bis auf die verrutschte Zudek-ke, lag der blutverschmierte Leichnam des Fürsten Eber. Eine Hand ruhte locker hinter dem Kopf. Die Augen waren starr und weit offen und wirkten in dem flackernden Lampenlicht wie lebendig. Die Brust war voller blutiger Wunden. Menma hatte oft genug das Schlachten von Tieren gesehen und erkannte sofort die Wunden von Messerstichen. Jemand mußte voller Wut das Messer immer wieder in die Brust des Fürsten von Araglin gestoßen haben. Menma hob die Hand, um sich zu bekreuzigen, ließ sie aber sofort wieder sinken. »Ist er tot?« fragte er mit hohler Stimme. Die Gestalt neben dem Bett wiegte sich weiter hin und her und stöhnte. Sie blickte nicht auf. Menma trat noch einen Schritt vor und schaute ungerührt auf den Liegenden. Dann ging er dichter heran, ließ sich auf ein Knie nieder und suchte den Puls am Hals des Fürsten. Der Leichnam fühlte sich bereits kalt an. Als er ihm nun näher in die Augen schaute und das Lampenlicht ihn nicht mehr täuschte, sah er, daß sie starr und glasig waren. Menma richtete sich auf und starrte angeekelt auf das Bett. Er zögerte und spürte, daß er sichergehen mußte, daß Eber tot war. Er hob den Fuß und stieß die Leiche mit den Zehen an. Keine Reaktion. Dann holte er aus und trat dem Leichnam kräftig in die Seite. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Fürst Eber war tot. Menma wandte den Blick auf die immer noch stöhnende Gestalt, die das Messer umklammerte. Er stieß ein rauhes Lachen aus. Plötzlich wurde ihm klar, daß er, der Pferdewärter Menma, so reich und mächtig werden würde wie die Vettern, die er sein ganzes Leben lang beneidet hatte. Er kicherte noch vor sich hin, als er die Wohnung des Fürsten verließ und sich auf die Suche nach Du-ban machte, dem Kommandeur von Ebers Leibwache. Kapitel 2 Die tiefklingende Glocke der Abtei verkündete das neuerliche Zusammentreten des Gerichts. Es war am frühen Nachmittag, doch die Luft war nicht warm. Die kühlen grauen Granitmauern des Gebäudes schützten sein Inneres vor der Sonne. Die kleine Seitenkapelle der Abtei, die der Gerichtsverhandlung diente, war fast leer. Nur wenige Leute hatten auf den Holzbänken Platz genommen. Dabei hatte sich die Kapelle am Vortag bis zum Bersten gefüllt mit Klägern, Beklagten und Zeugen. Doch an diesem Nachmittag stand nur noch der letzte Fall, der vor diesem Gericht verhandelt wurde, zur Entscheidung an. In den zahlreichen anderen Fällen war bereits das Urteil gesprochen worden. Die Teilnehmer an dieser letzten Verhandlung, etwa ein halbes Dutzend, erhoben sich respektvoll, als der Brehon, der Richter, eintrat und seinen Platz am oberen Ende des Raumes einnahm. Es war eine Richterin, Mitte bis Ende zwanzig, und sie trug das Gewand einer Nonne. Sie war hochgewachsen, hatte ein hübsches Gesicht und rotes Haar, das sich unter ihrer Kopfbedeckung hervordrängte. Die Farbe ihrer Augen war schwer zu bestimmen, denn sie konnten je nach ihrer Stimmung in eisigem Blau leuchten oder in feurigem Grün funkeln. Ihre jugendliche Erscheinung entsprach nicht der allgemeinen Vorstellung von einem erfahrenen, weisen und gelehrten Richter, aber als sie in den letzten Tagen die Beweislage in verschiedenen Rechtsstreitigkeiten prüfte und abwog, hatte diese so jung wirkende Frau die Parteien vor ihr mit ihren Kenntnissen, ihrer Logik und ihrem Mitgefühl beeindruckt. Schwester Fidelma war tatsächlich eine ausgebildete dalaigh, eine Anwältin an den Gerichten der fünf Königreiche von Eireann. Sie besaß den Rang eines anruth, was bedeutete, daß sie nicht nur Fälle vor dem Richter vertreten, sondern auch, wenn sie dazu berufen wurde, selbst Fälle verhandeln und entscheiden durfte, die nicht die Anwesenheit eines Richters höheren Ranges erforderten. Fidelma war ausgewählt worden, als Richter dem Gericht vorzustehen, das in der Abtei von Lios Mhor tagte. Die Abtei lag außerhalb der »großen Befestigung«, die ihr den Namen gab. Lios Mhor stand am Ufer des ansehnlichen Flusses, der einfach Abhainn Mor, »der große Fluß«, genannt wurde, südlich von Cashel im Königreich Muman. Der Sekretär der Abtei, der als Gerichtsschreiber fungierte und die Verhandlungen protokollierte, blieb stehen, als Fidelma und die anderen sich setzten. Er hatte eine melancholische Stimme und würde, dachte Fidelma, sich als berufsmäßiger Totenkläger sehr gut machen. »Die Verhandlung ist hiermit eröffnet. Die Klage von Archü, Sohn der Suanach, gegen Muadnat vom Schwarzen Moor wird fortgesetzt.« Er ließ sich nieder und warf Fidelma einen erwartungsvollen Blick zu. In der Hand hielt er seinen Schreibgriffel, denn das Protokoll wurde zunächst auf feuchten Ton in einem Holzrahmen geschrieben und nach Beendigung der Gerichtssitzungen auf das dauerhaftere Pergament übertragen. Fidelma saß hinter einem großen reichgeschnitzten Eichentisch, auf dem ihre Hände mit den Flächen nach unten ruhten. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah die Beteiligten auf den Bänken vor ihr fest an. »Archü und Muadnat, bitte tretet vor und stellt euch vor mir auf.« Ein junger Mann erhob sich eilig. Er war gerade erst siebzehn Jahre alt und kam mit eifriger Miene nach vorn, wie ein Hund, dachte Fidelma, der eine Gunst von seinem Herrn erbetteln will. Der andere Mann stand in mittlerem Alter und hätte fast der Vater des Jungen sein können. Er hatte ein ernstes Gesicht und machte eine beinahe finstere Miene. Von Humor war bei ihm wenig zu spüren. »Ich habe mir die Argumente angehört, die in diesem Fall vorgebracht wurden«, begann Fidelma und blickte von einem zum anderen. »Ich möchte sehen, ob ich die Tatsachen gerecht formulieren kann. Du, Archü, hast gerade die Volljährigkeit erreicht, das Alter der Entscheidung. Ist das richtig?« Der Jüngling nickte. Siebzehn Jahre war das Alter, in dem nach dem Gesetz ein Junge ein Mann wurde und seine eigenen Entscheidungen treffen konnte. »Du bist das einzige Kind von Suanach, die vor einem Jahr starb? Suanach war die Tochter von Muad-nats Onkel?« »Sie war die einzige Tochter des Bruders meines Vaters«, bestätigte Muadnat barsch und ungerührt. »Ach ja. Dann seid ihr also Vettern?« Es gab keine Antwort. Offensichtlich mochten sich die beiden nicht, auch wenn sie verwandt waren. »Solche engen Verwandten sollten eigentlich nicht das Gericht bemühen, um ihre Streitigkeiten beizulegen«, ermahnte sie Fidelma. »Besteht ihr immer noch auf einem Urteil dieses Gerichts?« Muadnat schnaubte verächtlich. »Ich hatte kein Verlangen danach.« Der junge Mann errötete vor Zorn. »Ich auch nicht. Es wäre weit besser gewesen, wenn mein Vetter getan hätte, was Recht und Moral erfordern, bevor es so weit kam.« »Ich bin im Recht«, fuhr Muadnat auf. »Du hast keinen Anspruch auf das Land.« Schwester Fidelma zog spöttisch die Brauen hoch. »Anscheinend muß nun doch das Gesetz entscheiden, da ihr beide euch nicht einigen könnt. Ihr habt den Fall vor Gericht gebracht, damit es ein Urteil fällt. Das Urteil dieses Gerichts ist dann bindend für euch beide.« Sie lehnte sich zurück, faltete die Hände im Schoß und sah beide prüfend an. Zorn stand in ihren erregten Gesichtern. »Nun gut«, meinte sie schließlich. »Wenn ich es recht verstanden habe, erbte Suanach Land von ihrem Vater. Verbessert mich, wenn ich mich irre. Später heiratete sie einen Mann von jenseits des Meeres, einen Briten namens Artgal, der als Ausländer keinen Grundbesitz mit in die Ehe bringen konnte.« »Einen mittellosen Ausländer!« knurrte Muadnat. Fidelma ignorierte ihn. »Artgal, Archüs Vater, starb vor einigen Jahren. Ist das richtig?« »Mein Vater fiel im Kampf gegen die Ui Fidgente, im Dienst des Königs von Cashel«, ergänzte Archü voller Stolz. »Als Söldner«, höhnte Muadnat. »Dieses Gericht hat nicht die Aufgabe, über die Persönlichkeit Artgals zu befinden«, antwortete Schwester Fidelma spitz. »Es hat nach dem Gesetz zu urteilen. Also Artgal und Suanach hatten geheiratet ...« »Gegen den Willen ihrer Familie«, warf Muadnat wieder ein. »Das habe ich schon gehört«, erwiderte Fidelma ruhig. »Geheiratet haben sie jedenfalls. Nach dem Tode Artgals bewirtschaftete Suanach weiter ihr Land und zog ihren Sohn Archü auf. Vor einem Jahr starb Suanach.« »Und dann kam mein sogenannter Vetter und behauptete, das ganze Land gehöre ihm«, berichtete Archü in bitterem Ton. »So bestimmt es das Gesetz«, entgegnete Muadnat selbstgefällig. »Das Land hatte Suanach gehört. Als Ausländer besaß ihr Mann kein Land. Als Suanach starb, fiel ihr Land an die Familie zurück, und in dieser Familie bin ich ihr nächster Verwandter. So lautet das Gesetz.« »Er nahm sich alles«, beklagte sich der junge Mann empört. »Ich hatte das Recht dazu. Im übrigen warst du noch nicht im Alter der Wahl.« »Das stimmt«, erklärte Fidelma. »In diesem letzten Jahr war Muadnat als ältestes Mitglied der Familie nach dem Gesetz dein Vormund, Archü.« »Vormund? Sklavenhalter meinst du«, knurrte der junge Mann. »Ich mußte auf meinem eigenen Land arbeiten und bekam nur meinen Lebensunterhalt. Ich wurde schlechter behandelt als ein Tagelöhner und mußte in den Rinderställen essen und schlafen. Die Familie meiner Mutter sorgte nicht einmal so gut für mich wie für ihre Landarbeiter.« »Diese Tatsachen habe ich bereits registriert«, seufzte Fidelma geduldig. »Wir haben keine gesetzliche Verpflichtung dem Jungen gegenüber«, brummte Muadnat. »Wir geben ihm seinen Lebensunterhalt. Dafür sollte er uns dankbar sein.« »Dazu äußere ich mich nicht«, antwortete Fidelma kühl. »Die Forderung Archüs an dich, Muadnat, richtet sich darauf, daß er einen Teil des Landes, das seiner Mutter gehörte, erben sollte. Ist das so?« »Das Land seiner Mutter fällt an ihre Familie zurück. Er kann nur das erben, was seinem Vater gehör-te, und als Ausländer besaß sein Vater kein Land, das er ihm vererben konnte. Soll er doch in die Heimat seines Vaters gehen, wenn er Land haben will.« Fidelma lehnte sich in ihren Sessel zurück, streckte die Hände aus und richtete ihren Blick nun fest auf Muadnat. Ihre feurigen Augen verschleierten sich leicht, ihr Gesicht blieb ausdruckslos. »Wenn ein Kleinbauer, ein ocaire, stirbt, dann fällt ein Siebentel seines Landes als Steuer an den Fürsten zum Erhalt des Stammesgebiets. Ist das eingetreten?« »Ja«, warf der Gerichtsschreiber ein und blickte von seinen Protokollnotizen auf. »Die Bestätigung des Fürsten Eber von Araglin liegt vor, Schwester.« »Gut. Dann ist die Entscheidung, die dieses Gericht zu treffen hat, klar.« Fidelma wandte sich langsam Archü zu. »Deine Mutter war die Tochter und das einzige Kind eines Kleinbauern, eines ocaire. Bei seinem Tode war sie die weibliche Erbin und besaß ein lebenslanges Nutzungsrecht an dem Land ihres Vaters. Normalerweise kann sie dieses Land nicht ihrem Ehemann oder ihren Söhnen vererben, sondern es fällt bei ihrem Tode an die nächsten Verwandten innerhalb ihrer Sippe zurück.« Muadnat richtete sich auf, und zum ersten Mal lok-kerte sich seine finstere Miene und wich einem zufriedenen Ausdruck. Triumphierend sah er den jüngeren Mann an. »Aber«, fuhr Fidelmas Stimme plötzlich in eisigem Ton durch die Halle, »wenn ihr Ehemann ein Ausländer war, und in diesem Fall war er ein Brite, dann besaß er kein Land im Stammesgebiet. Deshalb konnte er seinem Sohn nichts vererben. Unter diesen Umständen ist das Gesetz eindeutig, und es war unser großer Richter Brig Briugaid, der das Urteil fällte, auf das sich das Gesetz gründet. Es lautet, daß unter diesen Umständen die Mutter das Land ihrem Sohn vererben kann, allerdings mit einer Einschränkung. Von ihrem Land kann sie ihm nur soviel vererben, wie der Gegenwert von sieben cumals beträgt, der die Mindestgröße an Land darstellt, von der an jemand als ocaire oder Kleinbauer gilt.« Es trat ein Schweigen ein, in dem Kläger und Beklagter versuchten, das Urteil zu begreifen. Fidelma hatte Mitleid mit ihren ratlosen Gesichtern. »Das Urteil fällt zu deinen Gunsten aus, Archü«, lächelte sie dem jungen Mann zu. »Dein Vetter hat das Land zu Unrecht inne, da du nun das Alter der Wahl erreicht hast. Er muß dir Land im Gegenwert von sieben cumals abtreten.« Muadnat zog ein langes Gesicht. »Aber . aber das Land, um das es geht, ist ja kaum größer als sieben cumals. Wenn er sieben cumals bekommt, bleibt nichts davon für mich übrig.« Fidelma redete mit ihm wie eine Lehrerin mit einem Schüler. »Nach dem alten Gesetz Crith Gablach bilden sieben cumals den Grundbesitz eines ocaire, auf den Archü Anspruch hat«, belehrte sie ihn. »Da du insoweit gegen das Gesetz verstoßen hast, als Archü keine andere Wahl blieb, als seinen Anspruch hier vor Gericht vorzubringen, mußt du diesem Gericht eine Gebühr von einem cumal zahlen.« Muadnats Gesicht wurde kreidebleich vor Zorn. »Das ist eine Ungerechtigkeit!« murrte er. Fidelma ließ sich von seiner Wut nicht erschüttern. »Rede mir nicht von Ungerechtigkeit, Muadnat. Du bist mit diesem jungen Mann verwandt. Als seine Mutter starb, wäre es deine Pflicht gewesen, für ihn zu sorgen und ihn zu beschützen. Du hast versucht, ihm das zu nehmen, was ihm nach dem Gesetz zustand, hast ihn ohne Bezahlung für dich arbeiten lassen und ihn gezwungen, schlechter zu leben als ein Sklave. Ich bin nicht sicher, ob du überhaupt weißt, was Gerechtigkeit ist. Es wäre gerecht, wenn ich dich verurteilte, ihm eine Entschädigung für das zu zahlen, was du ihm angetan hast. Mein Urteil ist noch gnädig ausgefallen.« Die kalten Worte Fidelmas ließen den Mann zusammenzucken, als habe ihn der Strom ihrer Verachtung körperlich getroffen. Er schluckte schwer. »Ich werde bei meinem Fürsten Eber von Araglin Einspruch gegen dieses Urteil erheben. Das Land gehört mir! Du wirst noch von mir hören.« »Ein Einspruch kann nur beim Obersten Richter des Königs von Cashel eingelegt werden«, unterbrach ihn der Gerichtsschreiber trocken, während er das Urteil ausfertigte. Er legte seinen Schreibgriffel beiseite und bemühte sich, es dem verärgerten Beklagten zu erklären. »Wenn ein Brehon ein Urteil fällt, gehört es sich nicht für dich, den Brehon zu beschimpfen. Falls du Einspruch einlegen willst, mußt du das in gebührender Form tun. Inzwischen, Muadnat vom Schwarzen Moor, bist du an das Urteil gebunden und mußt das Land deinem Vetter Archü überlassen. Kommst du dem nicht binnen neun Tagen nach, kannst du mit Gewalt davon vertrieben werden. Ist dir das klar? Und deine Strafe von einem cumal muß bis zum Aufgang des nächsten Vollmonds entrichtet sein.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich Muadnat ab und schritt rasch und schweigend aus der Kapelle. Ein kleiner muskulöser Mann mit einer kastanienbraunen Mähne erhob sich und folgte ihm verlegen. Archüs Miene zeigte, daß er dem Urteil kaum glauben konnte. Er beugte sich über den Tisch vor, ergriff Fidelmas Hand und schüttelte sie kräftig. »Gott segne dich, Schwester. Du hast mir das Leben gerettet.« Fidelma schenkte dem begeisterten jungen Mann ein dünnes Lächeln. »Ich habe lediglich ein Urteil nach dem Gesetz gefällt. Hätte das Gesetz anders gelautet, hätte ich gegen dich urteilen müssen. Im Gericht spricht das Gesetz, nicht ich.« Sie entzog ihm ihre Hand. Der junge Mann schien ihr kaum zugehört zu haben, denn jetzt wandte er sich, immer noch freudig lächelnd, ab und lief in den Hintergrund der Kapelle, wo ein junges Mädchen sich erhob und ihm fast in die Arme stürzte. Fidelma lächelte wehmütig, als sie sah, wie die beiden jungen Menschen sich an den Händen hielten und anschauten. Dann wandte sie sich rasch ihrem Gerichtsschreiber zu. »Ich glaube, das war der letzte Fall, den wir zu verhandeln hatten, nicht wahr, Bruder Donnan?« »Ja. Ich trage die Urteile heute noch ein und sorge dafür, daß sie in gebührender Form bekanntgemacht werden.« Der Gerichtsschreiber hielt inne, räusperte sich und senkte die Stimme. »Ich glaube, der Abt steht an der Tür und möchte dich sprechen.« Mit einer nervösen Kopfbewegung wies er auf die Tür der Kapelle. Fidelma wandte sich um. Tatsächlich wartete der breitschultrige Abt Cathal dort an der Tür. Fidelma stand sofort auf und ging zu ihm hin. »Suchst du mich, Pater Abt?« Abt Cathal war ein wohlgebauter, kräftiger Mann in mittlerem Alter mit einer militärischen Haltung, denn in seiner Jugend war er zum Krieger ausgebildet worden. Er stammte aus dieser Gegend und hatte die militärische Laufbahn aufgegeben, sich unter der Leitung des heiligen Cathach in Lios Mhor religiös unterweisen lassen und war zu einem anerkannten und hervorragenden Lehrer und Abt aufgestiegen. Cathal war der Sohn eines großen Kriegsfürsten, aber er hatte seinen ganzen Reichtum unter den Armen seines Stammes aufgeteilt und lebte in der bescheidenen Armut seines Ordens. Sein einfaches und direktes Handeln schuf ihm auch Feinde. Einmal hatte ein Fürst dieser Gegend, Maelochtrid, ihn gefangengesetzt unter der vorgeblichen Beschuldigung, er betreibe Zauberei. Doch nach seiner Freilassung hatte Cathal ihm vergeben. Ein solcher Mensch war er. Fidelma mochte Cathal, weil er so sanftmütig und frei von jeder Eitelkeit war. Damit stand er in einem erfreulichen Gegensatz zu dem Hochmut im Amt, dem sie so oft begegnete. Cathal war einer der wenigen Kirchenmänner, den sie ohne Zögern als »heilig« bezeichnen würde. »Ich suche dich tatsächlich, Schwester Fidelma«, antwortete der Abt mit einem raschen, warmen Lächeln. »Hat das Gericht seine Verhandlungen beendet?« Seine Stimme klang weich, beinahe ausdruckslos, doch Fidelma spürte, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein mußte. »Wir haben gerade beim letzten Fall das Urteil gesprochen, Pater Abt. Gibt es ein Problem?« Abt Cathal zögerte. »Zwei Reiter sind in der Abtei eingetroffen. Einer davon ist ein Ausländer. Sie kommen aus Cashel und suchen dich.« »Ist meinem Bruder etwas passiert?« fragte Fidelma sofort, denn das war ihr erster Gedanke. War ihrem Bruder Colgü etwas zugestoßen, dem jüngst eingesetzten König von Muman, dem größten der fünf Königreiche in Eireann? »Nein, nein. Dein Bruder, der König, ist wohlauf«, versicherte ihr der Abt. »Entschuldige meine ungeschickte Ausdrucksweise. Komm mit mir in mein Zimmer, dort wirst du erwartet.« Neugierig gemacht, eilte Fidelma jetzt so schnell neben der höheren Gestalt des Abts her, wie es ihre Würde gestattete. Einst ein kleiner verschlafener Winkel, war Lios Mhor, das große Haus, wie es genannt wurde, plötzlich berühmt geworden, als erst vor einer Generation der heilige Cathach von Rathan dorthin gezogen war und ein neues Kloster gegründet hatte. In kurzer Zeit hatte sich Lios Mhor zu einem der führenden Zentren theologischer Ausbildung entwickelt. Wie die meisten großen Abteien in Irland war es ein gemischtes Haus, ein conhospitae, in dem Mönche und Nonnen gemeinsam wohnten, arbeiteten und ihre Kinder im Dienste Christi erzogen. Während sie die Kreuzgänge des Klosters durchschritten, machten die Studenten, Mönche und Nonnen dem Abt ehrfürchtig Platz und verbeugten sich höflich. Die Studierenden waren junge Männer und Frauen aus vielen Ländern, die zur Ausbildung in die fünf Königreiche kamen. An der Tür zu den Gemächern des Abts blieb Cathal stehen, öffnete sie und ließ Fidelma den Vortritt. Ein großer älterer Mann von imponierender Erscheinung stand hinter dem Tisch des Abts. Er wandte sich mit einem breiten Lächeln um, als Fidelma eintrat. Trotz seines silbergrauen Haares und seines offenkundigen Alters sah er noch gut aus und wirkte energisch. Er trug eine goldene Amtskette über dem Mantel. Hätte ihn nicht schon sein Äußeres ausgezeichnet, so verriet die Amtskette seinen hohen Rang. Fidelma erkannte ihn sofort. »Beccan! Wie schön, dich wiederzusehen.« Der Oberrichter erwiderte ihr Lächeln. Er trat auf sie zu und ergriff ihre beiden Hände. »Es freut mich immer, Fidelma, jemanden zu sehen, der Zuneigung ebenso wie berufliche Achtung verdient.« Seine Worte und seine warme Begrüßung entsprangen nicht dem Protokoll, sondern echtem Gefühl. Fidelma hörte ein Hüsteln in ihrem Rücken und wandte sich forschend um. Dort stand ein Mönch, die Hände in seine grobgesponnenen braunen Wollge-wänder gewickelt. Seine Tonsur war anders als die des heiligen Johannes, wie sie von den Mönchen der fünf Königreiche von Eireann getragen wurde. Es war eine römische Tonsur. Sein Gesicht war ernst, aber seine dunkelbraunen Augen funkelten vor Vergnügen, als er sich grüßend vor ihr verneigte. »Bruder Eadulf!« flüsterte Fidelma überrascht. »Ich dachte, du wärst in Cashel und dientest meinem Bruder?« »Das tat ich auch. Aber es gab wenig zu tun in Cashel, und als ich hörte, daß Beccan dich hier aufsuchen wollte, erbot ich mich, ihn zu begleiten.« »Mich hier aufsuchen?« Fidelma erinnerte sich plötzlich an die Worte des Abts. »Was ist denn los?« »Es gibt einige beunruhigende Nachrichten, Schwester«, begann Beccan ernst. Dann zuckte er die Achseln und lächelte entschuldigend. »Verzeih, erst sollte ich dir sagen, daß es deinem Bruder gut geht in seiner Hauptstadt Cashel. Er sendet dir die herzlichsten Grüße.« Fidelma machte sich nicht die Mühe, ihm zu erklären, daß Abt Cathal ihr schon mitgeteilt hatte, daß mit ihrem Bruder alles in Ordnung war. »Was ist dann also die beunruhigende Nachricht?« Beccan zögerte einen Moment, wie um seine Gedanken zu ordnen. »Gestern abend kam ein Bote des Stammes von Eber von Araglin nach Cashel.« Der Name war Fidelma sofort vertraut, sie erinnerte sich sogleich daran, daß er in dem letzten Fall vorkam, in dem sie an diesem Nachmittag das Urteil gesprochen hatte. Eber war der Fürst des Gebiets, aus dem Archü und sein mitleidsloser Vetter gekommen waren, um ihr Gericht anzurufen. »Sprich weiter«, sagte sie schuldbewußt, denn Bec-can hatte wieder innegehalten, als er merkte, daß ihre Gedanken abschweiften. »Der Bote berichtete, daß Eber und eine seiner Verwandten ermordet worden seien. Jemand wurde am Tatort gefaßt.« »Was hat das mit mir zu tun?« fragte Fidelma. Beccan machte eine entschuldigende Geste. »Ich bin im Auftrage deines Bruders auf dem Wege nach Ros Ailithir. Es ist eine dringende Angelegenheit, und ich kann mir nicht die Zeit nehmen, nach Araglin zu gehen und eine ordentliche Untersuchung anzustellen. Dein Bruder, der König, legt Wert darauf, daß der Fall sofort untersucht und Recht gesprochen wird. Eber von Araglin war immer ein guter Freund von Cashel, und dein Bruder hält es für angebracht ...« Den Rest konnte sich Fidelma denken. »Daß ich nach Araglin gehe«, schloß sie den Satz mit einem Seufzer. »Nun, hier bin ich fertig. Morgen wollte ich zu meinem Bruder nach Cashel. Es spielt wohl keine große Rolle, ob ich dort ein oder zwei Tage später ankomme. Aber ich verstehe nicht so ganz, was es in Araglin noch zu untersuchen gibt, wenn der Schuldige schon gefaßt ist, wie du sagst. Bestehen denn Zweifel an seiner Schuld?« Beccan schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte«, versicherte er ihr. »Mir wurde berichtet, der Mörder sei mit einem Dolch in der Hand und in blutbefleckter Kleidung gefaßt worden, wie er sich über die Leiche Ebers beugte. Dein Bruder jedoch .« Fidelma schnitt eine Grimasse. »Ich weiß. Eber war ein Freund Cashels, und Gerechtigkeit muß fair geübt werden.« »Es gibt keinen Brehon in Araglin«, warf Abt Ca-thal ein, um die Situation zu erklären. »Es geht mehr darum, für ein ordentliches Gerichtsverfahren zu sorgen.« »Gibt es Grund zu der Annahme, daß es das nicht geben könnte?« Abt Cathal breitete die Hände aus, als hielte er die Frage für nicht so eindeutig zu beantworten. »Nach allem, was man hört, war Eber ein sehr beliebter Fürst und stand im Rufe der Freundlichkeit und Großzügigkeit. Anscheinend mochten ihn seine Leute. Es könnte die Neigung bestehen, den Schuldigen zu bestrafen, ohne sich genau an das Recht und den Buchstaben des Gesetzes zu halten.« Fidelma begegnete einen Moment seinem besorgten Blick. Cathal kannte die Bergbewohner rings um Lios Mhor besser als andere, denn er gehörte zu ihnen. Sie nickte kurz zum Zeichen, daß sie seine Besorgnis verstand. »Ich habe bei meiner Gerichtsverhandlung erlebt, daß zumindest ein Mann vom Stamme Araglin wenig Achtung vor dem Gesetz besitzt«, erinnerte sie sich. »Erzähl mir mehr von den Menschen von Araglin, Pater Abt.« »Da gibt es wenig zu berichten. Sie sind ein eng verbundenes Volk, das im allgemeinen für Außenstehende nicht viel übrig hat. Ebers Stamm lebt hauptsächlich in den Bergen um eine Ansiedlung herum, die der rath des Fürsten von Araglin genannt wird. Seine Ländereien erstrecken sich nach Osten am Fluß Ara-glin, der das Tal durchzieht. Es ist reiches Ackerland. Ebers Stamm hält zusammen und mißtraut allen Fremden. Es wird für dich keine leichte Aufgabe sein.« »Du sagtest, sie haben keinen Brehon? Haben sie wenigstens einen Priester?« »Ja, Pater Gorman wohnt im rath. Dort gibt es eine Kapelle, die Cill Uird genannt wird, die Kirche des Rituals. Er lebt seit zwanzig Jahren unter den Leuten von Araglin. Ausgebildet wurde er hier in Lios Mhor. Er wird dir sicher wertvolle Hilfe leisten können, obgleich er gewisse dogmatische Ansichten über die Verbreitung des Glaubens hat, über die du wahrscheinlich anderer Ansicht bist.« »Wie das?« erkundigte sich Fidelma interessiert. Cathal antwortete mit einem entwaffnenden Lächeln. »Ich meine, es ist besser, wenn du das selbst herausfindest, damit ich dich nicht beeinflusse.« »Ich vermute, er befürwortet die römischen Gebräuche«, seufzte Fidelma. Abt Cathal verzog das Gesicht. »Du besitzt viel Scharfblick, Schwester. Ja, Pater Gorman gibt den römischen Sitten den Vorzug vor unseren einheimischen. Er erhält dabei einige Unterstützung, denn er hat in Ard Mor eine römische Kapelle erbaut, die durch ihre Pracht Berühmtheit erlangt. Pater Gorman scheint über reiche Anhänger zu verfügen.« »Dennoch wohnt er immer noch an einem so einsamen Ort wie Cill Uird«, bemerkte Fidelma. »Das ist eigenartig.« »Suche nicht nach Geheimnissen, die es gar nicht gibt«, tadelte sie Abt Cathal, doch mit einem Lächeln. »Pater Gorman stammt aus Araglin, aber er meint, er müsse auch seine Interpretation des Glaubens verbreiten.« Beccan betrachtete amüsiert ihre trübsinnige Miene. Er schüttelte neckend den Kopf. »Dein Problem, Fidelma von Kildare, besteht darin, daß du zu gut bist in deinem Beruf. Deine Weisheit ist schon sprichwörtlich geworden in allen fünf Königreichen von Éireann.« »Die Vorstellung gefällt mir überhaupt nicht«, brummte Fidelma. »Ich diene dem Gesetz nicht zu meinem persönlichen Ruhm. Ich diene ihm, um den Menschen Gerechtigkeit zu bringen.« »Und dadurch, daß du das tust, Fidelma, wirst du bekannt als ein gerechter Mensch mit der Fähigkeit, umstrittene Probleme zu lösen. Aus deinen Erfolgen erwächst dein Ruf. Damit mußt du dich abfinden. Doch jetzt ...« Er wandte sich entschlossen zu Abt Cathal um. »Muß ich mich auf den Weg machen, wenn ich vor Tagesende noch nach Ard Mor kommen will. Vive valeque, Cathal von Lios Mhor.« »Vive, vale, Beccan.« Mit einem raschen Lächeln für Fidelma und einem Nicken zu Eadulf hin verschwand er und hatte den Raum verlassen, fast ehe sie es wahrnahmen. Fidelma wandte sich neugierig an Bruder Eadulf. »Begleitest du Beccan nicht? Wohin gehst du von hier, Eadulf?« Der dunkeläugige Mönch, der viele ihrer Abenteuer mit ihr bestanden hatte, blieb ungerührt. »Ich dachte, ich gehe mit dir nach Araglin, das heißt, wenn du nichts dagegen hast. Ich würde gern diesen Teil des Landes kennenlernen, ich habe ihn noch nie gesehen.« Fidelmas Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Lächeln bei dieser diplomatischen Antwort Ea-dulfs, die offenkundig so formuliert war, um jeden neugierigen Gedanken abzuwenden, den der Abt hegen mochte. Eadulf war durch Erbfolge in das Amt eines gerefa oder Friedensrichters bei seinem Volke, den Angelsachsen, gelangt. Der irische Missionar Fursa hatte ihn zum Christentum bekehrt und zur Ausbildung an die großen Hochschulen in Eireann geschickt. Zuerst hatte er am Kloster Durrow studiert und dann die berühmte medizinische Hochschule in Tuaim Brecain besucht. Danach war Eadulf von der Kirche Colmcil-les zur Kirche von Rom übergewechselt. Er wurde der Sekretär Theodores, des von Rom ernannten neuen Erzbischofs von Canterbury. Theodore schickte ihn wieder nach Irland als seinen Gesandten bei Fidelmas Bruder Colgü von Cashel. Eadulf war in den fünf Königreichen völlig zu Hause und sprach fließend Irisch. »Du kannst mich gern begleiten, Eadulf«, antwortete sie leise und fügte hinzu: »Hast du ein Pferd?« »Dein Bruder hat mir freundlicherweise eines für die Reise zur Verfügung gestellt.« Normalerweise ritten Mönche und Nonnen nicht, wenn sie reisten. Daß Fidelma ein Pferd besaß, hatte seine Ursache in ihrem Rang und ihrem Amt als Bre-hon bei Gericht. »Ausgezeichnet. Vielleicht können wir sogleich unsere Reise antreten. Wir haben noch mehrere Stunden Tageslicht.« »Wäre es nicht besser, bis morgen früh zu warten?« meinte Abt Cathal. »Vor Einbruch der Nacht kommt ihr nicht mehr bis Araglin.« »Irgendwo am Wege wird es schon eine Herberge geben«, antwortete Fidelma mit sicherer Überzeugung. »Wenn zu befürchten ist, daß Ebers Leute vorschnell etwas gegen den Beschuldigten unternehmen, ohne sich an das Gesetz zu halten, dann sollte ich mich so schnell wie möglich nach Araglin begeben.« Cathal stimmte zögernd zu. »Wie du meinst, Fidelma. Doch in den Bergen ist es nicht gut, ohne Obdach von der Nacht überrascht zu werden.« Dem Abt war aber wohl bewußt, daß er nicht mit einer einfachen Nonne sprach, sondern mit der Schwester seines Königs. Was sie beschloß, das konnte er mit seiner Machtbefugnis nicht ändern. »Ich werde einen Bruder anweisen, euch mit Essen und Trinken für die Reise zu versorgen und eure Pferde tränken und satteln zu lassen.« Abt Cathal erhob sich und verließ das Zimmer. Als sich die Tür hinter ihm schloß, verwandelte sich Fidelmas ernstes Gesicht völlig. Sie wandte sich um und ergriff die Hände des angelsächsischen Mönchs. Überschäumende Freude funkelte in ihren grünblauen Augen. Diese natürliche Fröhlichkeit in ihrem frischen, hübschen Gesicht hätte selbst den düstersten Einsiedler verwundert fragen lassen, weshalb eine so attraktive junge Frau sich für das Klosterleben entschieden hatte. Ihre hohe, wohlgebildete Gestalt schien eher nach einer aktiven und freudigen Rolle im Leben zu verlangen als nach dem eng umgrenzten Bezirk einer religiösen Gemeinschaft. »Eadulf! Ich hatte doch gehört, du wärst auf dem Rückweg in das Land der Angelsachsen?« Eadulfs Miene hatte sich zu einem verlegenen Lächeln verzogen angesichts ihrer Begeisterung, ihn wiederzusehen. »Vorläufig noch nicht. Als ich hörte, daß Beccan sich auf die Suche nach dir machte, um dich mit diesem Auftrag nach Araglin zu schicken, sagte ich zu deinem Bruder, ich würde gern etwas mehr von diesem Land sehen und seine Rechtspflege beobachten. Das liefert mir einen Vorwand, noch etwas länger hier zu bleiben.« »Es ist schön, daß du gekommen bist. Ehrlich gesagt, ich hab mich hier in Lios Mhor ziemlich gelangweilt. Es wird mir guttun, in die Berge zu gehen, in ihre klare Luft, und jemanden zu haben, mit dem ich über dies und jenes reden kann ...« Eadulf lachte. Es war ein angenehmes, freundliches Lachen. »Ich weiß schon, was für eine Art von Reden du meinst«, antwortete er spitz. Nun war es an ihr, zu lachen. Ihr hatten die Diskussionen gefehlt, die sie mit Eadulf führte. Sie hatte es vermißt, daß sie ihn mit ihren gegensätzlichen Meinungen und Philosophien necken konnte und er gutmütig jeden Köder schluckte, den sie ihm hinhielt. Sie stritten sich heftig, aber es gab keine Feindschaft zwischen ihnen. Beide lernten daraus, daß sie gegenseitig ihre Interpretationen der Moralgrundsätze der Gründerväter ihres Glaubens prüften und leidenschaftlich ihre Vorstellungen vom Leben vertraten. Eadulf wurde plötzlich ernst, als er ihr in das freudige Gesicht blickte. »Mir haben unsere Gespräche auch gefehlt«, sagte er leise. Sie schauten einander schweigend an, und dann ging plötzlich die Tür auf, und Abt Cathal kam herein. Verlegen traten sie auseinander. »Alles klar. Die Verpflegung wird bereitgestellt. Ihr habt übrigens Glück. Wie ich höre, ist ein Bauer aus Araglin hier und will sich gerade auf den Rückweg machen. Er kann euch als Führer dienen.« Fidelma sah ihn zögernd an. »Ein Bauer? Ist er jung oder älter?« erkundigte sie sich vorsichtig. Abt Cathal starrte sie einen Moment verdutzt an und zuckte dann die Achseln. »Er ist jung, und er hat ein junges Mädchen bei sich. Spielt das eine Rolle?« »In diesem Falle nicht.« Fidelma wiegte den Kopf in stiller Belustigung. »Wäre der Bauer älter gewesen, dann hätte es allerdings eine Rolle gespielt. Weißt du«, erklärte sie dem sichtlich verwirrten Abt, »ich habe gerade ein Urteil gegen einen Bauern im mittleren Alter gefällt, einen gewissen Muadnat. Dem wäre meine Gesellschaft bestimmt nicht recht gewesen.« Abt Cathal schien es immer noch nicht ganz zu begreifen. »Aber jeder muß doch ein Gerichtsurteil akzeptieren.« Er konnte sich anscheinend nicht vorstellen, daß ein Urteil nach dem Gesetz Zorn auslösen könne. »Nicht jeder nimmt so etwas mit guter Miene auf, lieber Abt«, erwiderte Fidelma. »Aber ich glaube, nun wird es Zeit, daß Bruder Eadulf und ich uns auf den Weg machen.« Abt Cathal ließ sie sichtlich ungern ziehen. »Vielleicht sehen wir uns heute zum letzten Mal, Fidelma, sicher aber für einige Zeit.« »Wie das?« fragte sie interessiert. »In der nächsten Woche breche ich zu einer Pilgerfahrt ins Heilige Land auf. Das war mein Ziel schon seit vielen Jahren. Bruder Nemon wird hier meine Stelle als Abt einnehmen.« »Ins Heilige Land?« fragte Fidelma, aus ihrer Stimme klang Sehnsucht. »Dorthin möchte ich eines Tages auch einmal. Ich wünsche dir viel Freude auf deiner Fahrt, Cathal von Lios Mhor. Möge Gott auf allen deinen Wegen bei dir sein.« Sie streckte dem Abt die Hand entgegen, der sie fest ergriff und drückte. »Und möge Er dich bei deinen Urteilen erleuchten, Fidelma von Kildare«, antwortete der Abt feierlich. Er lächelte sie beide nacheinander an und hob leicht die Hand zum Segen. »Bis zum Ende des Weges: Frieden und Sicherheit.« Kapitel 3 Im gepflasterten Hof der Abtei fanden sie den jungen Bauern Archü mit dem Mädchen, das in der Kapelle bei ihm gewesen war. Sie saßen im Schatten eines Kreuzgangs und warteten ungeduldig. In der Nähe standen zwei bereits gesattelte Pferde. Archü erhob sich und kam Schwester Fidelma entgegen. Er erinnerte sie immer noch an einen eifrigen jungen Hund, der seinem Herrn jeden Wunsch erfüllen möchte. »Ich habe gehört, du brauchst einen Führer ins Land Araglin, Schwester. Ich freue mich, daß ich dir meine Dienste anbieten kann, denn du hast mir mein Land und meine Ehre zurückgegeben.« Fidelma schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Lächeln. »Ich sagte dir bereits, daß das Gesetz allein in dieser Angelegenheit entschieden hat. Du schuldest mir nichts.« Sie wandte sich um, als das Mädchen nun mit niedergeschlagenem Blick näher trat. Es war hübsch, schlank und blond, und Fidelma schätzte es auf nicht älter als sechzehn Jahre. Archü stellte es mit verlegener Miene vor. »Das ist Scoth. Da ich nun mein Land wiederhabe, wollen wir heiraten. Ich werde unseren Priester, Pater Gorman, bitten, uns zu trauen, sobald wir nach Hause kommen.« Das junge Mädchen errötete vor Glück. »Auch wenn das Urteil gegen dich ausgefallen wäre, hätte ich dich geheiratet«, tadelte sie ihn sanft. Sie wandte sich an Fidelma. »Deshalb bin ich Archü hierher gefolgt. Es hätte mir nichts ausgemacht, wie dein Urteil gelautet hätte, wirklich nicht.« Fidelma sah das junge Mädchen ernst an. »Aber es ist schon besser, Scoth, daß das Urteil günstig ausfiel. Jetzt wirst du einen ocdire heiraten und nicht einen landlosen Mann.« Danach machte Fidelma sie mit Bruder Eadulf bekannt. Einer der Brüder hatte inzwischen ihre Satteltaschen mit Speisen und Getränken für die Reise gepackt und führte nun ihre beiden Pferde am Zügel herbei. Sie sah, daß Archü und Scoth jeder ein Bündel und einen Schwarzdornstecken trugen. Es standen keine anderen Pferde im Klosterhof, und ihr wurde klar, daß die beiden keine Reittiere besaßen, nicht einmal Esel. Archü bemerkte ihr Stirnrunzeln und erriet, was ihr durch den Kopf ging. »Wir haben keine Pferde, Schwester. Auf dem Hof in Araglin gibt es zwar Pferde, aber ich durfte natürlich keins für die Reise hierher benutzen. Mein Vetter Muadnat«, er zögerte und sprach den Namen mit Bitterkeit aus, »ist schon abgereist mit seinem Oberhirten Agdae. Also müssen wir zurückkehren, wie wir gekommen sind: zu Fuß.« »Das spielt keine Rolle«, erklärte Fidelma fröhlich. »Unsere Pferde sind kräftig, und euer Gewicht macht ihnen nicht viel aus. Scoth kann sich hinter mich setzen, und du, Archü, steigst hinter Bruder Eadulf auf.« Der Nachmittag war schon fortgeschritten, als sie die großen Holztore des Klosters passierten und im Schritt den Pfad an dem breiten Fluß entlangritten. Dicht nördlich davon erhoben sich die Berge. Archü wies von seinem Sitz hinter Eadulf aus hinüber. »Da oben in den Bergen liegt Araglin«, rief er eifrig. »Heute nacht müssen wir dort irgendwo rasten, aber vor morgen Mittag seid ihr in Araglin.« »Wo wolltet ihr die Nacht verbringen?« fragte Fidelma, als sie ihr Pferd über die schmale Holzbrücke lenkte, die den großen Fluß in Richtung auf die hohen Gipfel im Norden überspannte. »Nach ungefähr einer Meile biegen wir von der nördlichen Straße nach Cashel ab und beginnen den Aufstieg durch das Bergland nach Araglin, auf dem Westufer eines kleinen Flusses, der in den Bergen entspringt«, antwortete Archü. »Das Land ist stark bewaldet. An dem Weg gibt es ein Gasthaus, falls ihr dort übernachten wollt. Wir werden es kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.« »Dann wird die Reise morgen leicht«, ergänzte Scoth in Fidelmas Rücken. »Es sind dann nur noch ein paar Stunden zu reiten durch den oberen Teil der großen Schlucht und hinunter ins Tal von Araglin, und von dort gelangt ihr geradewegs zum rath des Fürsten von Araglin.« Bruder Eadulf wandte leicht den Kopf. »Wißt ihr, weshalb wir dorthin wollen?« Archü brachte auf seinem Sitz hinter dem Mönch ein Achselzucken zustande. »Der Pater Abt hat uns die Neuigkeiten aus Araglin mitgeteilt«, antwortete er. »Kanntest du Eber?« fragte Fidelma. Den jungen Mann schien es nicht sonderlich aufzuregen, daß sein Fürst ermordet worden war. Sein Mangel an Anteilnahme interessierte sie. »Ich habe von ihm gehört«, gab Archü zu. »Meine Mutter war sogar mit ihm verwandt. Aber die meisten Leute in Araglin sind irgendwie miteinander verwandt. Der Hof meiner Mutter stand in einem einsamen Tal, das das Schwarze Moor genannt wird und mehrere Meilen vom rath des Fürsten entfernt liegt. Wir hatten wenig Grund, ihn aufzusuchen. Eber besuchte auch meine Mutter nicht. Ihre Heirat mit meinem Vater fand nicht die Zustimmung ihrer Familie. Pater Gorman kam hin und wieder zu uns, doch Eber nie.« »Und du, Scoth? Kanntest du Eber?« »Ich bin eine Waise und als Dienerin auf Muadnats Hof aufgewachsen. Ich durfte nie den rath des Fürsten aufsuchen, aber ich sah Eber ein paarmal, wenn er zum Jagen oder Feiern zu Muadnat kam. Und vor ein paar Jahren erschien er einmal auf Muadnats Bauernhof, um den Clan zum Kampf gegen die Ui Fidgente aufzurufen. Ich erinnere mich, daß er von ähnlicher Statur war wie Muadnat. Ich habe ihn auch betrunken und beleidigend erlebt.« »Mein Vater Artgal folgte dem Aufruf und zog in den Krieg gegen die Ui Fidgente und kam nicht wieder«, fügte Archü zornig hinzu. »Also könnt ihr mir wenig über Eber sagen?« »Was möchtest du denn wissen?« fragte Archü interessiert. »Ich würde gern wissen, was für ein Mensch er war. Du sagst, du hast ihn betrunken und beleidigend erlebt. Aber war er dabei auch ein tüchtiger Fürst für sein Volk?« »Die meisten Leute sprachen gut von ihm«, meinte Archü. »Ich glaube, er war beliebt, doch als ich Pater Gorman um Rat fragte wegen meines gesetzlichen Anspruchs gegen Muadnat, da riet er mir, den Anspruch lieber in Lios Mhor vorzubringen als mich direkt an Eber zu wenden.« Fidelma fand das einen eigenartigen Rat von einem Priester. Schließlich war der erste Schritt auf jedem Rechtsweg ein Appell an den Stammesfürsten. Selbst der Häuptling eines kleinen Clans hatte das Recht, ein erstes Urteil zu fällen. Ihr fiel ein, daß Beccan erwähnt hatte, in Araglin gebe es keinen Brehon, der das Gesetz auslegen könne, also war Pater Gormans Rat vielleicht doch wohlüberlegt und sagte nichts Nachteiliges über Eber aus. »Gab Pater Gorman einen Grund dafür an, daß du dich direkt nach Lios Mhor wenden solltest?« fragte sie. »Nein.« »Ist es nicht seltsam, daß zwei Menschen in einem Stammesgebiet aufwachsen und den Fürsten des Stammes kaum zu Gesicht bekommen?« erkundigte sich Eadulf. Archü lachte besänftigend. »Araglin ist kein so kleines Gebiet. In den Bergen kann man sich leicht verirren. Man kann tatsächlich dort sein ganzes Leben verbringen und niemals dem Nachbarn auf der anderen Seite des Berges begegnen. Mein Hof«, der junge Mann hielt inne und genoß den Satz, »mein Hof liegt, wie ich schon sagte, in einem einsamen Tal, und darin gibt es nur noch einen anderen Hof, den Muadnats.« Scoth seufzte tief. »Hoffentlich wird unser Leben jetzt anders. Ich kannte kaum etwas von dem Land außerhalb von Mu-adnats Küche.« »Warum bist du dann nicht von Muadnat weggelaufen?« fragte Fidelma. »Das habe ich getan, sobald ich das entsprechende Alter erreicht hatte. Aber wo sollte ich hin? Ich wurde sehr bald auf seinen Hof zurückgebracht.« Fidelma zog erstaunt die Brauen hoch. »Wurdest du gewaltsam zurückgebracht? Mit welchem Recht konnte Muadnat dich gewaltsam zurückholen? Du gehörtest doch nicht zu den Unfreien?« »Unfreie?« unterbrach sie Eadulf. »Sklaven, meinst du? Ich dachte nicht, daß es in den fünf Königreichen Sklaven gäbe.« »Die gibt es auch nicht«, antwortete Fidelma sofort. »Unfreie sind Personen, die innerhalb des Stammes keine Rechte besitzen.« »Was sind sie dann sonst als Sklaven?« »Sie sind keine Sklaven. Zu den Unfreien zählen wir Kriegsgefangene, Geiseln und Feiglinge, die ihren Stamm in der Not im Stich gelassen haben. Zu ihnen gehören auch Gesetzesbrecher, die die ihnen auferlegten Schadensersatzzahlungen oder Geldstrafen nicht aufbringen konnten oder wollten. Sie verlieren ihre Bürgerrechte, werden aber nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie werden so gehalten, daß sie zum Wohlergehen des Stammes beitragen. Natürlich dürfen sie keine Waffen tragen oder in ein Amt gewählt werden.« Eadulf verzog das Gesicht. »Das klingt mir aber ganz nach Sklaverei.« Fidelma ließ ihre Verärgerung merken. »Die >Unfreien< werden in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe kann Land pachten und es bearbeiten und Steuern zahlen, während die anderen dazu zu unzuverlässig sind oder ständig gegen das Gesetz rebellieren. Jeder von ihnen kann sich aus seiner Lage befreien, indem er arbeitet, bis die Strafen abgegolten sind.« »Und wenn sie das nicht tun?« erkundigte sich Ea-dulf. »Dann bleiben sie Unfreie, ohne Bürgerrechte, bis sie sterben.« »Und ihre Kinder werden dann Sklaven?« »Sie sind keine Sklaven!« verbesserte ihn Fidelma wieder. »Und das Gesetz lautet: Mit jedem Menschen sterben auch seine Verbindlichkeiten. Ihre Kinder werden wieder vollberechtigte Bürger.« Sie bemerkte das belustigte Lächeln, das Eadulfs Mund umspielte, und fragte sich, ob er jetzt ihre Taktik anwandte, sie durch Widerspruchsgeist zu provozieren. Mit dieser List hatte sie früher Eadulf oft zu Diskussionen verleitet. Sollte er sich endlich einen feineren Humor angeeignet haben? Sie wollte etwas dazu sagen, als ihr Scoth zuvorkam. »Ich gehöre nicht zu den >Unfreien<«, entgegnete sie heftig. »Muadnat war mein Vormund und bestimmte über mich, bis ich das Alter der Wahl erreicht hatte. Danach konnte er mich nicht mehr auf seinem Hof halten, aber ich wußte nicht, wohin. Ich ging fort, fand aber nirgends Arbeit, und deshalb mußte ich zurückkehren.« »Jetzt wird alles anders«, betonte Archü. »Nun, ich rate euch, nehmt euch vor Muadnat in acht«, meinte Fidelma. »Ich habe den Eindruck, er ist nachtragend.« »Das weiß ich sehr gut«, stimmte ihr Archü zu. »Ich werde auf der Hut sein, Schwester.« Der Weg, den sie entlangritten, stieg nun steiler zu den Bergen an, weg von dem behäbigen Fluß und hin zu den mächtigen runden kahlen Gipfeln, die sich aus den sie umgebenden Wäldern erhoben. Das Vorland der Berge war dicht bewaldet, doch dieser Weg wurde schon seit Jahrhunderten benutzt, so daß die Bäume an beiden Seiten zurücktraten und so viel Raum ließen, daß bei trockenem Wetter sogar ein großer Wagen ihn befahren konnte. Es ging kein Wind, und die Stille wurde nur vom Schnauben der Pferde unterbrochen. Ab und zu hörte man das aufgeregte Kläffen wilder Hunde oder das drohende Heulen eines Wolfs, die gegen das Eindringen Fremder in ihr Gebiet protestierten. Die Sonne versank schon hinter den Gipfeln im Westen, und lange Schatten breiteten sich schnell aus. Mit Sonnenuntergang wurde es kalt. Fidelma fiel ein, daß am nächsten Tag das Fest zur Erinnerung an den heiligen Conlaed gefeiert würde, eines Metallkünstlers aus Kildare, der die liturgischen Gefäße für das Kloster der heiligen Brigitta gefertigt hatte. Sie mußte daran denken und eine Kerze in seinem Namen anzünden. Das erinnerte sie daran, daß sie sich schon in dem Monat befanden, der als erster Monat der Sommerzeit galt, die mit der Feier des Lughnasa endete, einem der volkstümlichen heidnischen Feste, die der neue Glaube noch nicht hatte abschaffen können. Die Pferde schritten langsam und bedächtig aufwärts, und Eadulf warf besorgte Blicke auf das letzte Sonnenlicht im Westen hinter ihnen. »Es wird bald dunkel werden«, stellte er überflüssigerweise fest. »Es ist nicht mehr weit«, beruhigte ihn Archü. »Siehst du die Biegung des Weges nach rechts? Dort verlassen wir den Hauptweg und schlagen den schmalen Pfad ein, der nach oben in die Berge führt, an dem Bach entlang, der dort diesen Weg kreuzt.« Schweigend bogen sie in den dunklen Eichenwald ein, wo die Pferde nur hintereinander auf dem offensichtlich selten benutzten Pfad gehen konnten. Sie trotteten durch die enge Gasse zwischen stämmigen Eichen und hohen Eiben. Eine weitere Stunde verging. Die Dämmerung fiel rasch ein. »Bist du sicher, daß wir auf dem richtigen Weg sind?« fragte Eadulf nicht zum ersten Mal. »Ich sehe nichts von einem Gasthaus.« Geduldig wies der junge Archü nach vorn. »Du siehst es, wenn wir die nächste Wegbiegung erreichen«, versprach er dem angelsächsischen Mönch. Die Dämmerung ging schon fast in Dunkelheit über, und sie konnten die Biegung des Weges zwischen den Bäumen gerade noch erkennen. Der Himmel war wolkenlos, wurde aber von den Bäumen beinahe verdeckt. Nur wenige helle Sterne durchdrangen das Geflecht der Zweige. Unter ihnen erkannte Fidelma den hell glitzernden Abendstern, der den Himmel beherrschte. Sie waren diesem Bergpfad eine volle Stunde gefolgt und hatten sich vorsichtig ihren Weg durch die düsteren Bäume gesucht, die sie auf jeder Seite bedrängten. Sie waren niemandem begegnet, seit sie den Hauptweg verlassen hatten. Selbst Fidelma fragte sich, ob es nicht unklug wäre, noch weiter zu reiten. Vielleicht wäre es besser, anzuhalten, ein Feuer anzuzünden und sich für die Nacht einzurichten. Sie wollte gerade diesen Vorschlag machen, als sie zu einer Wegbiegung kamen. Hier verbreiterte sich der Pfad plötzlich. Sie sah das Licht sofort. »Dort ist es«, verkündete Archü mit Befriedigung. »Genau wie ich gesagt habe.« Nicht weit vor ihnen flackerte neben dem Weg eine Laterne an der Spitze eines hohen Pfahls und beleuchtete ein kleines Stück faitche oder Rasen vor einem Steingebäude. Fidelma wußte, daß nach dem Gesetz jedes Gasthaus oder jede Herberge, bruden wurden sie genannt, sich durch eine die ganze Nacht brennende Laterne kenntlich machen mußte. Sie zügelten die Pferde. Fidelma entzifferte die in das Holzbrett unter der Laterne in lateinischen Buchstaben eingeritzte Inschrift: Bruden na Realtai, die Herberge der Sterne. Fidelma sah zum Himmel auf, der nun nicht mehr vom Dach der Zweige verdeckt wurde, und erblickte die Myriaden funkelnder silberner Lichter. Die Herberge führte einen zutreffenden Namen. Sie hatten kaum angehalten, als ein älterer Mann die Tür der Herberge aufriß und zur Begrüßung auf sie zueilte. »Seid willkommen, Reisende«, rief er mit ziemlich hoher Stimme. »Geht hinein, ich kümmere mich um eure Pferde. Geht rein, denn die Nacht ist kalt.« Die Herberge schien leer. Ein helles Holzfeuer loderte im Kamin an der einen Wand. In einem großen Kessel über der Flamme brodelte es, und ein aromatischer Duft erfüllte den ganzen Raum. Es war warm und gemütlich. Laternen brannten, und ihr Licht spiegelte sich in der polierten Eichen- und Rottannentäfelung. Fidelmas Blick blieb an einem Tisch an der Seite des Zimmers hängen, auf dem verschiedene Gesteinsbrocken lagen. Stirnrunzelnd beugte sie sich vor und betrachtete sie aus der Nähe, dann nahm sie ein Stück in die Hand, es war ziemlich schwer. Die Steine waren poliert und anscheinend wie Schmuckstücke angeordnet, um dem Raum Atmosphäre zu verleihen. Sie schüttelte leicht den Kopf und ging zu einem großen Tisch nahe dem Feuer, setzte sich aber nicht. Nach Stunden im Sattel war es eine Erleichterung, eine Weile stehen zu können. Archü trat zu ihr. »Es tut mir leid, Schwester. Ich hätte es schon vorher sagen sollen, weder Scoth noch ich haben das Geld für den Wirt. Wir gehen hinaus und übernachten draußen. Das hatten wir ohnehin vor. Die Nacht ist trocken und auch nicht so kalt, wie der Wirt sagt«, fügte er hinzu. Fidelma schüttelte den Kopf. »Wo du doch nun ein ocäire bist!« tadelte sie ihn sanft. »Du bist reich genug, nachdem du deinen Anspruch beim Gericht durchgesetzt hast. Es wäre kleinlich von mir, wenn ich dir nicht das Geld für Essen und Unterkunft vorschießen würde.« »Aber ...«, protestierte Archü. »Kein Wort mehr«, unterbrach ihn Fidelma fest. »Ein Bett ist bequemer als der feuchte Erdboden, und diese köchelnde Brühe dort verbreitet einen wundervoll einladenden Duft.« Sie blickte sich neugierig in dem leeren Gastraum um. »Anscheinend sind wir heute abend die einzigen Reisenden auf diesem Weg«, bemerkte Eadulf, der sich in einem Holzsessel nahe dem Feuer räkelte. »Der Weg wird nicht häufig begangen«, erklärte Archü. »Es ist der einzige Weg, der in das Land Ara-glin führt.« Fidelma war sofort interessiert. »Wenn das so ist und diese Herberge die einzige an diesem Weg, dann ist es doch seltsam, daß wir deinen Vetter Muadnat hier nicht antreffen.« »Na, Gott sei Dank dafür«, murmelte Scoth und setzte sich an den Tisch. »Jedenfalls haben er und sein Begleiter .« »Das war Agdae, sein Rinderhirt und Neffe«, ergänzte Scoth. »Haben er und Agdae«, fuhr Fidelma fort, »Lios Mhor vor uns verlassen, und sie haben doch sicher diesen Weg eingeschlagen, wenn es der einzige nach Araglin ist.« »Warum machen wir uns Gedanken über Muad-nat?« gähnte Eadulf und schaute sehnsüchtig nach der Brühe. »Ich mag keine ungelösten Fragen«, erklärte Fidelma verärgert. Die Tür ging auf, und der Wirt trat ein. Im Licht des Zimmers sah man, daß er ein volles, freundliches Gesicht und graues Haar hatte. Sein angenehmes Wesen paßte gut zu seinem Beruf. Er schaute die Gäste lächelnd an. »Seid nochmals willkommen. Ich habe eure Pferde in den Stall gebracht und versorgt. Ich heiße Bressal und stehe euch ganz zur Verfügung. Mein Haus gehört euch.« »Wir brauchen Betten für die Nacht«, verkündete Fidelma. »Gewiß, Schwester.« »Wir brauchen auch Essen«, fügte Eadulf rasch hinzu und blickte wieder verlangend zum Kessel hinüber. »Natürlich, und dazu sicherlich guten Met, um euren Durst zu löschen«, stimmte der Gastwirt eifrig zu. »Mein Met gilt als der beste in diesen Bergen.« »Ausgezeichnet«, meinte Eadulf. »Du kannst schon auftun .« »Wir essen, nachdem wir uns vom Staub der Reise befreit haben«, unterbrach ihn Fidelma. Eadulf kannte die irische Gewohnheit, jeden Abend vor der Hauptmahlzeit zu baden. An diese Sitte hatte er sich nie ganz gewöhnt, denn in seinem eigenen Volk war es nicht üblich, jeden Tag ein Bad zu nehmen. Hier jedoch galt es als Mangel an gesellschaftlichem Schliff, nicht vor der Abendmahlzeit zu baden. »Ihr bekommt eure Bäder«, versicherte Bressal, »aber es wird etwas dauern, denn ich habe nur meine eigenen zwei Hände zur Verfügung.« »Mir macht es nichts aus, kalt zu baden«, erwiderte Eadulf rasch. »Ich bin sicher, Archü braucht auch kein warmes Bad.« Der junge Mann zögerte und zuckte dann die Achseln. Fidelma verzog unwillig das Gesicht. Sie schwor auf das korrekte Reinigungsritual. »Scoth und ich werden Bressal helfen, das Wasser für unsere Bäder heiß zu machen«, erbot sie sich. »Ihr könnt derweil tun, was ihr wollt«, fügte sie mit einem tadelnden Blick auf Eadulf hinzu. Bressal breitete entschuldigend die Arme aus. »Ich bedaure die Unbequemlichkeit, Schwester. Kommt, ich zeige euch den Weg zum Badehaus. Für dich, Bruder, gibt es einen Bach neben der Herberge. Ihr könnt euch eine Lampe mitnehmen, wenn ihr dort baden wollt.« Archü ergriff eine Lampe, obwohl er wenig begeistert aussah, nachdem er gehört hatte, wo er baden sollte. Eadulf schlug ihm auf die Schulter. »Komm, kleiner Bruder«, redete er ihm zu. »Ein kaltes Bad hat noch niemandem geschadet.« Mehr als eine Stunde später setzten sie sich schließlich zum Essen nieder. In der Brühe waren Lauch und verschiedene Gewürze. Außerdem gab es Forellen, im Bach nebenan gefangen, und frischgebackenes Brot und Honigmet. Bressal war kein Anfänger in der Kochkunst. Während er servierte, erzählte er ihnen allerlei Neuigkeiten aus der Gegend. Doch es war klar, daß er hier ganz allein lebte und bestimmt noch nichts von der Ermordung des Fürsten von Araglin gehört hatte. Davon berichtete ihm nun Archü, der seine neue Stellung als ein angesehener Mann in Araglin zur Geltung bringen wollte. »Sind wir heute nacht die einzigen Reisenden auf diesem Weg?« fragte Fidelma in einer Gesprächspause. »Ihr seid die einzigen Reisenden, die in dieser Woche hier übernachten«, antwortete Bressal. »Nicht viele benutzen diesen Weg nach Araglin.« »Dann gibt es sicher noch andere Wege?« »Es gibt noch einen anderen. Er kommt vom Osten des Tals, und man kann auf ihm den Süden, Lios Mhor, Ard Mor und Dün Garbhain erreichen. Auf diesem Weg hier gelangt man zu der großen Straße, die nördlich nach Cashel und südlich nach Lios Mhor führt. Warum fragst du, Schwester?« Eine leichte Neugier lag im Blick des Herbergswirts. »Mir wurde gesagt, dies sei der einzige Weg nach Lios Mhor«, wandte Archü ein. »Wer hat das gesagt?« wollte der Wirt wissen. »Pater Gorman von Araglin.« »Nun, auf dem östlichen Weg kommt man schneller nach Lios Mhor«, erwiderte Bressal. »Er sollte es besser wissen.« Fidelma beschloß, das Thema zu wechseln, und deutete auf die Gesteinssammlung auf dem Seitentisch. »Du hast hier eine eigenartige Kollektion von Schmuckstücken, mein Freund.« Bressal wehrte ab: »Gehört mir nicht. Ich hab sie nicht gesammelt. Mein Bruder Morna arbeitet in den Bergwerken westlich von hier in der Ebene der Minerale. Er hat diese Stücke bei seiner Arbeit zusammengetragen. Ich hebe sie ihm nur auf.« Fidelma schien sich sehr für die Steine zu interessieren. Sie nahm sie in die Hand und drehte sie hin und her. »Sie sehen faszinierend aus.« »Morna sammelt sie schon seit Jahren. Erst vor ein paar Tagen kam er ganz aufgeregt hier an und sagte, er habe etwas entdeckt, was ihn reich machen werde. Er hatte ein Stück Stein bei sich. Wieso ein Stein ihn reich machen sollte, weiß ich nicht. Er blieb eine Nacht hier und ging am nächsten Tag wieder fort.« »Welches Stück Stein hat er denn mitgebracht?« fragte Fidelma gespannt und musterte die Sammlung. Bressal kratzte sich den Hinterkopf. »Ich muß gestehen, da bin ich nicht sicher.« Er ergriff einen Stein und reichte ihn Fidelma. »Diesen hier vielleicht.« Fidelma nahm ihn und wendete ihn hin und her. Ihrem ungeübten Auge erschien er wie ein einfaches Stück Granit. Sie reichte ihn dem Wirt zurück, und der legte ihn wieder auf den Tisch. »Braucht ihr noch etwas, bevor ihr euch zur Ruhe legt«, fragte er in die Runde. Archü und Scoth wollten sich gleich zurückziehen, während Eadulf um einen weiteren Becher Met bat und verkündete, er werde noch eine Weile am Feuer sitzenbleiben. Fidelma unterhielt sich mit Bressal, denn Wirte können immer viel erzählen. Sie lenkte das Gespräch auf Eber. Bressal hatte Eber nur ein halbdutzendmal gesehen, wenn er sein Gebiet auf dem Weg nach Cashel verließ. Er konnte sich deshalb nur schwer ein Urteil über ihn bilden, meinte aber, er habe unterschiedliche Meinungen über ihn gehört. Manche hielten ihn für einen Tyrannen, während andere seine Freundlichkeit und Großzügigkeit priesen. Es war noch ziemlich früh, als Fidelma ankündigte, sie werde zu Bett gehen. Bressal hatte ihr eine Ecke des Schlafraums reserviert, der das ganze obere Stockwerk einnahm. Sie wurde durch einen Vorhang abgeteilt, denn in diesen kleinen Herbergen gab es keine Einzelzimmer für die Gäste. Das Bett bestand nur aus einer Strohmatratze auf dem Boden und einer rauhen Wolldecke. Es war sauber, warm und gemütlich, und mehr brauchte sie nicht. Ihr schien, als habe sie gerade erst ihr Haupt auf das Stroh gebettet, als sie aufgeschreckt wurde. Eine warme Hand hatte ihren Arm ergriffen und drückte ihn sanft. Sie blinzelte und wollte sich wehren, doch eine Stimme flüsterte: »Still. Ich bin’s.« Es war Eadulfs Stimme. Sie lag einen Moment ruhig da. »Es stehen ein paar bewaffnete Männer vor der Herberge«, fuhr Eadulf so leise fort, daß sie ihn kaum verstehen konnte. Fidelma sah, daß ein seltsames graues Licht durch das Fenster drang, und obwohl sie durch die unverhüllte Öffnung noch ein oder zwei winzige Sterne erblicken konnte, begriff sie, daß die Morgendämmerung nicht mehr fern war. »Was beunruhigt dich an diesen Bewaffneten?« fragte sie Eadulf ebenso leise. »Der Hufschlag weckte mich vor fünfzehn Minuten«, erklärte ihr Eadulf leise. »Ich sah hinaus und erkannte die Schatten von einem halben Dutzend Reitern. Sie ritten wortlos heran, kamen aber nicht ins Haus. Sie versteckten ihre Pferde im Wald da drüben und postierten sich zwischen den Bäumen vor der Tür der Herberge.« Fidelma richtete sich rasch auf. Jetzt war sie hellwach. »Geächtete?« »Vielleicht. Mir scheint, sie haben nichts Gutes im Sinn, denn sie alle führen Bogen.« »Hast du Bressal geweckt?« »Ihn als ersten. Er ist unten und versperrt die Türen für den Fall, daß wir angegriffen werden.« »Ist er schon einmal angegriffen worden?« »Noch nie. Manchmal werden die reicheren Herbergen an der Hauptstraße zwischen Lios Mhor und Cashel von Trupps Geächteter überfallen und beraubt. Doch warum sollte sich jemand diese einsame Herberge als Ziel für einen Überfall aussuchen?« »Sind die jungen Leute wach?« »Die jungen Leute? Ach, du meinst Archü und Scoth. Noch nicht. Ich kam erst ...« Ein eigenartiges pfeifendes Geräusch drang von außen herein, und Fidelma spürte einen leichten Feuergeruch. Das zweite Pfeifen war kaum zu hören: ein Pfeil sauste durch das Fenster und blieb in der Wand stecken. Er war mit Stroh umwunden, das man angezündet hatte. Jetzt hörte man, wie draußen ein Mann Befehle erteilte. Fidelma sprang von ihrem Bett auf. »Wecke die anderen. Wir werden angegriffen.« Der letzte Satz war überflüssig, denn ein weiterer Brandpfeil zischte ins Zimmer und grub sich in den Fußboden ein. Sie lief hinzu und packte ihn ohne Rücksicht auf die hungrigen Flammen. Mit kurzer Drehung schleuderte sie ihn aus dem Fenster und schickte den ersten Pfeil gleich hinterher. Rasch zog sie sich das Gewand über den Kopf und riß fast mit derselben Bewegung die Vorhänge herunter, damit nicht ein Pfeil sie in Brand setzte. Archü war von Eadulf geweckt worden und lief herbei, um ihr zu helfen. »Bleib hier«, wies Fidelma ihn an. »Duck dich, und wenn Brandpfeile im Zimmer landen, tritt sie aus.« Ohne seine Antwort abzuwarten, eilte sie die Treppe hinunter in den Hauptraum. Bressal, der Wirt, war damit beschäftigt, einen Bogen zu spannen. Offensichtlich hatte er keine Übung darin, denn er stellte sich ungeschickt an. Er blickte auf, sein sonst so fröhliches Gesicht lag in Zornesfalten. »Geächtete!« brummte er. »Ich hab noch nie Geächtete in diesen Wäldern gesehen. Ich muß die Herberge verteidigen.« Eadulf kam die Treppe heruntergeprescht. »Du sagtest, du hast diese Leute gesehen«, empfing ihn Fidelma. »Auf wie viele schätzt du sie?« »Ungefähr ein halbes Dutzend«, antwortete Eadulf. Verzweifelt überlegte Fidelma, wie man die Herberge verteidigen könne. »Hast du noch andere Waffen, Bressal?« fragte Ea-dulf. »Wir haben nichts, womit wir uns wehren können.« Der Herbergswirt starrte ihn entgeistert an, weil ein Glaubensmann sich nach Waffen zur Verteidigung erkundigte. »Na los, Mann!« fuhr ihn Eadulf an. »Ich habe zwei Schwerter und diesen Bogen, das ist alles«, antwortete Bressal. Eadulf betrachtete nachdenklich den Bogen. Er sah gut aus, war aus Eibenholz gefertigt, stark und biegsam, soweit er das beurteilen konnte. »Wie gut kannst du damit umgehen?« »Nicht gut«, gestand Bressal. »Dann gib ihn mir. Nimm du ein Schwert.« Bressal war verwirrt. »Aber du bist doch ein Mönch .« Es war Fidelma, die mit dem Fuß aufstampfte und ihn zum Schweigen brachte. »Gib ihm den Bogen!« Eadulf riß ihm fast den Bogen aus der Hand und spannte ihn mit einer aus langer Übung geborenen Leichtigkeit. »Gib mir eins der Schwerter«, befahl Fidelma, während Eadulf die Bogensehne prüfte. Sie hatte keine Zeit, dem verdutzten Herbergswirt zu erklären, daß sie als Tochter Failbe Flanns, des Königs von Cashel, fast eher ein Schwert führen als lesen und schreiben gelernt hatte. Eadulf nahm die Handvoll Pfeile, die auf dem Tisch lagen. »Gibt es eine Hintertür?« fragte er. Bressal wies wortlos auf die Rückseite der Herberge. Eadulf und Fidelma wechselten rasche Blicke. »Ich schleiche mich hinten hinaus und versuche, diese Aasbande zu umgehen«, beantwortete er ihre stumme Frage. »Ich komme mit«, erwiderte Fidelma sofort. Eadulf verschwendete keine Zeit mit Diskussionen. Fidelma sah Bressal an. »Unsere jungen Begleiter sind oben und bemühen sich, die Brandpfeile zu löschen, die in den Raum kommen. Du bleibst hier, tust dasselbe, aber gib acht und verriegle die Tür hinter uns.« Bressal sagte nichts. Es ging alles zu schnell, als daß er widersprechen konnte. Eadulf mit dem Bogen und den Pfeilen und Fidelma mit dem Schwert, das ihr Bressal in die Hand gedrückt hatte, gingen zur Hintertür. Bressal entriegelte sie, blickte rasch hinaus und gab ihnen das Zeichen, daß alles frei war. Eadulf eilte über den Hof zu den Bäumen dahinter. Fidelma folgte sofort und dankte den Heiligen, daß die Angreifer, wer sie auch sein mochten, nicht soviel Verstand besaßen, die Herberge ganz zu umzingeln. In der Deckung des Waldes schlich sich Eadulf vorsichtig um das Haus zu dem Weg, der davor verlief. Sie sahen, daß noch weitere Pfeile auf die Vorderseite der Herberge abgeschossen worden waren, von denen einer oder zwei das Reetdach getroffen hatten. Bald würde das Gebäude in Flammen stehen, wenn der Angriff nicht schnell abgeschlagen wurde. Die Luft war kalt, doch die Sonne ging schon auf. Fidelma spähte durch die Bäume und sah schattenhafte Gestalten im Unterholz gegenüber. Sie stellte fest, daß es keine ausgebildeten Krieger waren, denn sie nutzten die Deckung schlecht und riefen einander zu, wodurch sie ihre Stellungen verrieten. Es war klar, daß sie von dem Herbergswirt und seinen Gästen keinen ernsthaften Widerstand erwarteten. Fidelma fand es seltsam, daß sie nicht einfach in die Herberge einbrachen und die Bewohner ausraubten, wenn das ihre Absicht war. Anscheinend wollten sie nur das Haus niederbrennen. Eadulf hatte einen Pfeil aufgelegt und wartete auf die nächste Bewegung. Fidelma kniff die Augen zusammen. Einer der Männer, die Brandpfeile auf die Herberge schossen, stand auf und zielte und bot dabei selbst ein deutliches Ziel im frühen Morgenlicht. Fidelma berührte leicht Eadulfs Arm und wies auf die Gestalt. Sie wollte niemanden töten, auch wenn der Mann offensichtlich die Herberge zu zerstören beabsichtigte, doch war es zu spät, Eadulf zu sagen, wie er den Bogen handhaben sollte. Eadulf hob den Bogen und zielte kurz, aber sorgfältig. Sie sah, wie der Pfeil dem Mann in die Schulter fuhr, die Schulter des Bogenarms. Besser hätte sie es auch nicht machen können. Der Angreifer schrie auf, ließ seinen Bogen fallen und faßte sich mit der anderen Hand an die blutende Schulter. Einen Moment war alles still. Dann ertönten heisere Rufe, was denn mit dem Mann los sei. Jemand lief durch die Bäume zu dem Verwundeten hin und machte dabei einen Lärm, für den sich jeder echte Krieger geschämt hätte. Eadulf hatte den zweiten Pfeil aufgelegt und warf Fidelma stumm einen fragenden Blick zu. Sie nickte. Ein zweiter Bogenschütze tauchte neben dem Verwundeten auf. Eadulf zielte und schoß. Wieder hatte er gut gezielt und den Bogenarm an der Schulter getroffen. Der zweite Mann schrie mehr vor Schreck als vor Schmerz auf und begann wütend zu fluchen. Eine dritte Stimme rief in Panik: »Wir werden angegriffen. Wir hauen ab. Los!« Es gab Geschrei, wildes Gewieher der Pferde, und dann drehten sich die beiden Verwundeten um und stolperten stöhnend und fluchend durch die Bäume davon. Eadulf legte den dritten Pfeil auf. Aus dem umgebenden Wald brach eine kleine Gruppe von Reitern hervor, die in halsbrecherischem Tempo auf den schmalen Pfad zuhielt. Fidelma sah, daß es, wie Eadulf gesagt hatte, nicht mehr als ein halbes Dutzend waren. Sie erkannte auch die beiden Verwundeten, die unsicher in den Sätteln hingen. Sie preschten den Weg entlang und kamen dicht an der Stelle vorbei, wo Fidelma und Eadulf ihre Stellung bezogen hatten. Eadulf wollte sich auf sie stürzen, doch Fidelma hielt ihn zurück. »Laß sie fort«, flüsterte sie. »Bisher haben wir Glück gehabt.« Sie sprach ein Dankgebet, denn ausgebildete Krieger hätten sich nicht so leicht vertreiben lassen. Sie musterte die Angreifer, während sie an ihnen vorbeiritten. Als letzter kam ein vierschrötiger Mann mit einem langen rötlichen Bart und einem häßlichen Gesicht, der sich tief über den Hals seines Pferdes beugte. Eadulf hatte seinen Bogen halb erhoben, senkte ihn aber achselzuckend, als er merkte, daß der Reiter kein genügendes Ziel bot. Die Reiter verschwanden rasch auf dem Pfad in die Wälder. Eadulf wandte sich verblüfft zu Fidelma um. »Warum haben wir sie laufenlassen?« fragte er. Fidelma lächelte gepreßt. »Wir hatten Glück. Wären es Krieger gewesen, wären wir nicht so billig davongekommen. Gott sei Dank war es nur ein Haufen von Feiglingen, aber wenn du einen Feigling in die Enge treibst, dann kämpft er wie ein ängstliches kleines Tier wild um seine Freiheit. Außerdem müssen wir uns um die Herberge kümmern. Sieh nur, das Dach brennt schon.« Sie wandte sich um, eilte zur Herberge und rief Bressal zu, die Angreifer seien geflohen und er solle herauskommen und helfen. Bressal holte eine Leiter, und sofort bildeten sie eine Eimerkette zum Reetdach. Es dauerte eine Weile, aber dann hatten sie das Feuer gelöscht: das Reet war feucht und rauchte nur noch. Bressal brachte ihnen zum Dank einen Krug Met und schenkte allen ein. »Ich habe euch dafür zu danken, daß ihr die Herberge vor diesen Banditen gerettet habt«, sagte und reichte die Becher herum. »Was waren das für Leute?« fragte der junge Archü. »Hast du welche von ihnen aus der Nähe gesehen, Schwester?« »Nur flüchtig«, gestand Fidelma. »Wenigstens zweien von ihnen wird eine Weile die Schulter weh tun«, fügte Eadulf grimmig hinzu. »Dies ist eine arme Gegend«, überlegte Archü verwundert. »Es ist seltsam, daß Banditen gerade diese Herberge ausrauben wollten.« »Ausrauben?« Fidelma zog leicht eine Augenbraue hoch. »Mir schien es, als wollten sie sie niederbrennen und nicht ausrauben.« Eadulf nickte langsam. »Das stimmt. Sie hätten sich heranschleichen und einbrechen können, wenn sie nur die Herberge und ihre Gäste ausrauben wollten.« »Vielleicht kamen sie gerade vorüber, und es fiel ihnen ein, die Gelegenheit zu nutzen, ohne daß sie es vorher geplant hatten«, erklärte Bressal; es klang aber nicht sehr überzeugt. Eadulf schüttelte den Kopf. »Kamen vorbei? Du sagtest doch selbst, daß dieser Weg wenig benutzt wird und nur nach Araglin hinein und hinaus führt.« Bressal seufzte. »Jedenfalls bin ich noch nie zuvor von Geächteten überfallen worden.« »Hast du Feinde, Bressal?« fragte Eadulf nach. »Gibt es jemanden, der dich aus dieser Herberge vertreiben möchte?« »Niemand«, erklärte Bressal mit Überzeugung. »Keiner hätte irgendeinen Vorteil davon, wenn diese Herberge zerstört würde. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht.« »Dann ...«, begann Eadulf, doch Fidelma unterbrach ihn scharf. »Vielleicht war es nur ein Haufen Plünderer, die leichte Beute suchten. Denen haben wir erst mal eine Lehre erteilt.« Eadulf sah aus, als ob er etwas sagen wolle, doch als er Fidelmas Blick auffing, schloß er fest den Mund. »Es war ein Glück, daß ihr hier wart«, meinte Bres-sal, der diesen Zeichenaustausch nicht bemerkt hatte. »Allein hätte ich den Angriff nicht abwehren können.« »Nun wird es Zeit für uns, zu frühstücken und uns auf den Weg zu machen«, antwortete Fidelma, denn der Morgen war inzwischen fortgeschritten. Nach dem Frühstück erklärte Archü, daß er und Scoth sich von ihnen trennen würden. Der Weg zu Archüs Bauernhof war von hier aus zu erreichen, ohne daß man weiter in Richtung auf den rath von Ara-glin ging. Beide wollten noch ein paar Stunden bleiben und Bressal bei der Reinigung der Herberge und der Reparatur des Reetdaches helfen, während Fidelma und Eadulf nach Araglin weiterritten. Bressal schlug vor, Fidelma und Eadulf sollten die Waffen behalten, die sie sich von ihm geliehen hatten. »Wie ihr gesehen habt, kann ich nicht gut mit Waffen umgehen. Ihr meintet, die Banditen seien in Richtung auf Araglin weggeritten, und ihr wollt ihnen doch nicht unbewaffnet unterwegs begegnen.« Eadulf wollte die Waffen schon annehmen, doch Fidelma gab sie kopfschüttelnd Bressal zurück. »Wir leben nicht vom Schwert. Bei Matthäus lesen wir, daß Christus zu Petrus sagte, wer das Schwert nehme, der solle durchs Schwert umkommen. Es ist besser, unbewaffnet durch die Welt zu gehen.« Bressal verzog das Gesicht. »Es ist besser, wenn man durch die Welt geht, daß man sich gegen die verteidigen kann, die vom Schwert leben.« Erst als sie den Weg nach Araglin ein ganzes Stück entlanggeritten waren, wandte sich Eadulf an Fidelma wegen ihrer stummen Unterbrechung, als er seine Vermutung über die Herkunft der Angreifer äußern wollte. »Warum sollte ich nicht aussprechen, was doch nur logisch war?« »Daß die sogenannten Banditen wahrscheinlich aus Araglin selbst kamen?« »Du hast Muadnat im Verdacht, nicht wahr?« fragte Eadulf. Fidelma wies diesen Gedanken zurück. »Ich sehe keinen Grund, ihn zu verdächtigen. Hätten wir diese Vermutung geäußert, hätten wir Archü und Scoth nur unnötig in Furcht versetzt. Es gibt viele andere Möglichkeiten. Bressal muß nicht die Wahrheit sagen, wenn er versichert, er habe keine Feinde. Vielleicht war es auch wirklich ein Angriff unbedachter Banditen. Oder es hat etwas mit dem Tode Ebers zu tun.« An diese anderen Möglichkeiten hatte Eadulf nicht gedacht, aber er war nicht überzeugt von ihnen. »Du meinst, daß jemand, der an dem Tode Ebers beteiligt war, versuchen könnte, deine Untersuchung zu verhindern?« fragte er skeptisch. »Ich bringe das als Alternative zu dem vor, was du vermutest, Eadulf. Ich behaupte nicht, daß es die Lösung ist. Wir müssen wachsam sein, doch Hypothesen ohne Beweiskraft können uns gefährlich in die Irre führen.« Kapitel 4 Der Vormittag war warm und sonnig, als Fidelma und Eadulf in froher Stimmung durch den dichten Wald ritten und auf einen Bergpfad herauskamen, der einen prächtigen Ausblick auf ein Tal gewährte, das ungefähr eine Meile breit war und von einem silbern glitzernden Fluß durchzogen wurde. Hier und da standen noch Baumgruppen, doch es war klar, daß das Tal seit langer Zeit bewirtschaftet wurde, denn man hatte den Wald bis auf den Streifen um die kahlen Berggipfel herum gerodet, und ein Rain von sich gelb färbendem Ginster trennte das Ackerland und die Weiden von dem Baumbestand. Das Band des Flusses zerschnitt das Hellgrün der Weiden im Tal. Die Schönheit des Anblicks nahm Fidelma fast den Atem. In der Ferne erblickte sie eine Anzahl rötlichbrauner Punkte, und als sie schärfer hinsah, erkannte sie einen majestätischen Hirsch, der eine Gruppe von Hirschkühen führte, von denen mehrere kleine Kälber bei sich hatten, kleine braune Geschöpfe mit weißen Punkten. An vielen Stellen im Tal verstreut grasten kleine Rinderherden, die sich langsam über die offenen Weiden bewegten, die die von Steinmauern eingefaßten Äcker umgaben. Das Tal schien von verlockendem Reichtum. Es war gutes Ak-kerland, und nach dem Lauf des Flusses zu urteilen, mußte er von Lachs und Forellen wimmeln. Eadulf beugte sich im Sattel vor und betrachtete beifällig die Landschaft. »Dieses Araglin scheint ein Paradies zu sein«, murmelte er. Fidelma kniff nachdenklich die Lippen zusammen. »Es gibt aber auch eine Schlange in diesem speziellen Paradies«, erinnerte sie ihn. »Vielleicht könnte der Reichtum dieses Landes ein Motiv für den Mord bilden? Ein Fürst, der solchen Reichtum besitzt, bietet Angriffsflächen«, vermutete Eadulf. Fidelma war anderer Meinung. »Du solltest doch unser System inzwischen gut genug kennen. Wenn ein Fürst stirbt, treten die derbfhi-ne der Familie zusammen. Sie müssen den Tanist, den Nachfolger, als Fürsten bestätigen und einen neuen Tanist ernennen. Nur der gewählte Nachfolger hätte einen Nutzen davon und käme also als erster in Verdacht. Nein, es ist kaum möglich, daß jemand um seines Amtes willen ermordet wird.« »Die derbfhine?« fragte Eadulf. »Ich habe vergessen, wie sie sich zusammensetzen.« »Drei Generationen aus der Familie des Fürsten, die aus ihren Reihen einen Tanist wählen und den neuen Fürsten in seinem Amt bestätigen.« »Wäre es nicht einfacher, wenn der älteste Sohn erbte?« »Ich weiß, wie ihr Angelsachsen die Erbfolge regelt. Wir ziehen es vor, daß die geeignetste Person Fürst wird statt eines Idioten, der nur gewählt wird, weil er der älteste Sohn seines Vaters ist«, erklärte Fidelma. Sie wies über das Tal hinweg. »Das muß der rath des Fürsten sein.« Eadulf wußte, daß ein rath eine Befestigung war, doch die Gruppe von Gebäuden in der Ferne, von denen einige fast verborgen hinter hohen Buchen mit ihrem glänzenden frischen grünen Laub lagen, war keine Burg. Immerhin war die Siedlung recht ausgedehnt, wie ein großes Dorf. Eadulf hatte auf seinen Reisen durch die fünf Königreiche viele mächtige Fürsten kennengelernt, die in steinernen Festungen wohnten, doch dieser rath sah eher nach einfachen hölzernen Bauernhäusern und Hütten aus. Als er genauer hinschaute, erkannte er auch einige Steingebäude darunter, von denen eins zweifellos die Kapelle Cill Uird war. Dicht bei der Kapelle erblickte er ein großes rundes Steinhaus, das er für die Festhalle des Fürsten hielt. Seine Miene verriet wohl seine Überraschung, denn Fidelma erklärte ihm: »Dies ist ein Bauernland. Die Bewohner von Araglin werden durch die Berge geschützt. Sie selbst sind eine kleine Gemeinschaft, die niemanden bedroht, deshalb brauchten sie noch nie eine Festung zu bauen zur Verteidigung gegen Feinde. Trotzdem nennen wir aus Höflichkeit jeden Ort, an dem ein Fürst residiert, einen rath.« Sie trieben ihre Pferde wieder an und ritten den Berghang hinunter ins Tal in Richtung auf den fernen Fluß und den rath des Fürsten von Araglin. Der Pfad führte durch offenes Gelände zu Tal. An ihm stand ein über fünf Meter hohes Kreuz aus gemeißeltem Granit. Eadulf parierte sein Pferd und starrte das Kreuz bewundernd an. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, stellte er so ehrfürchtig fest, daß Fidelma ihn belustigt anschaute. Es stimmte, daß es nur wenige solcher auffallenden hohen Steinkreuze im Königreich gab. In den grauen Stein waren Szenen aus der Bibel eingemeißelt und durch bunte Farben herausgehoben. Eadulf erkannte den Sündenfall, Moses’ Erweckung einer Quelle aus dem Felsen, das Jüngste Gericht, die Kreuzigung und andere Ereignisse. Die Spitze des Kreuzes war als Kirche mit Schindeldach und Kreuzblumengiebeln ausgebildet. Am Fuße waren die Worte »Oroit do Eog-han lasdernad inn Chros« eingemeißelt, ein Gebet für Eoghan, der das Kreuz errichtet hatte. »Ein ungewöhnliches Grenzzeichen für solch eine kleine Gemeinschaft«, bemerkte Eadulf. »Eine kleine, aber reiche Gemeinschaft«, verbesserte ihn Fidelma trocken und trieb ihr Pferd wieder an. Es wurde Mittag, ehe sie sich dem rath näherten. Ein Junge, der Kühe hütete, blieb stehen und starrte sie mit offenem Munde an, als sie vorbeiritten. Ein Mann, der fleißig den Kleefarn aus seinem Getreidefeld jätete, hielt inne, lehnte sich auf seine Hacke und betrachtete sie neugierig. Im Gegensatz zu dem Jungen begrüßte er sie fröhlich und erhielt zum Dank Fi-delmas Segen. Bei den Gebäuden vor ihnen erhob sich Gebell, und ein paar Jagdhunde schossen ihnen entgegen und kläfften sie laut, aber nicht drohend an. Auf einer gut gebauten Eichenbrücke überquerten sie den schnell dahinströmenden Fluß. Aus der Nähe sah Eadulf nun, daß einst ein großer Erdwall die Gebäude umgeben hatte, der jetzt aber mit Gras und Gesträuch überwachsen und beinahe ein Teil der umliegenden Felder geworden war. Hinter ihm grasten mehrere Schafe. Er bewies, daß die Gebäude vor langer Zeit befestigt gewesen waren. Jetzt waren sie nur von Flechtzäunen aus Haselgesträuch umgeben, die eher geeignet waren, so vermutete Eadulf, streunende Wölfe oder Wildschweine abzuhalten als menschliche Angreifer. Ein großes Tor im Zaun stand weit offen. Die Hufe ihrer Pferde klapperten hohl auf den Holzplanken der Brücke, dann nahmen sie den kurzen Weg zum Tor. Eine Gestalt tauchte im Tor auf, ein kräftiger Mann im mittleren Alter, mit Schwert und Schild bewaffnet, mit einem von Silberfäden durchzogenen, wohlgestutzten Bart. Er trat mitten in den Weg und betrachtete sie aus prüfend zusammengekniffenen dunklen Augen, doch ohne Feindseligkeit. »Wenn ihr in Frieden kommt, erwartet euch hier ein Willkommen«, begrüßte er sie, dem Ritual entsprechend. »Wir bringen Gottes Segen für diesen Ort«, antwortete Fidelma. »Ist dies der rath des Fürsten von Araglin?« »Der ist es.« »Dann möchten wir den Fürsten sprechen.« »Eber ist tot«, erwiderte der Mann tonlos. »Das haben wir schon gehört. Wir kommen zu seinem Nachfolger, dem Tanist.« Der Krieger zögerte, dann sagte er: »Folgt mir. Ihr findet den Tanist in der Festhalle.« Er wandte sich um und führte sie durch das Tor direkt zu dem großen runden Steingebäude. Die Türen des Hauses lagen dem offenen Tor gerade gegenüber und waren offensichtlich mit Bedacht so angeordnet. Kein Besucher des rath konnte daran vorbeigehen. Es sollte beeindrucken. Seine Bedeutung wurde noch dadurch hervorgehoben, daß gleich neben der Haupttür der Stumpf einer einstmals mächtigen Eiche stand. Selbst jetzt war er noch gut drei Meter hoch, und sein oberer Teil war zu einem Kreuz geschnitzt worden. Auch Eadulf wußte genug über die Bräuche des Landes, um zu erkennen, daß es sich um das uralte Totem des Stammes handelte, seinen crann betha oder Baum des Lebens, der das moralische und materielle Wohlergehen des Volkes symbolisierte. Er hatte gehört, daß bei Stammesfehden das Schlimmste, was einer Partei zustoßen konnte, ein gegnerischer Überfall war, bei dem ihr heiliger Baum gefällt oder verbrannt wurde. Ein solches Mißgeschick demoralisierte das Volk, und seine Feinde sahen sich als Sieger an. Fidelma und Eadulf stiegen von ihren Pferden und banden sie an einem in der Nähe stehenden Pfosten an. Mehrere Leute innerhalb des rath unterbrachen ihre Arbeit oder Beschäftigung und betrachteten die Nonne und den Mönch mit müßiger Neugier. »Es kommen nicht oft Fremde nach Araglin«, bemerkte der Krieger, wie um das Benehmen seiner Mitbewohner zu erklären. »Wir sind eine einfache Gemeinschaft von Bauern und werden nur selten von den Sorgen der Welt da draußen berührt.« Fidelma meinte, darauf sei keine Antwort nötig. Die ganze Anlage zeugte von Reichtum. Die Gebäude erstreckten sich in einem großen Halbkreis hinter der steinernen Festhalle. Es gab Pferdeställe und Scheunen, eine Mühle und einen Taubenschlag. Dahinter lag ein Kreis von kleinen Holzhütten und Wohnhäusern, die ein Dorf mittlerer Größe bildeten, sowie das Haus des Fürsten und seiner Familie. Fidelma überschlug im Geiste, daß mehrere Dutzend Familien im rath von Araglin wohnen mußten. Am eindrucksvollsten war die Kapelle neben der Festhalle mit ihren Trockensteinmauern und ihrer eleganten Bauweise. Dies mußte die Kirche Pater Gormans sein, Cill Uird, die Kirche des Rituals. Der Krieger war zu der Eichentür der Halle gegangen. Aus einer Nische neben der Tür nahm er einen Holzhammer und schlug damit gegen einen Holzklotz. Es gab einen hohlen Klang. Es war Brauch bei den Fürsten, ein bas-chrann oder Handholz außen an der Tür anzubringen, mit dem Einlaß begehrende Besucher anklopfen konnten. Der Krieger verschwand im Inneren und schloß die Tür hinter sich. Eadulf sah Fidelma an. »Ich dachte, ein solches Ritual gäbe es nur an den Wohnsitzen großer Fürsten«, brummte er. »In seinen eigenen Augen ist jeder Fürst groß«, erklärte Fidelma gelassen. Die Tür öffnete sich wieder, und der Krieger winkte sie herein. Sie traten in einen großen Raum von beeindruckenden Abmessungen, der mit poliertem Tannen- und Eichenholz getäfelt war. An der Täfelung hingen Schilde, glänzende Bronzestücke, einige davon waren mit funkelnder Emaille verziert. Hier und da ergänzten sie bunte Wandbehänge. Der Boden bestand aus alten dunklen Eichendielen. Es gab mehrere Tische und Bänke. Ein Ende des Raumes wurde von einem nur etwa 30 cm hohen Podium eingenommen, auf dem ein prächtig geschnitzter Eichensessel stand. Einlegearbeiten aus Bronze und Silber und verschiedene Pelze schmückten ihn. Draußen herrschte Tageslicht, doch die große Halle besaß keine Fenster, sondern wurde von mehreren Öllampen erleuchtet, die an den Tragbalken hingen und flackernde und tanzende Schatten durch den Raum warfen. Dieser Effekt wurde noch durch das Feuer verstärkt, das in einem Kamin an der Seitenwand knisterte. Der Krieger hieß sie warten und verschwand. Sie standen schweigend da und betrachteten prüfend die Pracht des Raumes. Wenn er darauf berechnet war, Eindruck zu machen, so erzielte er jedenfalls bei Eadulf diese Wirkung. Selbst Fidelma mußte zugeben, daß die Halle auch dem Palast ihres Bruders in Cashel Ehre machen würde. Nach wenigen Augenblicken trat eine schlanke Gestalt hinter einem Wandbehang am Ende des Podiums hervor und ging zu dem verzierten Sessel. Fidelma erblickte eine junge Frau von kaum mehr als neunzehn Jahren. Sie hatte hellblondes langes Haar und blaßblaue Augen. Zweifellos war sie hübsch. Doch Fidelma erschienen ihre Züge zu hart, um Vertrauen zu erwecken, und die blauen Augen wirkten kalt. Der Mund war leicht zusammengepreßt, so daß ein Gesamteindruck von unnachgiebiger Strenge entstand. All das erfaßte Fidelma mit einem Blick. Die junge Frau trug ein Kleid aus blauer Seide und einen dazu passenden Schal aus gefärbter Wolle, der von einer reich verzierten Goldbrosche zusammengehalten wurde. Die Hände hatte sie züchtig vor sich gefaltet. Sie blickte die beiden mit fragender Miene an. »Ich bin Cron, Tanist von Araglin. Ihr wollt mich sprechen?« Ihre Stimme, ein weicher Sopran, verriet kein Entgegenkommen. Fidelma verbarg ihre Überraschung, daß eine so junge Frau zum Nachfolger des Fürsten eines Bauernstammes gewählt worden war. Ländliche Gemeinden waren meistens konservativ, wenn es darum ging, ihre Anführer zu wählen. »Ich glaube, ich werde erwartet«, erwiderte sie in formellem Ton. Das Gesicht des blonden Mädchens blieb ausdruckslos. »Warum sollte ich Klosterleute hier bei uns erwarten?« fragte sie. »Pater Gorman betreut uns in allen Glaubensdingen.« Fidelma unterdrückte einen leisen Seufzer der Ungeduld. »Ich bin eine dalaigh bei Gericht und komme hierher, um den Tod Ebers, eures vorigen Fürsten, zu untersuchen.« Crons Gesicht zuckte einen Moment und nahm dann wieder seine ausdruckslose Starre an. »Eber war mein Vater«, sagte sie leise. »Er wurde ermordet. Es geschah ohne meine Einwilligung, daß meine Mutter beim König in Cashel einen dalaigh anforderte. Ich bin selbst in der Lage, diesen Fall zu untersuchen. Jedenfalls habe ich nicht erwartet, daß der König von Cashel daraufhin jemanden schickt, der so jung und vermutlich ohne Kenntnis der Welt außerhalb von Klostermauern ist.« Bruder Eadulf stand dicht hinter Fidelma, er sah, wie sich ihre Schultern strafften, und wartete gespannt auf ihren unvermeidlichen Zornesausbruch. Doch ihre Stimme blieb ruhig, beinahe zu ruhig. »Der König von Cashel, mein Bruder Colgü ...« Fidelma hielt kurz inne, um ihre Worte wirken zu lassen. »Mein Bruder bat mich, herzureisen und die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen. Du brauchst nicht zu befürchten, daß es mir an der nötigen Kenntnis fehlt. Ich bin bis zum Rang eines anruth ausgebildet. Ich wage zu glauben, daß die Zahl meiner Jahre höher und meine Erfahrung größer ist als die deinige, Tanist von Araglin.« Der Grad eines anruth war der zweithöchste, den die weltlichen und geistlichen Hochschulen Irlands zu vergeben hatten. Es trat Schweigen ein, während sich die beiden Frauen ansahen; kalte blaue Augen starrten in funkelnde grüne, und jedes Gesicht trug eine regungslose Maske. Hinter diesen Masken schätzten beide rasch die Stärken und Schwächen der anderen ab. »Ich verstehe«, sagte Cron langsam. In ihren einfachen Worten schwangen die unterschiedlichsten Gefühle mit. Dann fand sie zu ihrem scharfen Tonfall zurück. »Und wie ist dein Name, Schwester Colgüs?« »Ich bin Fidelma.« Der kühle Blick der blonden Frau wandte sich nun fragend Eadulf zu. »Dieser Bruder scheint fremd in unserem Land zu sein.« »Dies ist Bruder Eadulf ...«, stellte ihn Fidelma vor. »Ein Angelsachse?« erkundigte sich Cron verblüfft. »Bruder Eadulf hält sich als Abgesandter des Erzbischofs von Canterbury am Hofe meines Bruders in Cashel auf. Er wurde auf unseren Hochschulen ausgebildet und kennt unser Land gut. Es interessiert ihn, wie unsere gerichtlichen Verfahren ablaufen.« Das war nicht die ganze Wahrheit, doch für Cron sollte sie genügen. Die Fürstin warf Eadulf einen finsteren Blick zu, neigte den Kopf zu einer gerade noch höflichen Begrüßung und wandte sich wieder an Fidelma. Sie lud sie nicht zum Sitzen ein und blieb auch selbst stehen. »Nun, diese Angelegenheit ist einfach. Als Tanist hätte ich sie auch allein regeln können. Mein Vater wurde erstochen. Der Täter, Moen, wurde ergriffen, wie er noch mit dem Dolch in der Hand über die Leiche gebeugt stand, und Moens Hände und Kleidung waren mit dem Blut meines Vaters bedeckt.« »Ich hörte, zur selben Zeit wurde noch jemand tot aufgefunden?« »Ja, meine Tante Teafa. Sie wurde später gefunden. Sie war ebenfalls erstochen worden. Moen wohnte in ihrem Hause und war von ihr aufgezogen worden.« »Ich verstehe. Nun, ich werde die wichtigsten Fakten zusammentragen. Doch vorher würdest du vielleicht jemanden anweisen, uns zu eurem Gästehaus zu führen, damit wir uns nach der Reise säubern können? Etwas zu essen käme uns auch recht, da die Mittagszeit schon vorbei ist. Wenn wir uns gewaschen und gegessen haben, können wir die Beteiligten vernehmen.« Cron stieg die Röte ins Gesicht, als sie so über ihre Pflichten als Gastgeberin belehrt wurde, denn das konnte als Beleidigung gelten, wenn es von einer Person geringeren Ranges als Fidelma ausgesprochen wurde. Stählerne Härte trat in die kühlen blauen Augen. Einen Augenblick meinte Eadulf, daß die junge Tanist sich weigern werde. Doch dann zuckte sie die Achseln, ging zu einem Seitentisch, nahm eine kleine silberne Handglocke und läutete sie kräftig. Einige Augenblicke vergingen in unbehaglichem Schweigen, dann kam durch eine Seitentür eine ältere, leicht gebeugte Frau mit ergrauendem, früher blondem Haar herein. Ihr Gesicht war hager, die Haut, früher vom Leben an frischer Luft gebräunt, färbte sich gelblich. Ihre Augen waren hell und mißtrauisch und ruhelos wie die einer nervösen Katze. Trotz ihres Alters erschien sie kräftig, an schwere Landarbeit gewöhnt. Ihre breiten Hände trugen die Schwielen harter Jahre. Schüchtern ging sie zu Cron und neigte den Kopf. »Dignait, kümmere dich bitte um unsere ... Gäste. Schwester Fidelma ist hergekommen, um den Mord an meinem Vater zu untersuchen. Sie brauchen Unterkunft, Waschwasser und Essen.« Dignait sah Fidelma und Eadulf an. Fidelma glaubte in ihrem Blick Erschrecken und Angst zu spüren. »Wenn ihr mir folgen wollt ...«, lud Dignait sie etwas unbeholfen ein. Cron wandte sich mit leichtem Naserümpfen ab. »Wenn ihr fertig seid«, rief sie über die Schulter zu-rück, während sie auf den Vorhang hinter ihrem Amtssessel zuschritt, »erkläre ich euch im einzelnen, was vorgefallen ist.« Dignait führte sie durch eine kleine Seitentür aus der Halle heraus und über den Hof zum Gästehaus. Es war ein einfaches eingeschossiges Holzgebäude hinter der Festhalle und bestand nur aus einem einzigen großen Raum, in dem durch leichte Tannenholzwände einzelne Schlafkabinen abgeteilt waren. In jeder lag ein Strohsack, ein geschnitzter und polierter Holzblock diente als Kopfstütze, ein Leinenlaken und Wolldek-ken bildeten das Bettzeug. Dignait fragte, ob sie mit ihren Betten zufrieden seien. Vor den Schlafkabinen erstreckte sich ein offener Teil des Raumes mit mehreren Bänken und einem Tisch, in dem die Gäste speisen konnten und der allgemein als Wohnraum benutzt wurde. Es gab einen Kamin, in dem jedoch kein Feuer brannte. Als Dignait darauf hinwies, erklärte Fidelma, das Wetter sei so mild, daß kein Feuer nötig sei. Waschraum und Abort befanden sich hinter einer Tür am anderen Ende des Gästehauses. Die Tür war mit einem kleinen eisernen Kreuz gekennzeichnet. Fidelma nahm an, Pater Gorman habe es angebracht, denn manche Kleriker nannten den Abort auch fial-tech oder Schleierhaus. Diese Vorstellung hatten sie von Rom übernommen, sie glaubten, der Teufel wohne darin. Deshalb schlugen sie ein Kreuz, bevor sie ihn betraten. Als Fidelma erwähnte, ihre Pferde müßten versorgt werden, versicherte ihr Dignait, sie werde Menma, den obersten Pferdewärter, bitten, sie zu putzen und zu füttern. Fidelma erklärte sich mit ihrer Unterbringung zufrieden, hielt jedoch Dignait zurück, als diese sich entfernen wollte. Dignait blieb offensichtlich ungern da. »Du dienst hier wohl schon viele Jahre«, eröffnete Fidelma das Gespräch. Die Miene der Alten wurde noch mißtrauischer. Ihr Blick blieb verschleiert, doch sie verweigerte die Antwort nicht. »Ich bin seit etwas über zwanzig Jahren im Dienst bei der Familie der Fürsten von Araglin«, erwiderte sie steif. »Ich kam hierher als Dienerin von Crons Mutter.« »Kanntest du Moen, der beschuldigt wird, Eber ermordet zu haben?« Einen Moment glaubte Fidelma wieder ein Flackern von Furcht in ihrem Blick zu erkennen. »Jeder im rath von Araglin kennt Moen«, meinte sie. »Wie sollte es auch anders sein? Nur ein Dutzend Familien leben hier, und die meisten sind miteinander verwandt.« »War Moen auch mit jedem verwandt?« Die alte Verwalterin erschauerte sichtlich und bekreuzigte sich. »Er nicht! Er war ein Findelkind. Wer weiß, aus welchem Schoß er kam oder wessen Same den Fluch über den Schoß brachte? Lady Teafa, Friede ihrer irregeleiteten Seele, fand ihn als Baby. Das war ein Unglückstag für sie.« »Weiß man denn, warum Moen Teafa oder den Fürsten Eber umgebracht haben sollte?« »Das weiß sicher nur Gott, Schwester. Nun entschuldige mich . « Sie wandte sich abrupt zur Tür. »Ich habe zu arbeiten. Während ihr euch wascht, werde ich Menma Anweisungen wegen eurer Pferde geben und dafür sorgen, daß man euch etwas zu essen bringt.« Fidelma starrte ein paar Augenblicke auf die geschlossene Tür, hinter der die Alte verschwunden war. Eadulf schaute sie fragend an. »Was beunruhigt dich, Fidelma?« Fidelma ließ sich nachdenklich auf eine Bank sinken. »Vielleicht hat es nichts zu bedeuten. Aber ich habe das Gefühl, daß diese Dignait vor irgend etwas Angst hat.« Kapitel 5 Als sie sich vom Staub der vormittäglichen Reise gereinigt und ihr Mittagsmahl eingenommen hatten, kehrten sie in die Festhalle zurück. Cron war davon benachrichtigt worden und erwartete sie dort. Sie saß in ihrem Amtssessel und hatte für sie Stühle unterhalb des Podiums ihr gegenüber aufstellen lassen. Cron erhob sich widerstrebend, als Fidelma und Ea-dulf eintraten. Es war eine kleine, wenn auch widerwillige Achtungsbezeigung auf Grund der Tatsache, daß Fidelma die Schwester des Königs von Cashel war. »Habt ihr euch nun erfrischt?« fragte Cron und wies auf die Stühle, die für sie bereitstanden. »Ja«, antwortete Fidelma und setzte sich. Sie war ein wenig verärgert, denn es störte sie, daß sie zu Cron in ihrem Sessel aufsehen mußte. Fidelmas Rang als dalaigh und ihr juristischer Grad als anruth gestatteten es ihr, auf gleicher Ebene mit Königen zu sprechen, von kleinen Fürsten ganz zu schweigen; sogar in Gegenwart des Großkönigs in Tara konnte sie, wenn sie eingeladen war, auf der gleichen Ebene sitzen und sich frei unterhalten. Fidelma achtete genau auf die Einhaltung solcher Etikette, freilich nur, wenn andere ihre Stellung herauskehrten und ihren Rang mißachteten. Im Augenblick konnte sie allerdings ihren korrekten Platz nicht behaupten, ohne offene Feindseligkeit hervorzurufen, und sie zog es vor, genau zu erfahren, was hier vorgefallen war. Also sagte sie erst einmal nichts. Eadulf folgte ihrem Beispiel, setzte sich neben sie und blickte interessiert zu der jungen Tanist auf. »Nun können wir uns anhören, wie dein Vater Eber zu Tode gekommen ist, soweit du es weißt. Bitte die genauen Tatsachen«, sagte Fidelma und lehnte sich zurück. Cron sammelte sich einen Augenblick, beugte sich leicht vor, faltete die Hände und richtete ihren Blick auf einen Punkt im Mittelgrund irgendwo zwischen Fidelma und Eadulf. »Die Tatsachen sind einfach«, erklärte sie, als ob das Thema sie langweile. »Moen tötete meinen Vater.« »Hast du das gesehen?« fragte Fidelma, als Cron keine Anstalten machte, ihre Feststellung zu begründen. Cron runzelte ärgerlich die Stirn und sah auf sie herunter. »Natürlich nicht. Du wolltest die Tatsachen wissen. Ich teile sie dir mit.« Fidelma lächelte dünn. »Ich glaube, es wäre am besten und läge im Interesse der Gerechtigkeit, wenn du mir berichtest, wie sich die Angelegenheit abspielte, doch nur aus deiner Sicht.« »Ich bin nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe.« Fidelma verbarg ihre Ungeduld. »Zu welchem Zeitpunkt hast du erfahren, daß Eber ermordet worden war?« »Ich wachte in der Nacht auf ...« »Das war vor wie vielen Tagen?« »Es war vor sechs Tagen. Kurz vor Sonnenaufgang, wenn du es genau wissen willst.« Fidelma ignorierte den Spott in der Stimme der jungen Frau. »Es liegt im Interesse aller Beteiligten in diesem Fall, so genau zu sein wie möglich«, erwiderte sie mit eisiger Höflichkeit. »Sprich weiter. Vor sechs Nächten wurdest du geweckt. Von wem?« Cron blinzelte, als ihr die beißende Sanftheit des Tons bewußt wurde. Es war klar, daß sich Fidelma nicht von ihr einschüchtern ließ. Sie zögerte, dann zuckte sie die Achseln, als beuge sie sich ihrem Willen. »Na schön. Vor sechs Nächten wurde ich kurz vor Sonnenaufgang geweckt. Es war Duban, der Kommandeur der Leibwache meines Vaters, der mich weckte. Er hatte .« »Beschränke dich auf das, was er dir wirklich sagte«, unterbrach sie Fidelma warnend. Cron sprach beinahe durch zusammengebissene Zähne. »Er berichtete mir, daß Eber etwas Schreckliches zugestoßen sei. Er sagte, Moen habe ihn getötet.« »Waren genau das seine Worte?« Eadulf konnte es sich nicht versagen, die Frage zu stellen. Cron sah ihn stirnrunzelnd an und wandte sich wieder an Fidelma, ohne sich zu einer Antwort herabzulassen. »Ich fragte ihn, was geschehen sei, und er erklärte mir, daß Moen meinen Vater erstochen habe und auf frischer Tat ertappt worden sei.« »Was tatest du da?« fragte Fidelma. »Ich stand auf und fragte Duban, wie er mit Moen verfahren sei. Er sagte mir, Moen sei gefangengesetzt und in die Ställe gebracht worden, wo er seit jener Nacht geblieben ist.« »Und dann?« »Ich bat Duban, Teafa zu holen.« »Teafa? Deine Tante? Warum gerade sie?« Fidelma wußte wohl, daß Cron wie Dignait ihr erzählt hatten, Teafa habe Moen von Kindheit an aufgezogen, aber sie wollte die Geschichte Punkt für Punkt verfolgen. »Mir wurde gesagt, Moen tobe, und Teafa ist . war die einzige, die mit ihm umgehen konnte.« »Weil Teafa ihn erzogen hatte?« erkundigte sich Fidelma. »Teafa hat Moen seit seiner Kindheit versorgt.« »Wie alt ist Moen jetzt?« wollte Eadulf wissen. Cron wollte ihn erneut ignorieren, doch Fidelma zog eine Braue hoch. »Das ist eine berechtigte Frage«, betonte sie. »Einundzwanzig Jahre.« »Dann ist er also ein Erwachsener?« Fidelma war überrascht. Nach der Art, wie Cron und Dignait von ihm gesprochen hatten, klang es fast, als wäre Moen noch ein Kind. »Er ist ein schwieriger Mensch?« vermutete sie. »Das mußt du selbst beurteilen«, erwiderte Cron mürrisch. »Das stimmt. Du meintest also, Teafa würde Moen beruhigen können? Und was geschah dann?« »Duban fand . « Cron hielt inne und formulierte den Satz betont anders. »Duban kam nach wenigen Minuten zurück und berichtete mir, er habe Teafas Leiche gefunden. Sie war ebenfalls erstochen worden. Offensichtlich hatte Moen sie zuerst getötet, bevor er .« Fidelma hob die Hand und unterbrach sie. »Ich habe zu beurteilen, was geschah. Dies ist deine Vermutung. Wir werden so verfahren, wie das Gesetz es vorschreibt.« Cron schnaufte verärgert. »Meine sogenannte Vermutung ist richtig.« »Das wird sich später herausstellen. Was geschah, nachdem dir von Teafas Tod berichtet worden war?« »Ich ging zu meiner Mutter, weckte sie und sagte es ihr.« »Deine Mutter?« Fidelma beugte sich interessiert vor. »Ebers Frau?« »Natürlich.« »Ich verstehe. Dann wußte sie zu diesem Zeitpunkt noch nichts vom Tode ihres Mannes?« »Das habe ich doch schon gesagt.« »Aber der Mord ereignete sich doch vor Sonnenaufgang. Wo fand man deinen Vater?« »In seinem Schlafzimmer.« Fidelma folgte aufmerksam dem Gang der Logik. »Dann war deine Mutter nicht mit Eber zusammen?« »Sie war in ihrem eigenen Schlafzimmer.« »Ich verstehe«, sagte Fidelma leise. Sie beschloß, nicht weiter nachzufragen. »Und was geschah dann?« Cron zuckte beinahe teilnahmslos die Achseln. »Nur noch wenig, was damit zu tun hat. Wie ich schon sagte, wurde Moen sicher verwahrt. Ohne mein Wissen schickte meine Mutter einen jungen Krieger namens Critan nach Cashel, um den König über die Tragödie zu informieren. Sie meinte augenscheinlich, daß ein Brehon zur Untersuchung hergesandt werden sollte, statt ihre Tochter ihr Amt als Tanist ausüben zu lassen. Meine Mutter wollte nicht, daß ich Tanist werde.« Fidelma spürte eine gewisse Bitterkeit in der Stimme des Mädchens. »Critan kehrte vor zwei Tagen zurück und meldete, daß der König jemanden schicken werde. Daraufhin begruben wir meinen Vater der Sitte gemäß in unserem Grabhügel der Fürsten. Teafa auch. Entsprechend dem Gesetz habe ich als gewählte Erbin die Amtsführung übernommen. Ich hätte ebensogut Recht sprechen können, ohne all diese Komplikationen.« »Das stimmt nicht, Tanist.« Fidelmas Ton war sanft, aber entschieden. »Du wirst erst Fürstin, wenn deine derbfhine zusammentreten und dich im Amt bestätigen, und das erfolgt frühestens siebenundzwanzig Tage nach dem Tode des Fürsten. Eine solche Untersuchung muß ein ausgebildeter Brehon führen.« Die junge Tanist erwiderte nichts. »Nun gut«, meinte Fidelma schließlich, »die Tatsachen scheinen klar, so wie du sie dargelegt hast. War es Duban selbst, der die Leiche deines Vaters entdeckt hat?« Cron schüttelte den Kopf. »Es war Menma, der seinen Todesschrei hörte und ins Schlafzimmer meines Vaters stürmte, wo er Moen auf frischer Tat ertappte.« »Ach ja, Menma. Und wer ist Menma?« erkundigte sich Fidelma und überlegte, wo sie den Namen schon einmal gehört hatte. »Er ist der oberste Wärter der Pferde meines Vaters«, Cron hielt inne und verbesserte sich, »meiner Pferde.« Fidelma fiel ein, daß Dignait den Namen erwähnt hatte. »Soweit es deine eigene Kenntnis anbelangt«, fuhr Fidelma nach kurzer Pause fort, »liegt der Fall ganz klar und einfach? Du findest nichts Zweifelhaftes oder Geheimnisvolles daran?« »Es gibt kein Geheimnis. Die Tatsachen sind eindeutig.« »Was meinst du, aus welchem Grund Moen sowohl Eber als auch Teafa töten sollte?« Die Antwort kam ohne Zögern. »Es gibt kein logisches Motiv. Aber Logik war nie ein Bestandteil von Moens Welt.« Ihre Stimme klang bitter. Fidelma versuchte den Sinn ihrer Worte zu begreifen. »Wie ich hörte, hat Teafa Moen von Kindheit an aufgezogen. Er hatte ihr viel zu verdanken. Willst du damit sagen, daß Logik bei dieser Tat keine Rolle gespielt hat? Was betrachtest du dann als das Motiv, denn ein Motiv muß es doch wohl geben?« »Wer kann wissen, was in dem dunklen, stillen Gemüt eines solchen Geschöpfs wie Moen vor sich geht?« erwiderte die Tanist. Einen Augenblick fragte sich Fidelma, ob sie eine Erklärung für ihre Wahl der Worte verlangen solle. Sie meinte aber, sie solle sich nicht beeinflussen lassen, bevor sie nicht mit Moen gesprochen hatte. Doch vorher mußte sie erst noch mit einem anderen sprechen, nämlich dem, der Moen bei dem Mord an Eber überrascht hatte. »Nun werde ich mit Menma sprechen«, verkündete sie. »Die Mühe kann ich dir ersparen«, erwiderte Cron scharf, »denn ich kenne alle Einzelheiten des Falls. Menma und Duban haben sie mir berichtet.« Fidelma lächelte dünn. »Das ist nicht die Arbeitsweise eines dalaigh. Es ist wichtig, daß ich die Tatsachen aus erster Hand erfahre.« »Wichtig ist vor allem, daß du die gesetzliche Strafe über Moen verhängst. Und das bald.« »Du hegst also keinerlei Zweifel daran, daß Moen die Tat begangen hat?« »Wenn Menma sagt, daß er Moen auf frischer Tat ertappt hat, dann hat er sie auch begangen.« »Das bezweifle ich nicht«, sagte Fidelma und stand auf. Eadulf folgte ihr, und sie gingen zur Tür. »Was wirst du mit Moen machen?« fragte Cron verblüfft, denn sie war es nicht gewohnt, daß jemand in ihrer Gegenwart aufstand und fortging, ohne von ihr förmlich entlassen zu sein. »Machen?« Fidelma blieb stehen und blickte einen Moment zu der Tanist zurück. »Vorerst nichts. Erst müssen wir mit allen Zeugen sprechen und dann eine gerichtliche Anhörung abhalten, bei der Moen seine Verteidigung vortragen kann.« Cron überraschte sie damit, daß sie in schallendes Gelächter ausbrach. Es hörte sich etwas hysterisch an. Fidelma wartete geduldig ab, bis es aufhörte, und fragte dann: »Vielleicht kannst du uns sagen, wo wir Menma finden?« »Zu dieser Zeit findet ihr ihn in den Pferdeställen gleich hinter dem Gästehaus«, antwortete Cron unter erneutem Kichern. Sie brachte ihre Belustigung unter Kontrolle und rief ihnen zu, sie sollten noch einen Moment bleiben. Sie wurde ernst. »Es wäre klug, das Urteil in diesem Fall möglichst bald auszusprechen. Mein Vater war bei seinem Volk sehr beliebt. Er war freundlich und großzügig. Es gibt hier viele, die meinen, daß die alten Strafgesetze einem solchen Verbrechen nicht angemessen sind und daß die Worte des neuen Glaubens, die Worte der Vergeltung, geeigneter dafür sind. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Feuertod um Feuertod. Wenn du Moen nicht schnell aburteilst, könnten sich eifrige Hände finden, die selbst Gerechtigkeit üben.« »Gerechtigkeit?« Fidelmas Ton war eisig. Sie fuhr herum und trat der jungen Tanist entgegen. »Du meinst wohl Rache des Pöbels? Nun, als gewählte Fürstin dieses Stammes - vorausgesetzt, du wirst durch die derbfhine im Amt bestätigt - kannst du dies von mir weitergeben: Wenn jemand Hand an Moen legt, bevor er vor Gericht gestellt und nach dem Gesetz verurteilt ist, dann wird ihn selbst das Urteil treffen. Das verspreche ich, ganz gleich welchen Ranges er sein mag.« Cron schluckte schwer. Fidelma begegnete dem Blick ihrer feindseligen blauen Augen mit gleicher Kälte. »Eins möchte ich noch wissen«, setzte sie hinzu. »Wer hat die Worte der Vergeltung im Namen des neuen Glaubens gepredigt?« Die Tanist hob das Kinn. »Ich sagte dir schon, daß wir hier nur einen haben, der uns in Glaubensdingen betreut.« »Pater Gorman?« vermutete Eadulf. »Pater Gorman«, bestätigte Cron. »Dieser Pater Gorman scheint den Geist der Gesetze der fünf Königreiche nicht begriffen zu haben«, bemerkte Fidelma trocken. »Und wo findet man diesen sanftmütigen Vertreter des Glaubens? In seiner Kirche?« »Pater Gorman besucht gerade einige entfernte Bauernhöfe. Er wird morgen zurück sein.« »Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen«, erwiderte Fidelma und verließ die Halle. Menma erwies sich als ein untersetzter Mann mit einem häßlichen Gesicht und einem buschigen roten Bart. Er saß vor den Pferdeställen auf einem Baumstumpf und schärfte eine Hippe mit einem Wetzstein. Als sie sich ihm näherten, hörte er damit auf und sah sie an. Seine Miene verriet Verschlagenheit. Langsam stand er auf. Eadulf hörte, wie Fidelma tief Luft holte, und blickte sie überrascht an. Sie betrachtete forschend das Fuchsgesicht Menmas. Eadulf gewahrte einen üblen ranzigen Geruch. Angewidert bemerkte er, wie schmutzig und verfilzt Haar und Bart des Mannes waren, und veränderte leicht seine Stellung, damit ihm der Wind nicht mehr den Gestank zutrug. Menma zupfte ein paarmal an seinem roten Bart. »Du weißt, daß ich eine Anwältin bei Gericht bin und im Auftrag des Königs von Cashel den Mord an Eber untersuche?« sagte Fidelma. Menma nickte langsam. »Das habe ich gehört, Schwester. Die Nachricht von deinem Kommen hat sich hier schnell verbreitet.« »Wie man mir berichtet, hast du die Leiche Ebers entdeckt?« Der Mann blinzelte. »Das stimmt«, sagte er nach kurzer Überlegung. »Was ist deine Aufgabe im rath von Araglin?« »Ich bin oberster Stallwärter der Pferde des Fürsten.« »Dienst du dem Fürsten schon lange?« »Cron ist der vierte Fürst von Araglin, dem ich diene.« »Vier? Das ist sicher eine lange Dienstzeit.« »Ich war Stallbursche bei Eoghan, an den das hohe Steinkreuz erinnert, das die Grenze des Stammeslandes am Weg vom Gebirge da drüben kennzeichnet.« »Das haben wir gesehen«, bestätigte Eadulf. »Dann kam Eoghans Sohn Erc, der im Kampf gegen die Ui Fidgente fiel«, fuhr Menma fort, als habe er ihn nicht gehört. »Und nun ist Eber in die andere Welt eingegangen. Also diene ich jetzt seiner Tochter Cron.« Fidelma wartete einen Moment, aber mehr kam nicht. Sie unterdrückte einen Seufzer. »Erzähl mir, wie du Eber gefunden hast.« Menma schaute sie mit seinen blaßblauen Augen etwas verwirrt an. »Wie, Lady?« Fidelma fragte sich, ob der Mann leicht schwachsinnig sei. »Ja«, erwiderte sie und bemühte sich um Geduld. »Sag mir, wann und wie du die Leiche Ebers gefunden hast.« »Wann?« Das breite Gesicht des Mannes verzog sich. »Das war in der Nacht, als Eber ermordet wurde.« Bruder Eadulf wandte sich ab, um seine Belustigung zu verbergen. Fidelma stöhnte innerlich, als ihr klar wurde, mit was für einem Menschen sie es zu tun hatte. Menma war schwer von Begriff. Nicht schwachsinnig, sondern einfach jemand, dessen Gedanken sich langsam und schwerfällig bewegten. Oder tat er nur so? »Und wann war das, Menma?« lockte sie ihn. »Ach, das war vor sechs Nächten.« »Und die Zeit? Zu welchem Zeitpunkt fandest du die Leiche Ebers?« »Es war vor Tagesanbruch.« »Was tatest du in der Wohnung des Fürsten vor Tagesanbruch?« Menma hob eine mächtige, knochige Hand und fuhr sich durchs Haar. »Es ist meine Aufgabe, die Pferde auf die Weide zu treiben und das Melken der Kühe Ebers zu beaufsichtigen. Es ist auch meine Aufgabe, für die Küche des Fürsten zu schlachten. Ich stand auf und ging zu den Pferdeställen. Als ich an Ebers Wohnung vorbeikam ...« Fidelma beugte sich rasch vor. »Verstehe ich dich recht, daß der Weg von deiner Hütte zu den Pferdeställen an der Wohnung Ebers vorbeiführt?« Menma starrte sie verblüfft an, als begreife er nicht, weshalb sie die Frage stellte. »Das weiß doch jeder.« Fidelma zwang sich zu einem leichten Lächeln. »Du mußt Geduld mit mir haben, Menma, denn ich bin hier fremd und weiß so etwas nicht. Kannst du mir Ebers Wohnung von hier aus zeigen?« »Von hier nicht, aber von da.« Menma hob seine Hippe und wies mit der Klinge auf die Stelle. »Zeig sie mir.« Widerwillig führte Menma sie von den Ställen hinten um das Gästehaus herum und an der Granitmauer der Halle entlang zu einem ausgetretenen Pfad zwischen den Gebäuden. Ebers Wohnung lag offensichtlich auf der dem Gästehaus entgegengesetzten Seite der Festhalle. Und richtig, zwischen der Halle und der steinernen Kapelle standen ein paar Holzhäuser. Menma wies auf eins von ihnen. »Das ist Ebers Wohnung. Dort ist die Tür, durch die ich reinging, aber es gibt noch eine andere, die seine Wohnung unmittelbar mit der Festhalle verbindet.« »Und wo ist deine Hütte?« Er deutete mit der Hippe darauf. Fidelma sah, daß ein Weg für Menma zu den Ställen an der steinernen Kapelle und an Ebers Wohnung vorbeiführte. Sie hatte nicht an der Richtigkeit von Menmas Beschreibung gezweifelt, doch sie wollte sich die Geographie des Ortes auf jeden Fall selbst einprägen. »Wer besorgt hier das Melken?« fragte sie, während sie langsam zu den Ställen zurückgingen. Sie wußte nicht, ob Eadulf verstand, wie ungewöhnlich es für einen Mann war, etwas mit dem Melken zu tun zu haben. In den meisten ländlichen Gemeinden standen die Leute bei Tagesanbruch auf, und zu den ersten Pflichten des Tages gehörte es, daß der oberste Stallwärter die Pferde auf die Weide trieb und die Frauen die Kühe melkten. Deshalb war es eigenartig, daß der Stallwärter des Fürsten nicht nur die Pferde hinausließ, sondern auch das Melken beaufsichtigte. »Die Frauen besorgen immer das Melken«, antwortete Menma ungerührt. »Warum mußtest du sie dann beaufsichtigen?« »Das mache ich seit einigen Wochen«, meinte Menma. »Im Tal sind ein paar Rinder gestohlen worden, und Eber gab mir den Auftrag, seine Herde jeden Morgen zu kontrollieren.« »Ist Rinderdiebstahl hier so ungewöhnlich? Hat man die Diebe erwischt?« Menma erwog die Frage und kraulte sich dabei nachdenklich den Bart. »Es war das erste Mal, daß jemand gewagt hat, den Clan Araglin zu berauben. Wir sind hier eine abgeschiedene Gemeinschaft. Duban hat tagelang gesucht, aber auf den hochgelegenen Weiden verlor sich die Spur der Diebe.« »Wie kam das?« »Da oben gab es zu viele Tierfährten.« Fidelma seufzte. Aus Menma etwas herausholen war wie Zahnziehen. »Sprich weiter. Es war kurz vor Tagesanbruch. Du machtest dich auf, um das Melken zu beaufsichtigen, und kamst an Ebers Wohnung vorbei. Was dann?« »Da hörte ich das Stöhnen.« »Das Stöhnen?« »Ich dachte, Eber müßte wohl krank sein, und rief, ob er Hilfe brauchte.« »Was geschah dann?« »Nichts. Es kam keine Antwort, und das Stöhnen ging weiter.« »Was tatest du da?« »Ich ging in seine Wohnung. Ich fand ihn in seinem Schlafraum.« »War es Eber, der so stöhnte?« »Nein, es war Moen, sein Mörder.« »Hast du Ebers Leiche sofort entdeckt?« »Nicht gleich. Ich sah, wie Moen am Bett kniete, mit einem Messer in der Hand.« »Du sagtest, es war vor Tagesanbruch. Also mußte es noch dunkel sein. Wie konntest du das im Innern von Ebers Schlafraum sehen?« »Eine Lampe brannte. In deren Licht sah ich Moen ganz deutlich. Er stand über das Bett gebeugt. Ich sah das Messer in seiner Hand.« Menma hielt inne, und sein Gesicht verzog sich angeekelt, als er sich an den Anblick erinnerte. »Beim Schein der Lampe sah ich Flecken auf dem Messer. Dann sah ich Flecken auf Moens Gesicht und Kleidung. Erst als ich Ebers Körper nackt auf dem Bett ausgestreckt liegen sah, begriff ich, daß es Blutflecke waren.« »Hat Moen etwas zu dir gesagt?« Menma schnaubte. »Sagen? Was hätte er denn sagen können?« »Hast du ihn beschuldigt, Eber getötet zu haben?« »Das lag doch wohl klar auf der Hand? Nein, ich ging sofort auf die Suche nach Duban.« »Und wo fandest du Duban?« »Ich traf ihn in der Festhalle. Er befahl mir, meine Arbeit zu machen, mich um die Pferde und Rinder zu kümmern, denn die Tiere können nicht warten, bis es den Menschen paßt.« »Moen blieb in dieser Zeit allein?« »Natürlich.« »Du dachtest nicht, daß er weglaufen könnte?« Menma schien verblüfft. »Wo sollte er denn hin?« Fidelma drängte ihn weiter. »Was geschah dann?« »Ich führte die Pferde hinaus, als Duban und Critan mit Moen zum Stall kamen.« »Critan? Ist das der Krieger, der nach Cashel ritt?« »Er ist einer von Dubans Kriegern«, bestätigte Menma. »Was dann?« »Sie brachten Moen in den Pferdestall, und Critan band ihn an. Der Pferdestall dient immer als Gefängnis, denn wir haben kein anderes Gebäude in Araglin, das dazu taugt.« »Moen hatte keine Erklärung für den Mord und keine Verteidigung gegen die Vorwürfe vorzubringen? Hat er den Mord überhaupt gestanden?« Menma sah verwirrt aus. »Wie hätte er das tun können? Wie gesagt, jedem war klar, was geschehen war.« Fidelma wechselte einen überraschten Blick mit Eadulf. »Was tat Moen denn dann? Hat er sich gegen die Festnahme gewehrt?« »Er wand sich und wimmerte, als Critan ihn festband. Duban ging dann zu Cron, weckte sie und brachte ihr die Nachricht.« »Ich verstehe. Du hattest keinen Kontakt mehr mit Moen, nachdem er weggesperrt wurde?« Menma zuckte die Achseln. »Ich seh den Kerl, wenn ich in den Pferdestall gehe. Aber Critan versorgt ihn. Es sind Critan und Duban, die sich um ihn kümmern.« Fidelma nickte nachdenklich. »Danke, Menma. Vielleicht muß ich dir später noch weitere Fragen stellen. Aber jetzt spreche ich erst mit Duban.« Menma wies auf den Eingang zum Stall, wo sie den Krieger im mittleren Alter, der sie bei ihrer Ankunft begrüßt hatte, im Gespräch mit einem jüngeren Mann erblickten. »Da stehen Duban und Critan.« Er wollte gehen, doch Fidelma hielt ihn zurück. »Noch eins. Stehst du gewöhnlich vor Tagesanbruch auf, um nach den Pferden zu sehen?« »Immer. Die meisten Leute hier sind schon bei Sonnenaufgang auf den Beinen.« »Bist du heute morgen auch vor Tagesanbruch aufgestanden und hast nach den Pferden gesehen?« Menma runzelte die Stirn. »Heute morgen?« Fidelma beherrschte mühsam ihren Ärger. »Hast du dich heute morgen um die Pferde gekümmert?« wiederholte sie scharf. »Ich hab dir doch gesagt, ich bringe sie jeden Morgen vor Tagesanbruch raus.« »Und zu welcher Zeit bist du gestern abend zu Bett gegangen?« Menma schüttelte den Kopf, als versuche er sich zu erinnern. »Spät, glaube ich.« »Glaubst du?« »Ich hab spät noch getrunken.« »War jemand bei dir?« Der stämmige Mann schüttelte den Kopf. Als er gegangen war, blickte Eadulf sie ratlos an. »Was hat Menmas Verhalten heute morgen mit dem Mord in der vorigen Woche zu tun?« wollte er wissen. »Hast du ihn wiedererkannt?« fragte Fidelma. Eadulf runzelte die Stirn. »Wen wiedererkannt? Menma?« »Ja, natürlich!« Fidelma ärgerte sich über Eadulfs Begriffsstutzigkeit. »Nein. Sollte ich das?« »Ich bin mir sicher, daß er zu den Männern gehörte, die heute früh die Herberge überfielen.« Eadulf blieb vor Staunen der Mund offenstehen. Ihm lag die Frage »Meinst du wirklich?« auf der Zunge, aber er wußte, daß sie ihm nur eine zornige Erwiderung einbringen würde. Fidelma würde nie sagen, sie sei sich sicher, wenn sie es nicht war. »Dann hat er gelogen.« »Genau. Ich schwöre, daß er dabei war. Du erinnerst dich, daß die Angreifer dicht an uns vorbeiritten. Mir fiel auf, daß einer von ihnen ein besonders häßliches Gesicht und einen buschigen roten Bart hatte. Ich glaube nicht, daß er mich so deutlich sah, daß er mich wiedererkennen würde. Aber es war Menma.« »Das ist nicht das einzige Rätsel. Warum hält jeder hier Moen für schuldig, und keiner versucht festzustellen, aus welchem Grund er Eber und diese Teafa umgebracht hat?« Fidelma nickte beifällig bei dieser treffenden Bemerkung. »Jetzt wollen wir mal sehen, wie Menmas Aussage zu der Moens paßt.« Sie gingen hinüber zu den beiden Kriegern, die an der Stalltür standen. Der jüngere Mann, eher noch ein Jüngling, hatte schmutziges blondes Haar und recht grobe Gesichtszüge. Er lümmelte am Türpfosten. Ein runder Schild hing locker an seiner Schulter, und er trug ein handwerklich gut gearbeitetes Schwert an der linken Seite. Beide Männer wandten sich um und beobachteten Fidelma und Eadulf, als diese sich ihnen näherten. Der jüngere Krieger veränderte seine nachlässige Haltung nicht und starrte Fidelma mit unverhohlener Neugier an. Beide schwiegen jetzt. »Bist du wirklich ein Brehon?« Die Frage kam von dem Jüngling. Seine Stimme klang, als leide er an einer Halsentzündung. Fidelma gab ihm keine Antwort und zeigte ihr Mißfallen über seine Anrede, indem sie sich an den Krieger im mittleren Alter wandte. »Wie ich höre, heißt du Duban und befehligst die Leibwache des Fürsten?« Der stämmige Krieger wechselte verlegen seine Haltung. »Das stimmt. Dies ist Critan, er gehört auch zur Wache. Critan ist ...« »Der Meister von Araglin!« Der Ton des jungen Mannes war prahlerisch. »Meister? Worin?« Nur Eadulf spürte, daß sich Fidelma über die Großspurigkeit des Jünglings ärgerte. Critan ließ sich von ihrer Frage nicht beirren. »Was du willst, Schwester. Schwert, Lanze oder Bogen. Ich war es, der nach Cashel geschickt wurde, um den König zu benachrichtigen. Ich glaube, er war von mir beeindruckt. Ich habe vor, in seine Leibwache einzutreten.« »Weiß der König von Cashel schon von deiner Absicht?« fragte sie. Fidelma verzog keine Miene. Man merkte ihr nicht an, ob die Frechheit des Jünglings sie belustigte oder ärgerte. Eadulf folgerte, daß sie ihn verachtete. Critan hörte den Spott nicht aus ihrer Stimme heraus. »Ich hab es ihm noch nicht gesagt. Aber wenn ihm mein Ruhm bekannt wird, dann wird er mich in seinen Dienst nehmen.« Fidelma merkte, daß Duban das Prahlen seines Untergebenen peinlich war. »Duban, ich möchte mit dir sprechen.« Sie nahm ihn beiseite und ignorierte die gekränkte Miene des Jünglings. »Du weißt, daß ich Anwältin bei Gericht bin?« »Davon habe ich gehört«, bestätigte der Kommandeur der Leibwache. »Die Nachricht von deinem Kommen ist im rath allgemein bekannt.« »Gut. Ich möchte Moen sehen.« Der Krieger wies mit dem Daumen über die Schulter auf die geschlossene Stalltür. »Er ist da drin.« »Das hat man mir gesagt. Ich möchte dich noch darüber befragen, wie du die Leiche Teafas gefunden hast, aber im Augenblick möchte ich mich mit Moen befassen. Hat er irgend etwas gesagt, seit ihr ihn gefangengesetzt habt?« Dubans verwirrte Miene verblüffte sie. »Wie sollte er?« Fidelma verkniff sich ihre Antwort und entschied, es sei besser, erst Moen zu sehen, ehe sie weitere Erkundigungen einzog. »Macht die Tür auf«, ordnete sie an. Duban winkte seinem angeberischen Untergebenen, ihren Befehl auszuführen. Im Stall war es dunkel und feucht, und es stank. »Ich hole eine Lampe«, sagte Duban entschuldigend. »Wir haben keinen anderen Platz für Gefangene, deshalb haben wir die Pferde, die Eber hier hielt, raus gebracht auf die Weide und den Stall zum Gefängnis gemacht.« Fidelma schnüffelte mißbilligend und starrte in die Finsternis. »Es muß doch wohl einen besseren Ort geben, wo man ihn einsperren kann? Der Gestank hier ist schon schlimm, auch ohne die zusätzliche Beleidigung durch die Dunkelheit. Warum hat man dem Gefangenen nicht ein Licht dagelassen?« Der junge Krieger, Critan, kicherte laut hinter ihrem Rücken. »Du hast Humor, Lady. Das ist gelungen!« Duban knurrte ihn an, er solle auf seinen Posten vor der Tür zurückgehen, und schlurfte in die Dunkelheit. Als Fidelmas und Eadulfs Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, erkannten sie die unbestimmten Umrisse seiner Gestalt, wie er sich über etwas beugte, dann hörten sie, wie er Funken schlug und einen Öldocht entzündete, der zu glimmen begann. Mit der Lampe in der Hand wandte er sich um. Er winkte sie tiefer in den höhlenartigen Stall hinein und zeigte in eine entfernte Ecke. »Da ist er. Dort ist Moen, der Mörder Ebers.« Fidelma ging weiter. Duban hob die Lampe so hoch er konnte, um das übelriechende Innere zu erhellen. In der Ecke lag etwas, was auf den ersten Blick wie ein Bündel Lumpen aussah. Schmutzige, muffige Wollsachen. Das Bündel bewegte sich, und eine Kette klirrte. Fidelma schluckte schwer, als sie erkannte, daß das Bündel einen Menschen bedeckte, der mit dem linken Fuß an einem der Pfosten angekettet war, die das Dach trugen. Dann sah sie, wie sich ein wuscheliger Kopf ruckartig hob, mit dem Rücken zu ihr, und der Mensch mit leicht schräg gehaltenem Kopf zu lauschen schien. Er gab ein seltsames Wimmern von sich. »Das ist die Kreatur, dieser Moen«, sagte Duban dumpf neben ihr. Kapitel 6 Fidelma konnte sich nicht gegen den Schauder wehren, der sie überlief, als sie auf die groteske Gestalt starrte. »Gott im Himmel schaue auf uns herab! Was hat das zu bedeuten? Ich würde nicht einmal ein Tier unter solchen Bedingungen halten, geschweige denn einen Menschen, selbst wenn er unter Mordverdacht steht.« Sie trat vor, beugte sich über die kauernde Gestalt und berührte sie an der Schulter. Auf das, was dann geschah, war sie nicht vorbereitet. Bei der Berührung fuhr die Gestalt mit einem Schreckensgeheul hoch. Sie kroch stöhnend auf allen vieren davon wie ein Tier, bis sie am Ende der Kette mit einem Ruck zum Stehen kam. Sie fiel der Länge nach auf das schmutzige Stroh, das den Boden bedeckte, und lag still, hob aber beide Hände, als wolle sie den Kopf vor einem Schlag schützen. Sie verharrte nur einen Moment in dieser Stellung, dann rappelte sie sich hoch und wandte ihnen das Gesicht zu. Fidelma und Eadulf waren entsetzt von dem, was sie sahen: die Augäpfel hatten keine Pupillen, sie blickten weiß und leer. »Retro Satana!« murmelte Eadulf und bekreuzigte sich. »Es ist ein Satan, Bruder«, bestätigte Duban trocken. Die Gestalt war die eines Mannes. Sie war so mit Schmutz und Exkrementen bedeckt, das Haar war so wild und verfilzt, daß sie die Gesichtszüge nicht erkennen konnten. Fidelma hatte den Eindruck, sie sei nicht alt. Dann fiel ihr ein, daß Cron das Alter Moens mit einundzwanzig Jahren angegeben hatte. Der Mund war eine breite sabbernde Öffnung, und aus ihm drang weiter dieses schreckliche Stöhnen. Doch es waren die Augen, die Fidelma und Eadulf fesselten, diese armseligen weißlichen, trüben Bälle mit kaum einer Spur von Pupillen darin. »Ist das der Moen, der des Mordes an Eber und Teafa beschuldigt wird?« flüsterte Fidelma entgeistert. »Allerdings.« »Moen«, brummte Eadulf. »Natürlich! Bezeichnet nicht schon der Name jemanden, der stumm ist?« »Du hast es richtig erfaßt, Bruder«, bestätigte Du-ban. »Stumm ist er, seit er gefunden und von Lady Teafa aufgenommen wurde.« »Und blind?« fragte Fidelma und starrte mit Schrecken und Mitleid auf die Gestalt, die vor ihr hockte. »Und taub«, setzte Duban finster hinzu. »Und man behauptet, daß so ein unglückliches Wesen zwei gesunde Menschen töten konnte?« murmelte Fidelma ungläubig. Eadulf betrachtete die Gestalt mit Abscheu. »Warum hat man uns nicht schon eher von dem Zustand dieser Person unterrichtet?« Der Krieger sah ihn überrascht an. »Aber jeder kennt doch Moen. Es kam mir nie in den Sinn, daß ...« Fidelma unterbrach seine Beteuerungen. »Nein. Es ist nicht deine Schuld, daß wir es nicht früher erfahren haben. Aber eins möchte ich ganz klarstellen: Verstehe ich es richtig, daß dieses taubstumme und blinde Geschöpf beschuldigt wird, den Mord an Eber und .« Sie hielt inne, denn die Gestalt bewegte sich vorsichtig vorwärts und hob den Kopf wie ein witterndes Tier. Sie schnüffelte. Fidelma starrte auf sie hinab, als sie sich ihr auf allen vieren näherte. »Ich würde etwas zurücktreten, Schwester, denn er riecht Leute, auch wenn er sie nicht sehen oder hören kann«, warnte sie Duban. Es war zu spät, denn eine kalte, schmutzige Hand schoß vor und berührte Fidelmas Fuß. Erschrocken fuhr sie zurück. Moen hielt sofort inne. Duban trat auf ihn zu, in einer Hand die Lampe, die andere wie zum Schlag auf den Unglücklichen erhoben. Fidelma sah die Bewegung und winkte ihn zurück. »Schlag ihn nicht«, befahl sie. »Man führt keinen Schlag, den der andere nicht sehen kann.« Das war ein Glück, denn Moen saß mit erhobenem Gesicht da. Jetzt hielt er die Hände hoch und machte eigenartige Bewegungen mit ihnen. Fidelma schüttelte traurig den Kopf. »Achte nicht auf ihn, Schwester«, knurrte Duban, »denn Gott hat ihn verflucht.« »Kannst du ihn nicht wenigstens säubern lassen?« verlangte Fidelma. Duban sah sie überrascht an. »Wozu?« »Er ist ein menschliches Wesen.« Der Krieger setzte eine sarkastische Miene auf. »Das sieht man ihm aber kaum an.« »Duban, du hast bereits gegen das Gesetz verstoßen, weil du über einen Behinderten gespottet hast.« Der Krieger öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Fidelma fuhr entschlossen fort: »Ich erwarte, daß er sauber ist, wenn ich ihn mir wieder ansehe. Du kannst ihn weiter gefangenhalten, aber er muß Nahrung und Wasser bekommen und gesäubert werden. Ich dulde es nicht, daß ein Geschöpf Gottes so leiden muß. Was man ihm auch vorwerfen mag.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Stall. Eadulf zögerte einen Moment. Ihn beunruhigten die bitteren Gefühle, die sich im Gesicht des Kriegers abzeichneten, während er Fidelma nachsah. Fidelma blieb draußen stehen und atmete tief durch, um ihren Zorn zu bändigen. Von dem anderen Krieger, Critan, war nichts zu sehen. Langsam gingen sie auf Ebers Wohnung zu. »Man kann Duban keinen Vorwurf machen«, versuchte Eadulf sie zu besänftigen. »Und vergiß nicht, dieses arme Geschöpf, wie du es nennst, hat Eber, seinen Fürsten, getötet.« Er zuckte beinahe zusammen, als Fidelmas grüne Augen ihn plötzlich mit zornerfülltem Feuer anfunkelten. »Moens Schuld muß erst mal bewiesen werden. Er ist ein menschliches Wesen und hat vor dem Gesetz dieselben Rechte wie jeder andere. Bis dahin gibt es keine Entschuldigung dafür, ihn so zu behandeln, als wäre er weniger als ein Tier.« »Stimmt«, gestand Eadulf. »So dürfte er nicht behandelt werden, aber .« »Er hat das Recht, sich zu verteidigen, bevor er schuldig gesprochen wird oder nicht.« »Taubstumm und blind, Fidelma. Wie kann man sich mit so einem Menschen verständigen, um festzustellen, was er zu seiner Verteidigung vorzubringen hat?« wollte Eadulf wissen. »Wenn es Gründe für eine Verteidigung gibt, werde ich sie finden. Jedenfalls wird er nicht ohne einen fairen Prozeß verurteilt. Entsprechend meinem Eid als Anwältin des Rechts der fünf Königreiche werde ich dafür sorgen.« Verlegenes Schweigen trat ein, dann fragte Eadulf: »Gibt es wirklich ein Gesetz, das die Verspottung von Behinderten unter Strafe stellt?« »Ich erfinde keine Gesetze«, erklärte Fidelma streng, noch immer verärgert. »Hohe Geldstrafen können über jeden verhängt werden, der über die Behinderung eines Menschen spottet, von einem Epileptiker bis zu einem Lahmen.« »Das ist kaum zu glauben, Fidelma. Wenn ich auch die Gesetze deines Landes studiert habe, bin ich doch in meiner eigenen Kultur befangen. In unserer Gesellschaft gehen wir davon aus, daß der Mensch ein grausames Wesen ist und Gott ihm oft ein kurzes und schweres Leben zugemessen hat. Es liegt in der heiligen Ordnung der Dinge, daß der Mensch in der gewaltsamen Natur auch einen Weg voller Gewalt geht.« Fidelma starrte ihn verblüfft an. »Du hast doch bei uns gesehen, daß es auch anders sein kann, Eadulf. Du glaubst doch sicher nicht, daß die angelsächsische Lebensweise die einzig richtige ist?« »Jede Lebensweise ist vergänglich. Das Leben ist plötzlichen Wechseln unterworfen. Von allen Seiten ist es von Pest, Hunger, Unterdrückung und der Gewalt persönlicher oder politischer Feinde bedroht. Wir ergeben uns in unser Geschick nach dem unergründlichen Willen des Vaters im Himmel und sehen darin unsere einzige Sicherheit.« Fidelma schüttelte den Kopf. »Über diese Philosophie müssen wir später noch einmal reden, Eadulf. Unsere Gesetze und unsere Lebensweise sprechen gegen das viele Elend, das ihr in eurem Land hinnehmt. Aber bevor wir darüber debattieren, haben wir erst einmal diesen Fall zu lösen. Es ist ein schwieriger Fall, Eadulf, und ich brauche deine Hilfe dabei. Wenn ich das Beweismaterial gesammelt habe und die Schuld diesem Unglücklichen anzulasten ist, dann muß ich entscheiden, ob er rechtsfähig ist. Ein Behinderter kann nicht rechtlich belangt werden, sondern das Verfahren richtet sich gegen seinen gesetzlichen Vormund. Also müssen wir feststellen, wer der gesetzliche Vormund dieses armen Moen ist. Ach«, sie hielt inne und rieb sich die Stirn, »ich muß versuchen, mich an den Wortlaut des Do Brethaib Gaire zu erinnern ...« »Was ist denn das?« erkundigte sich Eadulf. »Das Do Brethaib Gaire legt die Verpflichtungen der Verwandtschaft bei der Sorge für ihre behinderten Angehörigen fest. Der erste Teil bezieht sich auf die Taubstummen und Blinden.« Eadulf wunderte sich immer wieder über die irischen Entschädigungsgesetze für das Opfer und seine Angehörigen selbst in Mordfällen. In seinem Land galt die Todesstrafe für Diebe und für diejenigen, die ihnen Unterschlupf gewährten oder sie unterstützten. Mörder, Verräter, Hexen, entlaufene Sklaven, Geächtete und die, die sie beschützten, konnten gehängt, geköpft, gesteinigt, verbrannt oder ertränkt werden. Verstümmelungen galten als geringere Strafen: das Abschneiden von Händen, Füßen, Nasen, Ohren, Oberlippen oder Zungen, Blendung, Kastration, Skalpieren, Brandmarken oder Auspeitschen. Eadulf wußte, daß die angelsächsischen Bischöfe lieber mit Verstümmelung bestraften als mit dem Tode, weil das dem Sünder Gelegenheit gab zu bereuen. Aber diese Iren, die sich weigerten, einen befriedigenden Begriff von Rache zu entwickeln, und dafür von Schadensersatz für das Opfer durch nützliche Arbeit des Verbrechers redeten . Nun ja, es war human, aber er fragte sich oft, ob solche Strafen angemessen seien. Als sie an der Festhalle vorbeikamen, rief jemand nach ihnen. Es war Duban, der ihnen nacheilte. In seinem Blick lag etwas Feindseliges, doch seine Miene war beherrscht. »Ich habe Critan befohlen, deine Anweisungen auszuführen, Schwester. Moen wird hergerichtet entsprechend deinem .« Er suchte nach dem passenden Ausdruck. »Deinem Empfinden.« »Ich hatte keinen Zweifel, daß du das tun würdest, Duban«, erwiderte Fidelma ruhig. Der ältliche Krieger runzelte die Stirn und versuchte zu ergründen, wie sie das meinte. Fidelmas Kritik mochte ihn verletzt haben, doch war ihm offensichtlich gesagt worden, er habe ihre Anordnungen zu befolgen. »Cron hat mich beauftragt, dir während deines Aufenthalts im rath von Araglin zur Verfügung zu stehen und alle deine Anweisungen auszuführen.« »Gut. Wir sind gerade auf dem Wege zu Ebers Wohnung, um die Stelle zu untersuchen, an der Menma die Leiche und den unglücklichen Moen entdeckt hat.« »Dann werde ich euch führen«, erbot sich Duban und ging ihnen voran zu dem Gebäude, das Menma ihnen bereits gezeigt hatte. Es war einstöckig wie die meisten Holzhäuser im rath. Die Tür führte in einen Raum, der leicht als Empfangszimmer zu erkennen war. Darin konnte der Fürst speisen und Gäste bewirten, wenn er nicht die Festhalle benutzen wollte. Dieses Zimmer war mit der Halle durch eine Tür verbunden, die hinter einem Wandbehang verborgen war, auf den Duban sie hinwies. Über dem Herd hing ein Kessel, davor standen ein Tisch und Stühle. Die Waffen des toten Fürsten und Jagdtrophäen schmückten die Wände. Teppiche und Wandbehänge verliehen dem Raum Wärme. Eine holzgetäfelte Wand mit einer Tür trennte ihn von dem nächsten, der als Schlafzimmer diente. Das Ruhelager war einfach: ein großer Strohsack auf dem Boden mit Decken darauf. Fidelma bemerkte die Blutflecke auf ihnen, sagte aber nichts. In der Nähe stand ein Tisch mit einer Öllampe. »Ist das die Lampe, die brannte, als Menma eintrat?« »Ja«, bestätigte Duban sofort. »Im Zimmer ist nichts verändert worden seit . seit der Tragödie. Die Lampe brannte noch, als ich mit Menma herkam. Moen kniete genau hier«, er wies mit der Hand auf die Stelle, »dicht neben dem Bett.« »Versuchte er sich zu entfernen?« »O nein.« »Also machte er keinen Versuch, fortzulaufen, bevor ihr kamt?« »Fortlaufen? Taubstumm und blind, wie er ist?« Duban lachte trocken. »Aber taubstumm und blind, wie er ist, soll er nach eurer Erklärung in der Lage gewesen sein, hier hereinzukommen und Eber umzubringen«, sagte Fidelma und schaute sich in dem Zimmer um. Bevor Duban antworten konnte, bat sie ihn: »Schildere uns den Hergang der Ereignisse aus deiner Sicht.« »Als Kommandeur der Leibgarde stand ich in jener Nacht Wache.« »Dies ist ein abgelegener rath. Es ist doch sicher nicht notwendig, ständig eine Wache aufzustellen, denn ihr genießt ja den natürlichen Schutz der Berge, die das Tal umgeben.« Duban nickte. »Aber vor ein paar Wochen fielen Viehdiebe ins Tal ein, Schwester. Eber gab mir die Anweisung, Wachen aufzustellen.« »Ach ja, natürlich. Und du standest Wache in der Nacht, als Eber ermordet wurde?« »Ehrlich gesagt, gegen Morgen war ich auf meinem Sitz am Eingang zur Festhalle eingeschlafen«, antwortete Duban kleinlaut. »Menma mußte mich wecken. Er sagte mir, er habe Eber tot aufgefunden und Moen habe ihn umgebracht. Ich ging sofort mit ihm hierher und sah die Leiche Ebers auf dem Bett liegen, genau so, wie es Menma beschrieben hatte. Überall war Blut, du kannst es noch sehen, wo es angetrocknet ist. Moen hockte da, wo ich es dir gezeigt habe. Er hatte das Messer noch in der Hand, es war voller Blut und seine Kleidung auch.« »Was tat er?« »Er wiegte sich vor und zurück und stöhnte vor sich hin.« »Das alles konntest du deutlich sehen, weil die Lampe noch brannte? Was weiter?« ermunterte ihn Fidelma. »Ich befahl Menma, seinen Pflichten nachzugehen, und wollte Critan holen. Er kam mir aber schon entgegen, weil er mich auf der Wache ablösen wollte. Wir brachten Moen in den Stall und banden ihn fest, und dann ging ich zu Cron, um ihr alles mitzuteilen.« »Ach ja, Cron. Warum hast du nicht Ebers Frau als erste benachrichtigt? Wäre das nicht angemessener gewesen?« »Cron ist Tanist, die gewählte Nachfolgerin. Nach Ebers Tod war sie nun die gewählte Fürstin von Ara-glin. Es war richtig, daß sie zuallererst benachrichtigt wurde.« Fidelma mußte im stillen Duban beipflichten. »Was dann?« »Als wir anfingen, Moen in Ketten zu legen, wehrte er sich und schrie. Das berichtete ich Cron, und sie wies mich an, Teafa zu holen. Also ging ich zu ihrer Wohnung.« »Und fandest sie tot auf?« » .« »Ich hörte, Teafa sei die einzige im rath von Araglin gewesen, die Moen beruhigen konnte, wenn >beruhi-gen< der richtige Ausdruck ist.« »Das stimmt. Sie hat sich schon um ihn gekümmert, als er noch ein Baby war.« »Sie war Ebers Schwester?« » .« »Also war Moen nicht ihr eigenes Kind?« Fidelma war die Verwandtschaftsbeziehung nicht klar. »Niemand weiß, wo das Kind herkam«, antwortete Duban mit Bestimmtheit. »Aber Teafas Kind war es nicht, denn dann hätte man ihr in den Wochen vor seiner Geburt die Schwangerschaft angesehen, und sie war nicht schwanger. Dies ist eine kleine Gemeinschaft. Moen ist ein Findelkind.« »In dieser kleinen Gemeinschaft muß es doch bekannt gewesen sein, wer ein Kind geboren hatte?« »Eben nicht. Moen stammt von niemandem aus diesem Tal. Soviel ist sicher.« »Kannst du mir mehr darüber sagen? Wie und warum kam Teafa dazu, das Kind aufzunehmen? Wer hat Moen gefunden?« Duban rieb sich die Nase. »Ich weiß nur, daß Teafa allein auf die Jagd ritt und ein paar Tage später mit dem Kind zurückkam. Sie ging einfach in die Berge und kam mit einem Neugeborenen wieder.« »Hat sie irgend jemandem erzählt, wie sie es gefunden hatte?« »Natürlich. Sie sagte, sie hätte es verlassen im Walde gefunden. Sie erklärte, sie werde es adoptieren. Bald danach verließ ich Araglin und kämpfte bis vor drei Jahren in den Kriegen der Könige von Cashel. Wie ich hörte, zeigte sich bald, daß das Kind behindert war. Doch Teafa weigerte sich, es abzugeben. Teafa heiratete nie und bekam auch keine Kinder. Sie war ein warmherziger Mensch und brauchte vielleicht ein Kind als Ersatz. Anscheinend brachten es Moen und Teafa mit der Zeit fertig, sich auf irgendeine seltsame Art zu verständigen. Wie, das weiß ich nicht.« »Wie lange warst du von Araglin fort?« »Fast siebzehn Jahre vergingen, bis ich zurückkehrte und in Ebers Dienste trat. Das war, wie gesagt, vor drei Jahren.« »Aha. Gibt es sonst jemanden hier im rath, der vielleicht mehr über Moen weiß?« Duban zuckte die Achseln. »Ich nehme an, Pater Gorman könnte mehr darüber wissen, und jetzt, nach dem Tod von Teafa, ist er sicher auch bereit, es preiszugeben. Aber Pater Gorman kommt erst in ein paar Tagen zurück.« »Was ist mit Ebers Witwe?« »Lady Cranat?« Duban zog ein säuerliches Gesicht. »Das weiß ich nicht. Sie heiratete Eber erst ungefähr ein Jahr nachdem Teafa Moen hergebracht hatte. Nach meiner Rückkehr merkte ich, daß Cranat und Teafa nicht so vertraut miteinander waren, wie man es von Schwester und Schwägerin erwarten könnte.« Eadulf beugte sich eifrig vor. »Meinst du damit, daß Cranat Teafa nicht mochte?« Duban schien gekränkt. »Ich weiß, ihr Angelsachsen seid stolz auf eure Unverblümtheit. Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt.« »Ja, das hast du«, bestätigte Fidelma rasch. »Du willst damit sagen, daß Cranat und Teafa nicht gut miteinander auskamen?« »Richtig«, erwiderte Duban. »Weißt du, wie lange das schon so ging?« »Ich habe gehört, sie gerieten aneinander, als Cron ungefähr dreizehn Jahre alt war. Es gab irgendeinen Streit zwischen ihnen, und danach sprachen sie kaum noch miteinander. Jedenfalls habe ich vor zwei oder drei Wochen eine heftige Auseinandersetzung zwischen ihnen erlebt.« »Worum ging es dabei?« »Es kommt mir eigentlich nicht zu, darüber etwas zu sagen.« Es war klar, daß Duban merkte, daß es auf Klatsch hinauslief. Fidelma machte sich seine Verlegenheit sofort zunutze. »Aber da du nun schon soviel gesagt hast, meine ich, solltest du uns das auch nicht verheimlichen.« »Ich weiß nicht, worüber sie sich stritten, aber Tea-fa war wütend und schrie Cranat an, und Cranat brach in Tränen aus.« »Dann mußt du doch etwas gehört haben. Du mußt doch eine Ahnung haben, wodurch der Streit entstand?« »Habe ich nicht. Ich erinnere mich, daß Moen erwähnt wurde und Eber auch. Teafa rief etwas von Scheidung.« »Verlangte sie, daß Cranat sich von ihrem Bruder scheiden lassen sollte?« »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Cranat lief davon zur Kapelle und suchte Trost bei Pater Gorman.« Fidelma stellte ihm keine weiteren Fragen, sondern sah sich im Schlafzimmer um und untersuchte es eingehend, ehe sie sich der Verbindungstür und dem Empfangszimmer zuwandte. »Für einen Taubstummen und Blinden muß Moen eine seltene Gabe besitzen, um sich so leicht im rath zu bewegen.« Eadulf trat stirnrunzelnd zu ihr. »Wie meinst du das, Fidelma?« fragte er. »Schau dir diese Zimmer an, Eadulf. Erst einmal mußte Moen herfinden. Dann mußte er eintreten, sich zu Ebers Zimmer tasten und hineingehen, das Messer an sich nehmen, sein Ziel finden und Eber töten, bevor der Fürst seine Anwesenheit bemerkte. Dazu gehört nicht nur eine Geschicklichkeit, die ich bei einem Menschen mit seinen Behinderungen nicht erwarte.« Duban hatte das gehört und nahm es übel. »Willst du die Tatsachen leugnen?« fragte er. Fidelma sah ihn an. »Ich will sie lediglich feststellen.« »Nun, die Tatsachen sind einfach. Moen wurde auf frischer Tat ertappt.« »Nicht ganz«, verbesserte ihn Fidelma. »Er wurde neben Ebers Leiche angetroffen. Er wurde nicht dabei gesehen, wie er ihn tatsächlich umbrachte.« Duban warf den Kopf hoch und stieß ein kurzes hartes Lachen aus. »Wahrhaftig, Schwester, ist das die Logik eines Brehon? Wenn ich ein Schaf mit aufgerissener Kehle finde und daneben einen Wolf mit blutiger Schnauze, ist es dann nicht logisch, den Wolf für die Tat verantwortlich zu machen?« »Es ist verständlich«, gab Fidelma zu. »Aber es ist kein zwingender Beweis dafür, daß es der Wolf getan hat.« Duban schüttelte ungläubig den Kopf. »Willst du behaupten ...?« »Ich will die Wahrheit herausfinden«, fuhr ihn Fidelma an. »Das ist meine einzige Aufgabe.« »Nun, wenn du die Wahrheit wissen willst: Es ist im rath allgemein bekannt, daß Moen sich in bestimmten Teilen der Siedlung ohne große Schwierigkeiten bewegen kann.« »Wie bringt er das fertig?« fragte Eadulf interessiert. »Ich nehme an, er verfügt über eine Art von Gedächtnis. Er scheint seinen Weg auch riechen zu können.« »Riechen?« fragte Eadulf ungläubig. »Ihr habt erlebt, wie ihm im Stall sein Geruchssinn verriet, daß Fremde da waren. Er hat einen Geruchssinn wie ein Tier entwickelt. Wenn man ihn in bestimmte Teile des rath bringt, kann er sich darin zurechtfinden. Das weiß jeder hier.« »Dann ist es also keine Überraschung, daß er seinen Weg hierher finden konnte?« »Überhaupt keine.« Eadulf sah Fidelma an und zuckte die Achseln. »Na, das scheint also kein Rätsel zu sein.« Fidelma gab keine Antwort. Sie war nicht überzeugt. »Wo ist das Messer, mit dem Moen Eber erstochen hat?« »Das habe ich noch.« »Hat man das Messer identifiziert?« »Identifiziert?« erkundigte sich Duban verblüfft. »Hat man festgestellt, wem das Messer gehört?« »Ich glaube, es ist eins von Ebers Jagdmessern«, erwiderte Duban. Er wies auf eine Wand, an der eine ganze Sammlung von Schwertern und Messern sowie ein Schild hingen. Eine Messerscheide war leer. »Ich sah, daß eins der Messer fehlte, und nahm an, daß Moen es sich gegriffen hatte.« Fidelma untersuchte die Stelle, auf die Duban gezeigt hatte. Dann wandte sie sich um und trat zur Haupttür. Dort stand sie einen Augenblick mit dem Rücken zur Tür und ging dann um mehrere Möbelstücke herum zu der Wand mit den Messern. Es war ein schwieriger und umständlicher Weg, weil Hindernisse dazwischen lagen. Schließlich langte sie nach der Scheide, drehte sich um und schritt um einen Tisch und eine Bank herum zur Schlafzimmertür. Sie blieb einen Moment stehen und dachte nach. »Das Messer möchte ich bald einmal sehen.« Duban nickte. »Gut. Und jetzt zeige uns, wo und wie Teafa gefunden wurde.« Kapitel 7 Duban führte sie aus Ebers Wohnung hinaus und hinter den Ställen entlang. Der Weg wand sich um mehrere Vorratsgebäude herum, die neben einem Darrofen zum Trocknen von Getreide standen. Sie überquerten einen Hof mit einem Brunnen und kamen zu einer kleinen, mit Weidenflechtwerk gedeckten Hütte. »Teafa hatte ihre eigene Hütte«, erklärte er ihnen unterwegs, »ein wenig abseits von der übrigen Familie des Fürsten.« »Sagtest du, daß sie nie geheiratet hat?« vergewisserte sich Eadulf. »Ja«, antwortete Duban. »Warum fragst du?« Eadulf lächelte wissend. »Es ist doch wohl ungewöhnlich, wenn die unverheiratete Schwester eines Fürsten außerhalb seines unmittelbaren Wohnbereichs lebt?« »Sie wohnte immerhin im rath des Fürsten«, erwiderte Duban, der offensichtlich nicht wußte, worauf Eadulf hinauswollte. Im Land der Angelsachsen galten Frauen als Besitz des männlichen Familienoberhauptes, bis sie heirateten, und erst dann war es ihnen gestattet, den Wohnsitz der Familie zu verlassen. Eadulf wurde plötzlich klar, daß das in den fünf Königreichen anders war. »Bruder Eadulf meint«, schaltete sich Fidelma ein, »daß Teafas Hütte klein ist und am Rande des rath liegt, während sie doch erwarten konnte, größere Behaglichkeit innerhalb des Wohnbereichs des Fürsten zu genießen.« Duban machte ein gleichgültiges Gesicht. »Es war ihr eigener Wunsch. Ich erinnere mich, daß sie sich dafür entschied, kurz nachdem sie Moen zu sich genommen hatte.« Teafas Hütte schien nur klein zu sein, doch als Fidelma eintrat, sah sie, daß sie in drei Zimmer unterteilt war. In einem großen Raum hatten Teafa und ihr Schützling offensichtlich gekocht und gegessen und ihn als allgemeinen Wohnraum benutzt. In den meisten Häusern dieser Größe nannte man das tech im-mdcallamae oder »Gesprächsraum«. Es war der übliche Sammelpunkt für die Familie und ihre Freunde. Zwei Türen führten zu Schlafräumen. Es war offenkundig, welcher Moen gehört hatte, denn er besaß kein Fenster, und das Licht, das durch die offene Tür fiel, enthüllte nur eine einfache Matratze auf dem Boden und keine Möbel. Fidelma wollte sich schon abwenden, als ihr Blick auf etwas hinter der Tür von Moens Schlafraum fiel. »Gibt es hier eine Kerze oder eine Lampe?« fragte sie. Duban holte Feuerstein und Zunder von einem Seitentisch und hatte bald eine hohe Talgkerze entzündet. Fidelma nahm die Kerze, ging in Moens Zimmer und untersuchte die Ecke hinter der Tür. Für ein ungeübtes Auge sah es wie Brennholz aus, was dort hoch aufgeschichtet lag, Bündel auf Bündel, mit Lederriemen zusammengebunden. »Komm mal her, Eadulf«, rief Fidelma. »Was hältst du davon?« Eadulf trat ein, gefolgt von Duban, der ihm über die Schulter schaute und nur Bündel von Stöcken erblickte. »Ein merkwürdiger Platz für Brennholz«, bemerkte Duban. Eadulf nahm ein Bündel in die Hand. Die Stöcke waren auf eine gleichmäßige Länge von etwa einem halben Meter geschnitten. Meist waren es Haselruten, doch gab es auch einige Eibenstöcke darunter. Eadulf untersuchte sie sorgfältig und öffnete ein Bündel, um sich die Stäbe genauer anzusehen. Schließlich wandte er sich mit einem wissenden Lächeln an Fidelma. »Solche prachtvollen Exemplare findet man nicht oft außerhalb der großen Bibliotheken.« Duban machte ein verblüfftes Gesicht. »Was meint er denn, Schwester?« Fidelma sah Eadulf so wohlwollend an wie eine Lehrerin einen klugen Schüler. »Er meint, daß diese Stücke Brennholz, wie du es nennst, in Wirklichkeit >Stäbe der Dichter< sind. So nennt man alte Bücher. Schau genau hin. Dann siehst du, daß auf ihnen etwas in der alten Ogham-Schrift eingeritzt ist.« Duban betrachtete sie interessiert. Er hatte sichtlich keine Ahnung von dieser alten Form der Schrift. »War Teafa denn eine Gelehrte?« fragte Eadulf. Der Krieger schüttelte verwundert den Kopf. »Das hat sie nie von sich behauptet, aber ich glaube, sie wußte in den Künsten und in der Dichtung gut Bescheid. Wahrscheinlich kannte sie auch die alte Schrift, deshalb überrascht es mich nicht, daß sie diese Stäbe hier hatte.« »Immerhin«, meinte Fidelma, »habe ich außerhalb der Abtei-Bibliotheken noch keine so schöne Sammlung gesehen.« Eadulf schnürte das Bündel sorgfältig wieder zu und legte es an seinen Platz, während Fidelma in den Hauptraum zurückging. Sie blickte in den zweiten Schlafraum. Teafas Zimmer war reicher und besser eingerichtet. Es zeugte von vergangenem Wohlstand, über den die Tochter und Schwester eines Fürsten zweifellos verfügte. Da Fidelma die Kerze nun nicht mehr brauchte, blies sie sie rasch aus. Sie wandte sich an Duban. »Als du Cron den Tod Ebers gemeldet hattest und sie dich zu Teafa geschickt hatte, um Moen zu beruhigen, bist du da direkt hierhergegangen?« »Ja. Ich kam an die Tür und fand sie ein Stück geöffnet.« »Geöffnet?« »Sie stand einen Spalt weit offen - genug, um mich spüren zu lassen, daß etwas nicht in Ordnung war.« »Warum? Eine leicht offenstehende Tür muß doch nichts Schlimmes bedeuten?« »Teafa nahm es sehr genau damit, Türen zu schließen.« »Um Moen drinnen zu halten?« vermutete Eadulf. »Eigentlich nicht. Moen durfte nach draußen, aber damit er die Grenzen seines Bereichs erkennen konnte, blieben die Türen immer geschlossen, damit er nicht unabsichtlich hindurchging.« »Ich verstehe. Sprich weiter. Die Tür stand einen Spalt weit offen.« »In der Hütte war es dunkel. Ich rief nach Teafa, bekam aber keine Antwort. Also stieß ich die Tür auf und blieb einen Moment auf der Schwelle stehen. Inzwischen wurde es ein wenig heller - es war die Zeit der Morgendämmerung. In dem schwachen Licht sah ich etwas am Boden liegen, was ich für ein Bündel Kleider hielt. Als ich genauer hinschaute, erkannte ich, daß es eine Leiche war. Die Leiche Tea-fas.« »Zeig mir, wo genau sie lag.« Duban wies auf eine Stelle vor dem Herd, dessen Asche nun grau und kalt war. Fidelma hatte den scharfen Geruch nach verbranntem Holz sofort bemerkt, als sie die Hütte betrat. »Ich sah mich um, fand eine Kerze und konnte sie anzünden. Es war übrigens dieselbe Kerze, die wir eben benutzten. Die Leiche war die Teafas. Ihre Kleider waren voller Blut. Sie hatte mehrere tiefe Stiche in der Brust, nahe dem Herzen.« Fidelma beugte sich zum Boden nieder und erkannte dunkle Flecke, die vom Blut herrührten. Zugleich bemerkte sie eine kleine verbrannte Stelle dicht daneben auf dem Boden und stellte fest, daß von ihr ein schärferer Geruch ausging als von der erkalteten Feuerstelle. Nahebei war ein anderer Fleck, kein Blutfleck. Sie legte einen Finger auf die noch feuchte Stelle und roch daran. Es war Öl. »Lag hier etwas?« fragte sie. »Eine zerbrochene Öllampe«, erinnerte sich Duban nach einigem Überlegen. »Die hat man wohl weggeräumt.« »Hattest du den Eindruck, daß Teafa sie in der Hand hielt, als sie niedergestochen wurde?« »Darüber habe ich nicht weiter nachgedacht. Aber jetzt, wo du es sagst, sieht es so aus, als habe sie die Lampe in der Hand gehabt und fallen lassen, als sie erstochen wurde. Dadurch entstand ein kleines Feuer auf dem Boden, daß sich Gott sei Dank nicht ausbreitete und von selbst erlosch.« Fidelma betrachtete nachdenklich die verbrannte Stelle. »Es hätte ausgereicht, die ganze Hütte niederzubrennen, wenn man es nicht gelöscht hätte. Hier ist noch unverbranntes Öl.« Sie hielt ihm den Finger mit dem beweiskräftigen Ölfleck an der Spitze hin. »Wodurch könnte es gelöscht worden sein?« »Nun, es war jedenfalls aus, als ich hier hereinkam«, meinte Duban achselzuckend. Fidelma wollte sich schon aufrichten, als sie einen nicht verbrannten Stock im Kamin entdeckte. Er hatte nichts Besonderes an sich außer ein paar Einkerbungen. Es war ein ungefähr drei Zoll langes Stück Haselrute. Sie nahm es aus der Asche und untersuchte es sorgfältig. »Was ist das?« wollte Eadulf wissen. »Ein Ogham-Stab, der fast völlig verbrannt ist.« Irgend etwas hatte dieses Stück Haselrute vor dem Verbrennen bewahrt, vielleicht die Art, wie es aus dem Feuer gefallen war. Einige Buchstaben waren erhalten, aber sie ergaben keinen Sinn. Zwischen den verbrannten Enden konnte sie »... er will ...« entziffern. Doch das war alles. Warum wollte Teafa diesen bestimmten Stab vernichten? Nachdenklich steckte Fidelma das Stück Haselrute in ihr marsupium, ihren Tragebeutel, und erhob sich. Sie warf einen abschließenden Blick durch die Hütte. Wie Ebers Wohnung war auch sie aufgeräumt. Nichts war in Unordnung hinterlassen worden. Um einen Raubmord handelte es sich offensichtlich nicht. »Duban, du hast angedeutet, daß Ebers Frau Teafa nicht sehr wohlgesonnen war. Hatte Teafa ein enges Verhältnis zu ihrem Bruder?« »Zu Eber?« Duban antwortete ausweichend. »Sie war seine Schwester, und wir leben hier in einer kleinen Gemeinschaft.« »Gab es keine Feindseligkeit, keine Reibungen, so wie mit Ebers Frau Cranat?« Duban breitete die Hände aus, als beuge er sich einem stärkeren Willen. »Es gab . ich kann es nicht gut erklären . eine Distanz zwischen Bruder und Schwester. Ich habe eine Schwester, die ich sehr mag. Sie ist verheiratet und hat Kinder, aber ich esse oft mit ihrer Familie und nehme ihre Kinder mit auf die Jagd. Teafa hatte nie eine enge Beziehung zu Eber. Es könnte gut sein, daß es wegen ihrer Adoption Moens zu einer Entfremdung zwischen ihnen kam, aber das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen.« »Ich glaube, es wird Zeit, daß ich mit dieser Lady Cranat spreche«, murmelte Fidelma. »Wie war das Verhältnis zwischen Teafa und Ebers Tochter Cron?« schaltete sich Eadulf ein. »Sie verkehrten höflich miteinander und wechselten keine schroffen Worte. Das war so ungefähr alles.« »Übrigens, wie wurde denn Moen allgemein in dieser Gemeinschaft behandelt?« wollte Fidelma wissen. »Die meisten Leute behandelten ihn mit Nachsicht und Mitleid. Sie kannten ihn, seit Teafa ihn in die Gemeinschaft gebracht hatte. Lady Teafa wurde von den Leuten hochgeachtet. Eber fand auch Zeit für den Jungen. Cranat aber nicht, sie duldete ihn nicht in ihrer Nähe. Auch Pater Gorman verbot dem Jungen, seine Kapelle zu betreten. Cron schien er gleichgültig zu sein.« »In einer angelsächsischen Gemeinschaft hätte man ihn gleich nach der Geburt getötet.« Eadulf konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen. »Eine feine christliche Einstellung, nicht wahr?« Eadulf errötete, und Fidelma bereute, was sie gesagt hatte, denn sie hegte keinen Zweifel, daß Eadulf selbst diese Einstellung fremd war. »Menschen mit körperlichen Behinderungen können nicht in ein Amt gewählt werden, können nicht König oder Fürst werden, doch sie sind Mitglieder der Gemeinschaft«, erklärte sie Eadulf geduldig. »Sie genießen alle anderen Rechte, nur ihre Verantwortung vor dem Gesetz ist entsprechend ihrer Behinderung eingeschränkt. Ein Epileptiker zum Beispiel gilt als voll verantwortlich, wenn er geistig gesund ist. Aber ein Taubstummer kann nicht zur Verantwortung gezogen werden, sondern der Kläger muß sich an seinen gesetzlichen Vormund wenden.« »Folglich nahm Moen also keine untergeordnete Stellung ein?« wunderte sich Eadulf. »Keineswegs«, erwiderte Fidelma. »Ich sagte dir schon, daß in diesem Fall Teafa hätte gerichtlich dagegen vorgehen können, denn eine schwere Geldbuße droht jedem, der einen Behinderten oder Kranken verspottet oder herabsetzt, ob Epileptiker, Leprakranker, Lahmer, Blinder oder Taubstummer.« »Anscheinend habe ich etwas über die Gesetze der fünf Königreiche dazugelernt«, meinte Eadulf zerknirscht. »Das sind aber nicht die Gesetze, die wir laut unserem Pater Gorman befolgen sollten«, bemerkte Du-ban unbeeindruckt. Fidelma wandte sich ihm interessiert zu. »Kannst du mir das bitte näher erklären?« »Pater Gorman predigt in seiner Kirche nach den Richtlinien aus Rom. Nach den Bußregeln, wie er es nennt.« Fidelma wußte, daß viele der neuen Gedanken, die aus Rom kamen, in die fünf Königreiche eindrangen und einige Rom anhängende Kleriker sogar versuchten, diese neuen Vorstellungen in die Gesetze einzubringen. Ein neues System römischen kirchlichen Rechts entstand neben den ursprünglichen Zivil- und Strafgesetzen. Sie erinnerte sich an die Bemerkung des Abts Ca-thal von Lios Mhor, daß Pater Gorman ein energischer Verfechter der römischen Bräuche sei und sogar eine weitere Kapelle in Ard Mor mit Geld gebaut hatte, das die Anhänger der prorömischen Richtung gesammelt hatten. Der Streit unter den Geistlichen der fünf Königreiche wurde immer erbitterter. Das Konzil von Whitby im Königreich Oswys vor zwei Jahren, bei dem sie Eadulf zum ersten Mal begegnet war, hatte nur dazu geführt, die Meinungsunterschiede zu vertiefen. Oswy hatte das Konzil aufgefordert, die Unterschiede zwischen den Vorstellungen der römischen Kirche und denen der Kirchen der fünf Königreiche zu erörtern. Trotz aller guten Argumente hatte Oswy zugunsten von Rom entschieden, was jenen Geistlichen in den fünf Königreichen Auftrieb gab, die die Autorität Roms auch dort aufrichten wollten. Es war bekannt, daß Ultan, der Erzbischof von Ard Macha und Primus der fünf Königreiche, Rom zuneigte. Doch ohnehin akzeptierte nicht jeder Ultans Autorität. Es gab die verschiedensten Gruppen, von denen jede ihre eigene Auslegung des neuen Glaubens verfocht. »Willst du damit sagen, daß Pater Gorman es nicht billigte, wie Teafa sich um Moen kümmerte?« »Ja.« »Du vermutetest, daß Teafa sich irgendwie mit Moen verständigen konnte. Gelang das sonst noch jemandem?« Duban schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, hatte sonst niemand Kontakt mit ihm, nur Teafa.« »Und wie brachte Teafa das fertig?« »Das kann ich wirklich nicht sagen.« »Es ist eine kleine Gemeinschaft hier. Irgend jemand muß doch wissen, wie sie das machte?« Duban zuckte die Schultern. »Heißt das, daß Moen gar nicht weiß, was er verbrochen haben soll oder weshalb er gefesselt ist?« fragte Fidelma entsetzt. Duban starrte sie ein paar Sekunden an. »Natürlich muß ihm das klar sein. Er hatte doch gerade Teafa und Eber umgebracht. Was sollte er sonst denken, weshalb er festgenommen und angekettet wurde?« »Falls er Teafa und Eber tatsächlich getötet hat«, stimmte Fidelma zu. »Aber falls er es nicht tat? Dann wüßte er nicht, warum er eingesperrt ist und von wem. Wenn du dich nicht mit ihm verständigen kannst, wie kann er dann wissen, was er getan haben soll? Hat er versucht, sich mit dir zu verständigen?« Duban vermochte ihre Frage nicht ernst zu nehmen. »Vermutlich hat er es versucht, auf seine tierhafte Art.« »Wie sieht das aus?« »Er bemüht sich, unsere Hände zu erfassen, und macht Bewegungen mit seinen Händen, als wolle er Aufmerksamkeit erregen. Aber er weiß doch, daß nur Teafa ihn verstehen kann.« »Genau«, sagte Fidelma grimmig. »Bist du nicht auf den Gedanken gekommen, daß Moen annehmen könnte, Teafa sei noch am Leben, und daß er versucht, sie holen zu lassen, damit er sich verständlich machen kann?« Duban schüttelte den Kopf. »Er hat Teafa umgebracht, was du auch dagegen sagst, Schwester.« »Duban, du bist ein Starrkopf.« »Und du bist anscheinend ebenso stur.« »Warum probieren wir nicht aus, ob wir uns mit dem Geschöpf verständigen können?« brachte Eadulf als Kompromiß vor. »Ein guter Vorschlag, Eadulf«, stimmte ihm Fidelma bei und ging ihnen voran. Moen war immer noch im Stall angekettet, hatte sich aber sehr verändert. Eine Box war gesäubert worden. In einer Ecke lag ein Strohsack, und daneben standen ein Krug Wasser und ein Nachtstuhl. Moen saß im Schneidersitz auf dem Strohsack, war allerdings noch an einem Knöchel angekettet. Fidelma sah sofort, daß ihre Anweisungen befolgt worden waren. Man hatte ihn gewaschen, ihm Haar und Bart gestutzt und ihn gekämmt. Nur seine leer starrenden weißen Augen und sein schief gehaltener Kopf ließen erkennen, daß er nicht wie andere Menschen war. Eigentlich, stellte Fidelma traurig fest, sah der junge Mann recht gut aus. Als sie eintraten, vibrierten seine Nüstern leicht. Er wandte den Kopf in ihre Richtung, und man konnte kaum glauben, daß er sie nicht sehen konnte. »Na«, fragte Duban spöttisch, »wie willst du dich nun mit ihm verständigen, Schwester?« Fidelma ignorierte ihn. Sie winkte Eadulf, zurückzubleiben, trat auf den jungen Mann zu und blieb vor ihm stehen. Er fuhr unruhig zurück und hob wieder die Hand, wie um seinen Kopf zu schützen. Fidelma wandte sich um und sah Duban finster an. »Daran erkenne ich, wie man den Unglücklichen behandelt hat.« Duban wurde rot. »Ich aber nicht!« erwiderte er. »Und bedenke, daß dieses Geschöpf getötet hat - zweimal!« »Das ist immer noch kein Grund, ihn zu schlagen. Würdest du ein stummes Tier schlagen?« Sie wandte sich wieder Moen zu, ergriff dessen erhobene Hand und schob sie sanft zur Seite. Die Wirkung war faszinierend. Das Geschöpf machte eine eifrige Miene, seine Nüstern blähten sich, und es schien Fidelmas Geruch aufzunehmen. Fidelma setzte sich vorsichtig neben Moen. Duban wollte vortreten, die Hand am Schwertgriff. »Das darf ich nicht zulassen ...«, protestierte er. Eadulf packte Duban und hielt ihn zurück. Duban wunderte sich, wie fest sein Griff war. »Warte«, sagte Eadulf leise zu ihm. Moen streckte die Hand aus und berührte forschend Fidelmas Gesicht mit den Fingerspitzen. Fidelma blieb still sitzen und ließ Moen ihre Züge betasten. Dann hob sie ihr Kruzifix an und legte es ihm in die Hand. Plötzlich lächelte er freudig und nickte. »Das versteht er«, erklärte sie ihnen. »Er begreift, daß ich eine Nonne bin.« Duban schnaubte verächtlich. »Jedes Tier reagiert auf Freundlichkeit.« Moen hatte die Hand ausgestreckt und Fidelmas Hände ergriffen. »Was macht er?« fragte Eadulf. »Er klopft mir auf die Hand und zeichnet Symbole ...«, murmelte Fidelma nachdenklich. »Merkwürdig, ich glaube, sie bedeuten etwas. Aber was?« Mit einem kurzen resignierten Seufzer nahm sie Moens Hand und schrieb einige Worte in großen lateinischen Buchstaben darauf. »Ich bin Fidelma«, sprach sie dazu. Moen runzelte die Stirn bei ihrer Berührung. Er knurrte, schüttelte den Kopf, ergriff wieder ihre Hand und fuhr fort mit seinen seltsamen klopfenden und streichenden Bewegungen. »Das hat offensichtlich einen Sinn«, meinte Fidelma enttäuscht. »Das muß die Art sein, in der sich Teafa mit ihm verständigt hat. Aber was heißt es?« »Vielleicht ist es ein Code, den nur Teafa und Moen kannten«, vermutete Eadulf. »Das könnte sein.« Fidelma unterbrach die raschen Bewegungen von Moens Fingern auf ihrer Hand. Moen schien zu begreifen, daß sie seine Verständigungsweise nicht erfaßte, denn er ließ die Hände in den Schoß sinken, und sein Gesicht verzog sich zu einer Elendsmiene. Er stieß einen langen, tiefen Seufzer der Verzweiflung aus. Fidelma wurde plötzlich von Mitleid mit ihm überwältigt, streckte die Hand aus und berührte seine Wange. Sie war feucht. Sie merkte, daß ihm Tränen herabliefen. »Ich wünschte, ich könnte dir sagen, wie gut ich deine Enttäuschung verstehe, Moen«, flüsterte sie. »Ich wünschte, ich könnte mit dir sprechen, damit ich erfahre, was hier geschehen ist.« Sie nahm seine Hand und drückte sie. Moen schien den Kopf zu neigen, als habe ihn ihre Rührung erreicht. Fidelma stand vorsichtig auf und ging zu Eadulf und Duban zurück. Der Krieger schaute mit nachdenklicher Verwunderung auf die ruhig dasitzende Gestalt des Unglücklichen. »Na, ich habe erlebt, daß Teafa ihn beruhigt hat, aber noch nie jemand anders.« Fidelma schritt von der Box fort, gefolgt von Ea-dulf und Duban. »Vielleicht liegt das daran, daß niemand anders ihn als ein menschliches Wesen behandelt«, meinte sie. An der Tür des Stalles begegneten sie Critan. Er grinste sie an. »Jetzt könnte man ihn sogar im Palast von Cashel vorzeigen, was?« meinte er und wies auf Moen. Fidelma sah den jungen Krieger mit Mißfallen an. Sie würdigte ihn keiner Antwort. Verächtlich fügte Critan hinzu: »Na, wenigstens sieht die Kreatur nett und sauber aus, wenn sie gehängt wird.« »Gehängt? Wer sagt denn, selbst wenn er schuldig ist, daß seine Strafe auf Hängen lautet?« fragte Fidelma voller Zorn. »Pater Gorman natürlich.« Der junge Mann blieb ungerührt. »Er sagt, wir sollten für ein Leben ein anderes nehmen.« Fidelma schaute ihn grimmig an. »In der Tat, wie es Plautus in seinen Asinaria sagt: lupus est homo homini!« Critan verzog das Gesicht. »Latein oder Griechisch hab ich nicht gelernt.« »Auch wenn man deine Philosophie der bloßen Rache akzeptiert: Bist du so sicher, daß es Moen ist, der sein Leben verwirkt hat?« Einen Moment schien es, als habe Critan sie nicht ganz verstanden, doch dann lächelte er. »Ich weiß, daß Moen der Mörder ist, daran gibt es keinen Zweifel.« »Keinen Zweifel? Wie willst du das so genau wissen?« »Weil ich ihn gesehen habe.« »Willst du damit sagen, du hast gesehen, wie er Eber getötet hat?« forschte Eadulf. Critan grinste bedeutungsvoll. »Nicht direkt gesehen«, gestand er und legte den Finger an die Nase, »aber so gut wie.« »Was soll das denn heißen?« fuhr ihn Fidelma an. »Du kannst nur etwas behaupten, wenn du es tatsächlich gesehen hast.« Critan, der jetzt ihre volle Aufmerksamkeit genoß, gab erneut an. »Ich habe gesehen, wie Moen in Ebers Wohnung ging.« Fidelma spürte, wie sich ihre Augen vor Überraschung leicht weiteten. Weder Menma noch Duban hatten erwähnt, daß Critan sich in der Nähe von Ebers Wohnung aufgehalten hatte, bevor die Leiche entdeckt wurde. »Das mußt du uns noch etwas näher erklären«, forderte sie ihn auf. »Wann hast du gesehen, daß Moen Ebers Wohnung betrat?« »Es war an dem Morgen, als Menma Ebers Leiche entdeckte. Ungefähr eine halbe Stunde, bevor ich kam, um Duban auf der Wache abzulösen.« Fidelma warf Duban einen raschen fragenden Blick zu. Der ältere Krieger war sichtlich verwirrt. Offenbar hörte er die Geschichte zum erstenmal. »Warum warst du schon so früh auf?« erkundigte sich Fidelma. Der junge Mann schien zu zögern, deshalb fuhr sie fort: »Das mußt du uns schon erklären, wenn du als glaubwürdiger Zeuge gelten willst.« »Wenn du es unbedingt wissen willst«, Critan lief rot an, und sein Ton wurde entschuldigend, »ich hatte die Nacht in einem gewissen Haus verbracht ...« »Einem gewissen Haus?« Duban lachte plötzlich laut los. »Ich wette, er meint Clidnas Bordell. Es steht ein paar Meilen von hier am Fluß.« Critans verlegenes Gesicht bestätigte das. »Ich mußte vor Sonnenaufgang zurück im rath sein und hatte gerade den Eingang der Festhalle erreicht. Ich sah Duban drinnen auf der Bank ausgestreckt liegen. Er schlief fest.« Dubans Gesicht rötete sich, aber er schwieg. »Dann sah ich, wie die Kreatur im Schatten entlangschlich. Moen wußte natürlich nicht, daß ich da war.« »War Moen allein?« Critan verzog das Gesicht. »Ja. Jeder weiß hier, daß er sich frei bewegen kann, wenn er auch blind und taubstumm ist. Er hat anscheinend einen Instinkt dafür, wie er von einem Haus zum anderen gelangt.« »Ich verstehe. Er war also allein?« »Das war er«, bekräftigte der junge Mann. »Und du sahst ihn in Ebers Haus hineingehen?« »Ja.« »Wie?« Critan blinzelte. »Wie?« wiederholte er die Frage, als habe er sie nicht verstanden. »Du sagst, du standest am Eingang der Festhalle. Du mußtest also acht bis zehn Schritte gehen, um Ebers Tür im Hellen zu sehen, geschweige denn in der Dunkelheit.« »Ach so. Als ich ihn da entlangschleichen sah, fragte ich mich, was er wohl vorhatte. Deshalb wartete ich, bis er an mir vorbei war, und ging ihm nach.« »Und du sahst, wie er Ebers Wohnung betrat? Wie tat er das?« »Durch die Tür.« Der Bursche war naiv. »Ich meine, tat er es heimlich oder klopfte er an oder versuchte er sich auf andere Weise bemerkbar zu machen? Wie?« »Ach, natürlich heimlich. Es war noch dunkel.« »Und in der Dunkelheit sahst du, wie Moen eintrat. Du hast gute Augen. Was tatest du dann?« »Ich wollte zur Herberge der Krieger und mich waschen, bevor ich Duban ablöste«, grinste Critan. »Also ging ich weiter. Ich wollte in nichts verwickelt werden, deshalb sagte ich auch nichts, als Teafa .« Er brach plötzlich ab. Sein Blick wurde unsicher. »Als Teafa ...«, hakte Fidelma nach. »Als Teafa was?« »Ich war auf dem Weg an der Festhalle und den Ställen vorbei zur Herberge der Krieger, die gleich neben der Mühle steht. Teafas Hütte ist in der Nähe. Als ich vorbeikam, trat sie mit einer Lampe in der Hand heraus. Sie suchte Moen. Erst dachte ich, sie suchte Brennholz, denn sie hatte sich gebückt und einen Stock vor ihrer Tür aufgehoben. Dann erblickte sie mich und fragte mich, ob ich Moen gesehen hätte.« »Hast du ihr gesagt, wo sie ihn finden könnte?« »Ich doch nicht. Ich wollte mit diesem Moen nichts zu tun haben. Ich sagte ihr, ich hätte ihn nicht gesehen, und ging weiter. Ich wusch mich, zog mich um und ging zu Duban. Er erzählte mir, was geschehen war.« Critan lächelte triumphierend. »Da hast du’s. Es ist klar, daß Moen Eber und Teafa umgebracht hat.« Eadulf nickte gedankenvoll. »Es scheint logisch«, gab er zu und blickte Fidelma an. »Wir wollen sichergehen, daß ich das richtig verstanden habe«, sagte sie. »Du hast gesehen, wie Moen in Ebers Wohnung ging. Sie war dunkel. Es war vor Sonnenaufgang. Wie konntest du sehen, daß Moen wirklich eintrat?« »Leicht zu erklären. Meine Augen waren an die Dunkelheit gewöhnt. Ich war gerade im Dunkeln von Clidnas Haus zum rath geritten.« »Dann liefst du weiter und trafst Teafa an der Tür ihrer Hütte mit einer Lampe, wie sie Moen suchte? Als du zu Duban gingst, vielleicht eine halbe Stunde später, erfuhrst du, daß Menma Eber und Moen ge-funden hatte. Warum hast du ihm nicht erzählt, was du gesehen hattest?« »Das war nicht nötig. Es gab andere Zeugen.« »Wann hast du erfahren, daß auch Teafa getötet wurde?« Critan gab sich sicher. »Nachdem Duban sie suchte, damit sie Moen beruhigen sollte.« »Danke, Critan, du warst eine große Hilfe.« Fidelma schritt gemächlich auf das Gästehaus zu, und Eadulf eilte ihr nach. »Brauchst du mich heute noch mal, Schwester?« rief Duban ihnen nach. Fidelma drehte sich zerstreut um. »Ich möchte noch das Jagdmesser sehen, mit dem Moen die Tat begangen haben soll.« »Ich bringe es gleich«, antwortete der Krieger. Eadulf wartete geduldig, daß Fidelma das eben Gehörte kommentierte, doch sie schwieg beharrlich. Also sagte er: »Ich glaube, die Beweislage ist ziemlich klar. Augenzeugen haben Moen mit dem Messer ertappt. Da bleibt wohl nicht mehr viel zu untersuchen. So leid einem Moen auch tut, er ist der Mörder.« »Ganz im Gegenteil, Eadulf. Ich meine, die Aussagen unterstützen die Annahme, daß Moen nicht die Morde begangen hat, die man ihm zur Last legt«, widersprach ihm Fidelma. Kapitel 8 Nachdem Duban mit dem Ersuchen um eine Unterredung zu Ebers Witwe Cranat geschickt worden war, brachte er den Bescheid, daß sie sich in einer halben Stunde in der Festhalle mit Fidelma und Eadulf treffen würde. Cron war schon da, als sie eintraten, und saß in ihrem Amtssessel. Vor ihr, unmittelbar unterhalb des Podiums, standen dieselben Stühle wie zuvor. Fidelma bemerkte, daß ein weiterer Stuhl neben Crons Amtssessel aufgestellt worden war. Fidelma und Eadulf hatten kaum ihre Plätze eingenommen, als eine Frau in kerzengrader Haltung und mit einer starren, unnachgiebigen Miene eintrat. Sie blickte nicht in ihre Richtung und gab kein Zeichen der Begrüßung von sich, sondern ging zu dem leeren Stuhl und setzte sich neben ihre Tochter. Für eine Frau nahe fünfzig war Cranat noch schön zu nennen. Sie hatte sich ihre Figur bewahrt. Es lag etwas Aristokratisches in ihrem ovalen Gesicht, ihrem hellen, zarten Teint. Ihr goldenes Haar zeigte keine Spur von Grau und fiel ihr lang über die Schultern. Ihre Hände waren wohlgeformt und schlank. Fidelma sah, daß die Nägel sorgfältig geschnitten und poliert und künstlich rot gefärbt waren. Beerensaft half dem Schwarz ihrer Brauen nach, und auf ihren Wangen lag ein Hauch von ruam, dem rötlichen Saft der Zweige und Beeren des Holunders. Mit Parfüm hatte Cranat auch nicht gespart. Ein schwerer Rosenduft umgab sie. Cranat hatte eine königliche Haltung eingenommen. Sie trug ein Kleid aus roter Seide, mit Gold besetzt, und dazu Armbänder aus Silber und heller Bronze und ein goldenes Halsband. Cranat besaß offensichtlich Reichtümer, und ihre Haltung bewies, daß sie von höherem Rang war und nicht einfach nur die Frau des Fürsten von Araglin. Fidelma wartete ein paar Augenblicke, ob Cranat sie wenigstens mit einem Blick begrüßen würde. Schließlich war es Cron, die Tanist, die das Schweigen brach. Sie sprach, ohne sich von ihrem Sessel zu erheben. »Mutter, dies ist Fidelma, die Anwältin, die gekommen ist, um das Urteil über Moen zu sprechen.« Erst jetzt hob Cranat den Kopf, und Fidelma blickte in dieselben kalten blauen Augen wie die der Tochter Cranats, Cron. »Meine Mutter«, fuhr Cron fort, »Cranat von den Deisi.« Fidelma verzog keine Miene. Diese Vorstellung erklärte die Haltung Cranats. Der Legende nach war während des Großkönigtums von Cormac mac Airt die Sippe der Deisi aus ihrem angestammten Land um Tara herum verbannt worden. Einige von ihnen waren ins Land der Briten geflohen, andere hatten sich im Königreich Muman angesiedelt und sich in zwei Sippen geteilt, die nördlichen und die südlichen Deisi. Wenn Cron ihre Mutter als »von den Deisi« vorstellte, bedeutete das, daß Cranat die Tochter eines Fürsten ihres Stammes war. Doch selbst das entschuldigte nicht die Art, wie sie es unterlassen hatte, Fidelma zu begrüßen. Ärger rötete Fidelmas Gesicht. Einmal hatte sie diese Kränkung ihres Ranges und ihrer Stellung durchgehen lassen. Ein zweites Mal durfte sie das nicht tun, wenn sie diese Untersuchung in der Hand behalten wollte. Anstatt sich zu setzen, trat sie ruhig auf das erhöhte Podium, also auf die gleiche Stufe mit Cron und Cranat. »Eadulf, stelle einen Stuhl für mich hierher«, befahl sie kühl. Die Entrüstung auf den Gesichtern Cranats und ihrer Tochter bewies, daß sie es nicht gewohnt waren, daß jemand ihre Autorität anzweifelte. Eadulf unterdrückte ein belustigtes Lächeln, denn er wußte, wie Fidelma die Etikette durchzusetzen verstand, wenn sie nicht beachtet wurde. Rasch nahm er einen Stuhl und stellte ihn auf den Platz, auf den Fidelma deutete. Er wußte, wie wenig sich Fidelma normalerweise aus Rechten und Privilegien machte. Nur wenn andere Leute die Etikette benutzten, um zu Unrecht Autorität zu beanspruchen, wies Fidelma sie streng zurecht. »Schwester, du vergißt dich!« Es war der erste Satz, den Cranat sprach, und zwar in entrüstetem Tonfall. Fidelma hatte sich gesetzt und betrachtete die Witwe des Fürsten mit ausdrucksloser Miene. »Was habe ich deiner Meinung nach vergessen, Cranat von Araglin?« Ihre sanfte Betonung des Titels hatte ihre Bedeutung. Cranat schluckte hörbar und konnte nicht antworten. »Meine Mutter ist ...«, setzte Cron an, brach aber ab, als Fidelma sich ihr zuwandte. »Ach ...« Sie erkannte plötzlich, auf welchen Bruch der Etikette Fidelma sie aufmerksam gemacht hatte. Rasch wandte sie sich an ihre Mutter. »Ich habe vergessen, dir zu sagen, daß Schwester Fidelma nicht nur Anwältin ist, sondern auch die Schwester von Colgü von Cashel.« Bevor Cranat das verdauen konnte, beugte sich Fidelma vor. Sie sprach höflich, doch mit fester Stimme. »Lassen wir mal meine Herkunft und die Königswürde meines Bruders beiseite«, begann sie und hielt kurz inne, denn damit hatte sie bereits Cranats königliche Ansprüche erledigt, »so besitze ich den Rang eines anruth und darf in Anwesenheit des Großkönigs der fünf Königreiche sitzen und auf gleicher Ebene mit ihm sprechen.« Cranats Mund wurde zu einem schmalen Strich. Ihre eiskalten Augen richteten sich auf einen anderen Punkt im Raum. »Nun ...«, Fidelma lehnte sich zurück und lächelte fröhlich. Ihr Ton war angeregt. »Nun wollen wir diese langweiligen Fragen der Sitten und Gebräuche vergessen, denn wir haben eine wichtige Arbeit vor uns.« Auch diesmal gab es keinen Zweifel daran, daß Fidelma Cranat und Cron wegen ihres hochfahrenden Verhaltens tadelte, und sie wußten es auch. Sie schwiegen, denn darauf gab es keine vernünftige Antwort. »Ich muß dir ein paar Fragen stellen, Cranat.« Die steif dasitzende Frau schnaubte. Sie brachte es nicht über sich, Fidelma anzuschauen. »Das wirst du dann wohl auch tun«, antwortete sie humorlos. »Wie ich erfahren habe, warst du es, die einen Boten zu meinem Bruder nach Cashel schickte mit der Anforderung, einen Brehon hierher zu entsenden. Ich habe gehört, du hättest das ohne Wissen und Zustimmung deiner Tochter getan, die hier Tanist ist. Warum das?« »Meine Tochter ist noch jung«, sagte Cranat. »Sie hat keine Erfahrung in Rechtsprechung und Politik. Ich bin überzeugt, daß diese Angelegenheit angemessen geregelt werden muß, damit kein Makel an der Familie von Araglin haften bleibt.« »Warum sollte das geschehen?« »Die Art des Geschöpfes, das die Verbrechen begangen hat, und die Tatsache, daß er der Adoptivsohn von Lady Teafa ist, könnten Leute veranlassen, das Haus Araglin zu verleumden.« Fidelma hielt das für eine plausible Erklärung. »Kehren wir nun zu dem Morgen vor sechs Tagen zurück, als du vom Tode deines Gatten Eber erfuhrst.« »Ich habe schon erklärt, was geschah«, warf Cron schnell ein. Fidelma schnalzte ärgerlich mit der Zunge. »Du hast mir die Ereignisse aus deiner Sicht geschildert. Jetzt frage ich deine Mutter.« »Da gibt es nicht viel zu sagen«, meinte Cranat. »Ich wurde von meiner Tochter geweckt.« »Zu welcher Zeit?« »Gerade als die Sonne aufging, glaube ich.« »Was geschah dann?« »Sie sagte mir, daß Eber ermordet worden sei und daß Moen die furchtbare Tat begangen habe. Ich kleidete mich an und kam hierher in die Festhalle zu ihr. Dann brachte Duban die Nachricht, daß auch Teafa erstochen aufgefunden worden war.« »Gingst du zu Ebers Leiche?« Cranat schüttelte den Kopf. »Du gingst nicht hin, um deinem toten Gatten die letzte Ehre zu erweisen?« fragte Fidelma überrascht. »Meine Mutter war zu tief erschüttert«, wandte Cron entschuldigend ein. Fidelma blickte weiter in die kalten blauen Augen Cranats. »Du warst zu tief erschüttert?« »Ich war zu tief erschüttert«, wiederholte Cranat. Fidelma wußte instinktiv, daß Cranat als billige Entschuldigung benutzte, was ihre Tochter ihr vorgegeben hatte. »Sag mir, warum du nicht das Schlafzimmer mit deinem Gatten teiltest.« Cron fuhr empört auf. »Wie kannst du es wagen, solch eine unverschämte Frage ...«, setzte sie an. Fidelma sah Cron mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich wage es«, erwiderte sie unbeeindruckt, »weil ich eine Anwältin bei Gericht bin, und keine Frage, die darauf abzielt, die Wahrheit ans Licht zu bringen, ist unverschämt. Ich meine, Cron von Araglin, du hast noch viel zu lernen von der Weisheit und den Pflichten eines Fürsten. Deine Mutter tat recht daran, einen Brehon aus Cashel kommen zu lassen.« Cron schluckte und lief rot an. Bevor ihr eine passende Antwort einfiel, hatte sich Fidelma wieder an Cranat gewandt. »Nun, Lady?« fragte sie scharf. Cranats eisiger Blick bot ihr einen Moment Trotz, doch Fidelmas feurige grüne Augen nahmen die Herausforderung an und beugten sich nicht. Schließlich sanken Cranats Schultern resigniert herab. »Schon seit vielen Jahren teilte ich nicht mehr das Bett meines Mannes«, antwortete sie leise. »Warum?« Cranats Hände bewegten sich unruhig auf ihrem Schoß. »Wir hatten uns auseinandergelebt in ... in dieser Hinsicht.« »Und das hat dich nicht gestört?« »Nein.« »Und Eber vermutlich auch nicht?« »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Du kennst die Ehegesetze so gut wie ich. Wenn es sexuelle Hindernisse zwischen euch gab, konnte jeder von euch die Scheidung beantragen.« Cranats Gesicht rötete sich. Cron blickte auf Eadulf, der unbewegt dasaß. »Muß der Angelsachse dabei sein und das alles mit anhören?« fragte sie. Eadulf war ein wenig verlegen und wollte aufstehen. Fidelma winkte ihm, sitzen zu bleiben. »Er ist hier, um unsere Rechtsverfahren kennenzulernen. Vor dem Gesetz gibt es nichts, dessen man sich zu schämen hätte.« »Wir hatten uns gütlich geeinigt«, fuhr Cranat fort, die begriff, daß sie und ihre Tochter einem stärkeren Willen gegenüberstanden als dem eigenen. »Es gab keinen Anlaß für eine Scheidung oder Trennung.« »Nein? Wenn einer von euch nicht mehr zum Verkehr fähig war, konntet ihr leicht eine legale Scheidung erwirken. Auch die Probleme der Unfruchtbarkeit oder Impotenz sind im Gesetz geregelt.« »Meine Mutter kennt das Gesetz«, unterbrach sie Cron empört. »Können wir es nicht dabei belassen, daß mein Vater und meine Mutter es einfach vorzogen, getrennt zu schlafen?« »Einverstanden«, stimmte Fidelma zu, »obgleich es leichter zu verstehen wäre, wenn ich einen Grund dafür erführe.« »Der Grund war, daß wir lieber allein schliefen«, erklärte Cranat unbeholfen. »In allem anderen bliebt ihr Partner?« »Ja.« »Und dein Gatte unternahm keinen Versuch, sich eine Frau von geringerem Status, eine Konkubine, zuzulegen?« »Das ist verboten«, fuhr Cron dazwischen. »Verboten?« Fidelma war überrascht. »Unsere Gesetze sagen ganz deutlich, daß nach dem Cdin Ldnamna Polygynie noch zulässig ist. Ein Mann kann eine Hauptfrau haben und eine Konkubine, die nach dem Gesetz den halben Status und die halben Ansprüche der Hauptfrau besitzt.« »Wie kannst du so etwas billigen?« fragte Cron. »Du bist doch eine Glaubensschwester.« Fidelma sah sie gelassen an. »Wer sagt denn, daß ich das billige? Ich stelle nur fest, wie die Gesetzeslage in den fünf Königreichen heute ist. Ich bin eine Anwältin dieses Gesetzes. Es überrascht mich, daß es hier in dieser ländlichen Gemeinschaft auf soviel Widerstand stößt. Im allgemeinen hängt man in ländlichen Gegenden viel stärker den alten Gesetzen und Gebräuchen des Volkes an.« »Pater Gorman sagt, daß es eine Sünde ist, mehr als eine Frau zu haben.« »Ach ja, Pater Gorman. Wieder Pater Gorman. Anscheinend übt der gute Pater einen starken Einfluß auf diese Gemeinschaft aus. Es stimmt, daß viele Anhänger des neuen Glaubens die Polygynie ablehnen, doch bisher ohne großen Erfolg. Tatsächlich findet der scriptor des Gesetzestextes, der Bretha Crolige, sogar eine Begründung für die Polygynie im Alten Testament. Es heißt, wenn das auserwählte Volk Gottes in Mehrehe lebte, wie kommen wir Nichtjuden dann dazu, dagegen zu sprechen?« Cranat mißbilligte diese Auffassung ganz offensichtlich. »Über deine Theologie kannst du dich mit Pater Gorman streiten, wenn er zurück ist. Eber brauchte jedenfalls keine anderen Frauen oder Konkubinen. Wir leben hier in einer friedlichen Gemeinschaft. Und die Enge unserer Verbindung hat nichts mit seinem Tod zu tun, denn sein Mörder ist einwandfrei festgestellt worden.« »Ach ja«, seufzte Fidelma, als sei sie abgelenkt worden. »Kehren wir zu dem Fall zurück ...« »Ich weiß nicht mehr, als ich dir bereits gesagt habe«, fauchte Cranat. »Ich habe von Ebers Tod erst durch andere erfahren.« »Und du warst zutiefst erschüttert, wie deine Tochter sagte?« »Das war ich.« »Aber doch so besonnen, daß du dem jungen Krieger Critan Befehl gabst, nach Cashel zu reiten mit dem Ersuchen, einen Brehon herzusenden?« »Ich war die Frau des Fürsten. Ich hatte meine Pflicht zu erfüllen.« »Warst du schockiert, als du hörtest, daß es Moen war, der deinen Gatten umbrachte?« »Schockiert? Nein. Traurig vielleicht. Es war wohl abzusehen, daß dieses wilde Tier früher oder später über jemanden herfallen würde.« »Du mochtest Moen nicht?« Ebers Witwe zog erstaunt die Brauen hoch. »Mögen? Wie kann man wissen, was jemand wie Moen im Sinn hat?« »Nun gut, vielleicht versteht man seine Gedanken, Hoffnungen und Wünsche nicht. Aber warst du nicht täglich in Kontakt mit ihm?« »Du würdest dieser Kreatur dieselben Gefühle zubilligen wie einem normalen Menschen?« mischte sich Cron höhnisch ein. »Wenn man des Augenlichts, des Gehörs und der Sprache beraubt ist, bleiben einem noch die anderen Sinne«, wies Fidelma sie zurecht. »Du mußt doch miterlebt haben, Cranat, wie Moen hier aufwuchs?« Cranat kniff mürrisch die Lippen zusammen. »Ja. Aber ich kenne das unglückliche Geschöpf nicht besonders gut. Ich habe auch gesehen, wie Ferkel zu Säuen heranwuchsen. Das bedeutet nicht, daß ich die Sau genau kenne.« Fidelma lächelte dünn. »Meinst du damit, daß du Moen eher für ein Tier als für ein menschliches Wesen hältst? Daß er deshalb mit deinem Leben nichts zu tun hat?« »Wenn du so willst«, gab sie zu. »Ich versuche lediglich, deine Haltung Moen gegenüber zu verstehen. Wie standest du zu Teafa? Ich habe gehört, daß zumindest sie sich mit ihm verständigen konnte.« »Verständigt sich der Schäfer mit seinen Schafen?« »Ich habe auch gehört, daß du nicht gut mit Teafa auskamst.« »Wer erzählt dir solchen Klatsch?« »Bestreitest du, daß es so war?« Cranat zögerte und zuckte dann die Achseln. »Wir hatten Meinungsverschiedenheiten in den letzten Jahren.« »Worüber?« »Sie war der Ansicht, ich solle mich von Eber scheiden lassen und so meinen Status als Gattin des Fürsten verlieren. Mir tat Teafa leid. Wenn sie sich auch ihr Unglück selbst zuzuschreiben hatte.« »Unglück? Wieso?« »Sie war über das heiratsfähige Alter hinaus, vom Leben enttäuscht, und aus dieser Enttäuschung heraus hatte sie das Findelkind Moen zu sich genommen, das ihr nicht die Gefühle entgegenbringen konnte, die sie von ihm erwartete.« »Doch sie war die Schwester deines Gatten?« »Teafa zog es vor, für sich zu bleiben. Manchmal nahm sie an religiösen Festen teil, aber sie stimmte mit Pater Gormans Auslegung des Glaubens nicht überein. Sie lebte beinahe wie eine Einsiedlerin, obwohl ihre Hütte nur dreißig Schritte von hier entfernt steht.« »Welchen Grund könnte Moen haben, sie und Eber umzubringen?« Cranat breitete die Arme aus. »Wie ich vorhin schon sagte, kann ich mich nicht in die Gedanken eines wilden Tieres hineinversetzen.« »Dafür hältst du Moen? Einfach für ein wildes Tier?« »Für was sonst soll man die Kreatur halten?« »Ich verstehe. Ist das die Art, in der Teafas Familie ihn in all den Jahren behandelte, in denen er in dieser Gemeinschaft lebte? Wie ein wildes Tier?« forschte Fidelma und überging Cranats Frage. Cron entschied sich, für ihre Mutter zu antworten. »Er wird wie jedes andere Tier in diesem rath behandelt, vielleicht besser. Er wird gut behandelt, nicht grob, aber wie sollte man sonst mit ihm umgehen?« »Wenn ich euch richtig verstanden habe, führt ihr seine Handlungen nach all diesen Jahren auf einen plötzlichen Anfall tierischer Instinkte zurück?« »Worauf sonst?« »Es muß schon ein schlaues Tier sein, das ein Messer nimmt, die Frau tötet, die es sein Leben lang versorgt hat, seinen Weg zu Ebers Wohnung findet und ihn ebenso tötet.« »Wer sagt denn, daß Tiere nicht schlau sein können?« konterte Cron. Mit mürrischer Miene stimmte Cranat ihr zu. »Mir scheint es, junge Frau, daß du eine Möglichkeit zu finden versuchst, Moen zu entlasten. Warum tust du das?« Fidelma stand plötzlich auf. »Ich suche lediglich nach der Wahrheit. Ich kann nichts für die Art und Weise, in der du die Dinge siehst, Cranat von Araglin. Ich habe eine Aufgabe entsprechend meinem Eid als Anwältin bei den Gerich-ten der fünf Königreiche. Diese Aufgabe besteht nicht nur darin, festzustellen, wer gegen das Gesetz verstoßen hat, sondern auch, warum gegen das Gesetz verstoßen wurde, damit Schuld und Wiedergutmachung angemessen beurteilt werden können. Für den Augenblick habe ich keine weiteren Fragen.« Eadulf bemerkte die empörten Mienen von Mutter und Tochter. Wenn Blicke töten könnten, wäre Fidelma gestorben, noch bevor sie vom Podium herabtrat. Ungerührt schritt sie, gefolgt von Eadulf, zur Tür der Festhalle. Draußen blieb sie stehen. Beide schwiegen eine Weile. »Du scheinst nicht viel für Cranat und ihre Tochter übrig zu haben«, meinte Eadulf trocken. Fidelma lächelte schelmisch. »Ich habe einen schwerwiegenden Fehler, Eadulf. Ich gebe ihn auch offen zu. Ich kann bestimmte Dinge nicht vertragen. Hochmut ist etwas, was mich gegen die Leute einnimmt. Ich zahle ihn ihnen mit gleicher Münze heim. Ich fürchte, ich kann die Lehre, man solle >die andere Wange hinhalten<, nicht befolgen. Ich meine, diese Lehre lädt nur zu weiteren Beleidigungen ein.« »Nun, wenigstens siehst du deinen Fehler ein«, erwiderte Eadulf. »Der größte Fehler ist es, wenn man sich keines Fehlers bewußt ist.« Fidelma kicherte leise. »Du wirst noch ein Philosoph, Eadulf von Seax-mund’s Ham. Aber etwas Wichtiges haben wir immerhin herausgefunden. Cranat ist nicht zu trauen.« »Warum nicht?« »Sie war zu >tief erschüttert<, um der Leiche ihres Gatten die letzte Ehre zu erweisen, sich die Leiche auch nur anzusehen, aber stark und pflichtbewußt genug, um einen Boten nach Cashel zu senden, weil sie sich nicht auf die Gesetzeskenntnis ihrer unerfahrenen Tochter verlassen wollte. Das finde ich seltsam.« Sie schaute nach der Kapelle. Eadulf folgte ihrem Blick. Die Tür des Gotteshauses stand offen. »Ob wohl der gestrenge Pater Gorman zurückgekehrt ist?« überlegte sie laut. Dann ging sie entschlossen auf die Kapelle zu und rief: »Komm, Eadulf, sehen wir nach.« Eadulf stöhnte innerlich, als er ihr folgte, denn nach allem, was sie gehört hatten, würden der Priester und Fidelma wie Hund und Katze sein. In der düsteren Kapelle waren Kerzen angezündet. Der Weihrauchduft, der das ganze tannenholzgetäfelte Gebäude erfüllte, schlug ihnen sofort entgegen. Er war außerordentlich stark. Mit einem Blick erfaßte Fidelma den Reichtum der Innenausstattung. Goldgerahmte Heiligenbilder hingen an den Wänden, und ein feingearbeitetes silbernes, mit Juwelen besetztes Kreuz befand sich auf dem Altar mit einem einfachen Silberkelch davor. Es gab kein Gestühl in der Kapelle, denn nach der Sitte stand die Gemeinde während des Gottesdienstes. Die mit Parfüms und Gewürzen getränkten brennenden Kerzen verbreiteten einen Geruch, der ihnen fast den Atem nahm. Pater Gorman war offensichtlich der Hirte einer reichen Kirche und Gemeinde. Ein Mann kniete im Gebet. Fidelma blieb an der Tür stehen, Eadulf an ihrer Seite. Der Mann schien ihre Anwesenheit zu spüren, denn er blickte über die Schulter, beendete sein Gebet und bekreuzigte sich. Dann erhob er sich und kam zu ihnen. Pater Gorman war hochgewachsen, schlank, von fast weiblicher Gestalt, doch mit dunklem Teint, fleischigem Gesicht, dicken roten Lippen und schütterem ergrauendem Haar, das einst so schwarz gewesen sein mußte wie seine blitzenden Augen. Der hübsche junge Mann von einst war noch erkennbar, obwohl Fidelma jetzt eher den Eindruck eines Wüstlings mittleren Alters hatte, der gar nicht mit ihrer Vorstellung von einem feurigen katholischen Priester übereinstimmen wollte. Er begrüßte sie mit einer tiefen, grollenden Stimme, in der die Verkündigung von Höllenfeuer und Verdammnis mitschwang. Ohne Überraschung stellte sie fest, daß die corona spina in sein Haar eingeschnitten war, das Zeichen eines Geistlichen römischer Ausrichtung, und nicht die Tonsur eines Anhängers der irischen Kirche. Verwundert sah sie, daß er rauhlederne Handschuhe trug. Sein Blick schien sich aufzuhellen, als er Eadulfs römische Tonsur erblickte. »Sei gegrüßt, Bruder«, sagte er mit dröhnender Stimme. »Also haben wir noch jemanden unter uns, der dem Pfad der wahren Weisheit folgt?« Eadulf war diese Begrüßung peinlich. »Ich bin Eadulf von Seaxmund’s Ham. Ich hätte nie erwartet, in diesen Bergen eine so reiche Kapelle zu finden.« Pater Gorman lachte freundlich. »Die Erde versorgt uns, Bruder. Die Erde sorgt für die, die des rechten Glaubens sind.« »Pater Gorman?« Fidelma schaltete sich ein, bevor das Gespräch den Gang nehmen konnte, auf den es der Priester gelenkt hatte. »Ich bin Fidelma von Kil-dare.« Die funkelnden dunklen Augen schätzten sie ab. »Ach ja. Duban hat mir von dir berichtet, Schwester. Sei willkommen in meiner kleinen Kapelle. Cill Uird nenne ich sie, die Kirche des Rituals, denn durch ihr Ritual finden wir zum rechten christlichen Leben. Gott segne dein Kommen, heilige deinen Aufenthalt und lasse dich in Frieden ziehen.« Fidelma dankte mit einem Kopfneigen für die Begrüßung. »Wir würden uns freuen, wenn du uns einige Minuten deiner Zeit schenkst, Pater. Du hast sicher schon von dem Zweck unseres Besuchs gehört?« »Das habe ich«, stimmte der Priester zu. Er winkte ihnen, ihm zu folgen, und führte sie durch die Kapelle in einen kleinen Nebenraum, anscheinend die Sakristei, denn er enthielt eine Bank, auf der ein bunter Mantel lag. Davor stand ein Stuhl. Wortlos räumte Gorman den Mantel fort und bedeutete ihnen, auf der Bank Platz zu nehmen, während er sich auf den Stuhl setzte und dabei seine Handschuhe auszog. »Du wirst mir verzeihen?« sagte er, als er ihren fragenden Blick auffing. »Ich bin gerade erst in den rath zurückgekehrt. Ich trage immer Handschuhe beim Reiten, um meine Hände zu schonen.« »Ein Priester mit einem Reitpferd ist ungewöhnlich«, meinte Eadulf. Pater Gorman lachte leise. »Ich habe reiche Förderer, die mir ein Pferd zu meiner Bequemlichkeit bewilligten, denn ich würde viele Tage brauchen, meine Herde zu betreuen, wenn ich alles zu Fuß besorgen müßte. Aber nun wollen wir nicht mehr von mir reden. Ich sah euch beide in Hildas Abtei, als das Konzil dort tagte.« »Du warst in Whitby?« fragte Eadulf erstaunt. Pater Gorman nickte bestätigend. »Allerdings. Ich sah euch beide, aber ihr werdet euch nicht an mich erinnern. Ich kam am Ende einer Missionsreise mit Colman nach Streoneshalh. Ich war kein Mitglied des Konzils, sondern nur als Zuhörer der Debatten meiner Vorgesetzten über die Vorzüge der Kirchen Colmcilles und Roms dort.« Eadulf konnte seine Selbstzufriedenheit nicht verbergen. »Dann warst du also dabei, als wir den Mord an der Äbtissin Étain aufklärten und ...« »Ich war dabei«, unterbrach ihn Pater Gorman heftig, »als Oswy in seiner Weisheit entschied, daß Rom die wahre Kirche ist und daß die Anhänger Colmcilles sich im Irrtum befinden.« »Es ist uns bereits klar, daß du den Vorschriften Roms folgst«, bemerkte Fidelma trocken. »Wer wollte sich gegen Oswys Entscheidung stellen, nachdem alle Argumente vorgebracht waren?« erwiderte der Priester. »Ich kehrte in diese meine Gemeinde zurück und habe mich seitdem bemüht, meine Leute, die Leute von Araglin, auf den rechten Pfad zu leiten.« »Sicher gibt es doch viele Wege, die zu Gott führen?« unterbrach ihn Fidelma. »Keineswegs!« eiferte Pater Gorman. »Nur wer dem einen Pfad folgt, kann hoffen, Gott zu finden.« »Daran hast du keinen Zweifel?« »Ich habe keinen Zweifel, denn ich stehe fest in meinem Glauben.« »Dann bist du zu beneiden, Pater Gorman. Um mit solcher Sicherheit zu glauben, mußt du wohl mit Zweifel begonnen haben.« »Du bist erst frei, wenn du aufhörst zu zweifeln.« »Ich dachte, selbst Christus hat am Ende gezwei-felt«, meinte Fidelma mit einem wohlwollenden Blick, der ihrer Erwiderung die Schärfe nahm. Pater Gorman machte eine entrüstete Miene. »Nur um uns zu zeigen, daß wir unserer Überzeugung treu bleiben müssen.« »Wirklich? Mein Mentor, Morann von Tara, sagte immer, Überzeugungen seien gefährlichere Gegner der Wahrheit als blanke Lügen.« Pater Gorman schluckte und wollte etwas erwidern, aber sie hinderte ihn mit erhobener Hand daran. »Ich bin jedoch nicht hergekommen, um mit dir über Theologie zu streiten, Gorman von Cill Uird, wenn ich es auch gern täte, sobald meine Aufgabe hier gelöst ist. Ich bin als Anwältin bei Gericht hergekommen.« »Wegen des Mordes an Eber«, fügte Eadulf rasch hinzu. Pater Gorman schien einen Augenblick lang nicht bereit, das Gespräch über Religion aufzugeben, doch dann senkte er den Kopf. »Dabei kann ich euch kaum helfen. Ich weiß nichts.« »Überhaupt nichts?« »Nichts.« »Aber deine Kirche steht doch nur einen Schritt von Ebers Wohnung entfernt. Ich habe gehört, du schläfst in der Kirche. Von allen Menschen im rath warst du dem Tatort am nächsten. Man sollte annehmen, daß du am ehesten in der Lage warst, etwas zu hören.« »Ich schlafe in dem Raum neben diesem«, erklärte Pater Gorman und wies auf eine kleine Tür hinter ihnen. »Aber ich kann euch versichern, daß ich nichts von den Morden wußte, bis ich durch den Lärm der Leute vor Ebers Wohnung aus dem Schlaf gerissen wurde.« »Wann war das?« »Nach Sonnenaufgang. Die Leute hatten von Ebers Tod erfahren und sammelten sich vor seiner Wohnung. Ihr Stimmengewirr weckte mich, und ich ging hinaus, um zu sehen, was vorgefallen war. Vorher wußte ich nichts davon.« »Ich dachte, in der römischen Kirche gibt es strenge Regeln für die Zeit zum Aufstehen«, schob Eadulf listig ein. Pater Gorman betrachtete ihn mit Mißfallen. »Du weißt wohl auch, Bruder, daß das, was für Rom gut ist, für uns in den nördlichen Ländern nicht taugt. Rom kann bestimmen, daß ein Geistlicher zu einer bestimmten Stunde aufstehen muß. Das geht in Rom, wo es früher hell wird und das zeitige Aufstehen seinen Sinn hat. Aber wozu soll es gut sein, wenn jemand in diesen Breiten in Dunkelheit und Kälte aufsteht, nur weil seine Brüder in Rom sich zu dieser Stunde erheben?« Fidelma lächelte breit. »Also findet sich doch etwas Brauchbares in den Regeln der Kirche Colmcilles?« Pater Gormans Augen verengten sich. »Du magst deinen Scherz genießen, Schwester. Die Tatsache bleibt bestehen, daß die Regeln der römischen Kirche die sind, die von Christus gesegnet wurden - sofern es Theologie und Lehre betrifft. Wir weichen nur davon ab, soweit Geographie und Klima es erfordern.« »Na schön. Ich will nicht darüber streiten - jedenfalls jetzt nicht. Du standest gleich nach Sonnenaufgang auf und stelltest dann fest, was mit Eber geschehen war. Hattest du die ganze Nacht fest geschlafen?« »Ich hatte das mitternächtliche Angelusgebet gesprochen und war dann zu Bett gegangen. Mich hatte nichts gestört.« »Du hast keinen Schrei oder Hilferuf gehört?« »Das sagte ich schon.« »Weißt du, wenn ein Mann auf die Art angegriffen wird, wie es Eber widerfuhr, dann scheint mir, daß er wohl um Hilfe rufen würde.« »Ich habe gehört, daß Eber im Schlaf erstochen wurde. Da blieb ihm wohl kaum Zeit für einen Hilferuf.« »Kaum Zeit für einen Hilferuf?« wiederholte Fidelma langsam. »Keine Zeit zu schreien, während ein blinder Taubstummer in der Lage war, den Raum zu betreten, ohne jemand zu stören, ein Messer zu nehmen und Eber mehrere tiefe Stiche zu versetzen? Während dieser ganzen Zeit lag Eber in seinem Zimmer mit einer brennenden Lampe neben sich?« Sie schien mehr zu sich selbst zu sprechen. »Ich habe nichts gehört«, beharrte Pater Gorman. »Warst du überrascht, als du erfuhrst, daß es Moen war, den man an Ebers Leiche gefunden hatte, und daß er nach Ansicht der Zeugen den Mord begangen hatte?« »Überrascht?« Pater Gorman überlegte einen Moment. »Nein, als Überraschung würde ich meine Reaktion nicht bezeichnen. Wenn man ein wildes Tier frei im Haus herumlaufen läßt, muß man damit rechnen, daß es einen anfällt und beißt.« »Als das hast du Moen angesehen?« »Als ein wildes Tier? Ja. Ich sah in diesem Kind der Blutschande nichts anderes als ein wildes Tier. Ich ließ dieses Kind der Blutschande nicht in diese meine Kapelle. Er war von Gott verflucht.« »Meinst du, das sei die rechte christliche Art, mit einem Behinderten umzugehen?« unterbrach ihn Fidelma empört. »Sollte ich mit Gott rechten wegen Seiner Bestrafung dieser Kreatur? Denn eine Bestrafung ist es, wenn ihm das genommen wird, was uns zu Menschen macht. Hat Christus nicht gesagt: >Des Menschen Sohn wird seine Engel senden; und sie werden sammeln aus seinem Reich alle Ärgernisse und die da unrecht tun, und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird sein Heulen und Zähneklappern.Über die Freiheit des Willens<, verurteilt wurde.« »Also folgst du einem Ketzer, wie die meisten von eurer columbanischen Sippschaft?« Nun ging Pater Gorman zu offener Beleidigung über. »Wir verschließen uns nicht der Vernunft, wie es Rom von seinen Anhängern verlangt«, schoß Fidelma zurück. »Was heißt schließlich Ketzerei? Es ist einfach der griechische Ausdruck für >eine Wahl treffen<. Es liegt in unserer Natur, eine freie Wahl zu treffen, folglich sind wir alle Ketzer.« »Pelagius war voll von irischem Porridge! Er wurde zu Recht verurteilt, weil er die Wahrheit von Augustins Lehre vom Sündenfall und der Erbsünde nicht einsehen wollte!« »Hätte nicht Augustin verurteilt werden müssen, weil er die Wahrheit von Pelagius’ Lehre von der Freiheit des Willens nicht einsehen wollte?« erwiderte Fidelma heftig. »Du bist nicht nur vermessen, sondern deine Seele ist in Gefahr.« Pater Gorman war rot vor Zorn. Fidelma ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Betrachten wir die Tatsachen«, antwortete sie ruhig. »Die Erbsünde wurde von Adam begangen, und Adam und seine Nachkommen wurden von Gott für diese Sünde bestraft. Ist das richtig?« »Es war ein Fluch, der auf der ganzen Menschheit lag, bis das Opfer Christi die Welt erlöste«, stimmte der Priester noch immer wütend zu. »Aber Adam gehorchte Gott nicht.« »Richtig.« »Doch es wird uns gelehrt, daß Gott allmächtig ist und daß Er Adam schuf.« »Dem Menschen wurde die Freiheit des Willens gewährt, und Adam trotzte Gott und fiel aus der Gnade Gottes.« »Darauf bezog sich Pelagius’ Frage: Konnte Adam vor dem Sündenfall zwischen Gut und Böse wählen?« »Wir hören, daß er Gottes Befehle als Richtschnur hatte. Gott sagte ihm, was er tun solle. Doch die Frau brachte ihn in Versuchung.« »Ach ja. Die Frau«. sagte Fidelma mit leichter Betonung. Bruder Eadulf war unbehaglich zumute. Er wünschte, Fidelma möge mit ihren Argumenten nicht das Schicksal herausfordern. Er blickte sie an, doch sie beugte sich vor und genoß die Auseinandersetzung. »Gott ist allmächtig, und er schuf Adam und Eva. Gottes Wille hätte ihnen doch als Weisung genügen müssen?« »Der Mensch hatte die Freiheit des Willens.« »Also waren Adams Wille und der Wille der Frau«, wieder mit leichter Betonung, »stärker als der Wille Gottes?« Pater Gorman war empört. »Nein, natürlich nicht ... Doch Er hatte es dem Menschen erlaubt, frei zu sein.« »Dann ist die logische Folgerung, daß Gott zwar allmächtig ist und somit in der Lage war, die Sünde zu verhindern, es aber nicht tat. Da Er allwissend ist, wußte Er, was Adam tun würde. Nach unserem Gesetz war Gott damit ein Anstifter zum Verbrechen!« »Das ist Gotteslästerung«, keuchte Pater Gorman. »Es geht noch weiter, Gorman«, fuhr Fidelma unbarmherzig fort, »denn wenn wir logisch folgern, können wir behaupten, daß Gott in Adams Sünde einwilligte.« »Sakrileg!« japste der Priester entsetzt. »Komm, bleib logisch.« Fidelma war unbeeindruckt von seiner Reaktion. »Gott ist allwissend, und Er schuf Adam. Wenn Er allwissend ist, dann wußte Er auch, daß Adam sündigen würde. Wenn die Menschheit wegen Adams Sünde verflucht wurde, dann wußte Gott, daß sie verflucht werden würde. Also schuf er die Menschen, damit sie zu ungezählten Millionen leiden müßten.« »Du mit deinem begrenzten Verstand kannst eben das große Geheimnis des Weltalls nicht verstehen«, fauchte Pater Gorman. »Wir werden es nicht verstehen können, wenn wir uns den Weg zu diesem Weltall durch selbstgeschaffene Mythen verbauen. In dieser Hinsicht halte ich es mit den Lehren des Pelagius, der ein Mann aus unserem Volke war, und deshalb hat Rom immer unsere Kirchen angegriffen, nicht nur hier, sondern auch bei den Briten und den Galliern, die unsere Auffassungen teilen. Wir sind ein Volk, das alle Dinge hinterfragt, und nur durch unsere Fragen können wir zur großen Wahrheit gelangen, und zu dieser Wahrheit müssen wir stehen, selbst wenn wir uns damit gegen die ganze Welt stellen.« Sie erhob sich abrupt. »Ich danke dir für die Zeit, die du mir geschenkt hast, Pater Gorman.« Draußen wechselte sie einen Blick mit Eadulf. »Ein kleines bißchen beginnt sich der Nebel zu lichten«, stellte sie mit Befriedigung fest. Eadulf verzog das Gesicht. Er war verwirrt. »Über Pelagius?« fragte er vorsichtig. Fidelma kicherte. »Über Pater Gorman«, verbesserte sie ihn. »Du verdächtigst Pater Gorman, irgendwie in die Morde verwickelt zu sein?« »Ich verdächtige jeden irgendwie. Aber du hast recht. Es ist klar, daß Gorman leidenschaftliche Gefühle für Cranat hegte oder noch hegt.« »In ihrem Alter?« Eadulf war entsetzt. Fidelma wandte sich ihrem Gefährten überrascht zu. »Liebe kann man in jedem Alter empfinden, Eadulf von Seaxmund’s Ham.« »Aber eine Frau in ihrem Alter und ein Priester .?« »Es gibt keine Gesetze, die einem Priester untersagen zu heiraten, nicht einmal Rom verbietet das, obgleich ich zugeben muß, daß Rom es nicht billigt.« »Willst du damit sagen, daß Pater Gorman einen Grund gehabt hätte, Eber den Tod zu wünschen?« Fidelma verzog keine Miene. »Dazu hatte er sogar allen Grund. Aber hatte er auch die Mittel, seinen Wunsch zu erfüllen oder für dessen Erfüllung zu sorgen?« Kapitel 9 An jenem Abend speisten sie allein. Cron hatte sie nicht zum Abendessen in die Festhalle eingeladen, wie es das Protokoll normalerweise vorgeschrieben hätte. Eadulf war nicht sonderlich überrascht darüber. Wenn er die Ereignisse des Tages überdachte, war ihm klar, daß Fidelma wohl kaum jemanden im ganzen rath als Freund gewonnen hatte, abgesehen vielleicht von dem armen Moen. Bei allen anderen hatte sie sich sicherlich nicht beliebt gemacht. Daß Cron und ihre Mutter Cranat sich nicht zu ihnen gesellen wollten, war kaum verwunderlich. Es war ein aufgeregtes junges Mädchen, das ihnen ihre Mahlzeit in das Gästehaus brachte. Es war dunkelhaarig, ungefähr sechzehn Jahre alt, beinahe unnatürlich blaß und schien sich vor ihnen zu fürchten. Fidelma gab sich Mühe, ihr durch freundliche Worte die Angst zu nehmen. »Wie heißt du?« »Ich bin Grella, Schwester. Ich arbeite bei Dignait in der Küche.« Fidelma lächelte ermutigend. »Gefällt dir deine Arbeit, Grella?« Das Mädchen sah sie fragend an. »Es ist meine Arbeit«, sagte sie einfach. »Ich bin in der Küche des Fürsten aufgewachsen. Ich habe keine Eltern«, fügte sie hinzu, als erkläre das alles. »Ich verstehe. Dann muß dich der Tod deines Fürsten traurig stimmen, wenn du in seinem Haushalt aufgewachsen bist.« Zu Fidelmas Überraschung schüttelte das Mädchen heftig den Kopf. »Nein ... nein, aber der Tod von Lady Teafa stimmt mich traurig. Sie war eine freundliche Dame.« »Eber war nicht freundlich?« »Teafa war nett zu mir«, antwortete das Mädchen ängstlich. Es wollte offensichtlich nicht schlecht über den toten Fürsten sprechen. »Lady Teafa war nett zu allen.« »Und Moen? Magst du Moen?« Auch diese Frage schien Grella zu verwirren. »Mir war nicht wohl, wenn er in der Nähe war. Teafa war die einzige, die ihm sagen konnte, was er tun sollte.« »Ihm sagen?« Fidelma griff den Satz sofort auf. »Wie sagte sie es ihm?« »Sie konnte sich auf irgendeine Art mit ihm verständigen«. »Weißt du, auf welche Art?« fragte Eadulf eifrig. Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Ahnung. Ein Klopfen mit den Fingern, hieß es, das beide verstanden.« »Hast du es mal gesehen? Hat dir Teafa mal erzählt, wie es geht?« erkundigte sich Fidelma. »Ich hab oft gesehen, wie sie es machte, aber ich hab’s nicht begriffen. Vielleicht war es nur eine vertraute Berührung mit der Hand, was ihn beruhigte.« Grella hielt den Kopf schief, als suche sie in ihrem Gedächtnis nach irgend etwas. Dann lächelte sie leicht. »Mir fällt was ein: Sie sagte, Gadra habe ihr das beigebracht.« »Gadra? Wer ist Gadra?« Grella bekreuzigte sich. »Gadra ist ein Schreckgespenst. Man sagt, er stiehlt die Seelen unartiger Kinder. Jetzt muß ich aber gehen, sonst sucht mich Dignait. Ich kriege Ärger.« Als sie fort war, aßen Fidelma und Eadulf in nachdenklichem Schweigen. Schließlich fand Eadulf den Mut, Fidelmas Unwillen zu riskieren und ihr eine Frage zu stellen, die ihn schon lange bewegte. »Ist es klug«, fragte er zweifelnd, »alle Leute absichtlich in Harnisch zu bringen?« Fidelma hob den Kopf. »Ich höre einen mißbilligenden Ton heraus, Eadulf von Seaxmund’s Ham«, bemerkte sie ernst, doch ihre Augen funkelten mutwillig. »Entschuldige, aber ich meine, manchmal erreicht man mit ein bißchen Takt und Klugheit ebensoviel wie mit .« »Du meinst, ich bin ungebührlich grob?« unterbrach ihn Fidelma ernst, wie ein Schüler, der einen Lehrer um Rat fragt. Eadulf war verlegen. Wenn Fidelma in dieser Stimmung war, traute er ihr nicht. Er schüttelte verneinend den Kopf. »Meine Mutter hat mir mal gesagt, man könne eine Stickerei nicht mit der Axt auftrennen.« Fidelma starrte ihn ehrlich überrascht an. »Du hast deine Mutter noch nie erwähnt, Eadulf.« »Sie lebt nicht mehr. Aber sie war eine kluge Frau.« »Ich weiß ihre Klugheit zu schätzen. Aber wenn du an eine dicke geschlossene Holztür von Arroganz gerätst, mußt du manchmal die Axt nehmen und sie aufbrechen, ehe du mit dem Menschen dahinter reden kannst. Oft wird die normale Höflichkeit von arroganten Leuten für Schwäche gehalten oder sogar für Kriecherei.« »Hast du dir wirklich den Weg zur Wahrheit aufgebrochen?« »Ich bin der Wahrheit näher gekommen, als es mir sonst gelungen wäre, wenn ich die Türen verschlossen gelassen hätte. Aber ich stimme dir zu, daß es bis zur vollständigen Wahrheit noch ein weiter Weg ist.« »Und wie gelangen wir dorthin?« wollte Eadulf wissen. »Wenn wir gegessen haben, suche ich Duban auf. Vielleicht können wir feststellen, ob dieses Schreckgespenst Gadra wirklich existiert. Wenn es ihn gibt und er mir zeigen kann, wie man sich mit Moen verständigt, dann sind wir der Wahrheit schon sehr viel näher. Wenn wir herausbekommen, was Moen weiß .« Eadulf blieb skeptisch. »Das war doch nur ein Ammenmärchen. Ein Schreckgespenst, das Kinderseelen stiehlt, na weißt du!« »Hinter jedem Ammenmärchen steckt meistens ein Stück Wahrheit, Eadulf.« »Du gehst von zu vielen Annahmen aus, Fidelma.« »Wieso?« »Du nimmst an, daß dieses Schreckgespenst existiert. Du nimmst an, daß Grella dir nicht etwas vorgeflunkert hat mit der Behauptung, Gadra habe Tea-fa gelehrt, sich mit Moen zu verständigen. Du nimmst auch nur an, daß es so eine Verständigungsmöglichkeit überhaupt gibt. Weiter nimmst du an, daß der Unglückliche Verstand besitzt und daß er dir etwas mitteilen wird, was das Geschehen erhellt. Und du gehst von der Annahme aus, daß er unschuldig ist.« Fidelma lehnte sich zurück, legte die Hände auf den Tisch und sah Eadulf einen Moment an, bevor sie antwortete. »Meine Annahmen gründen sich auf meinen Glauben an seine Unschuld. Den kann ich nicht erklären, und ich habe auch keine Beweise für ihn. Es ist ein Gefühl, eine Überzeugung, daß das, was meinen Sinnen falsch erscheint, auch wirklich falsch ist. Die Logik sagt, daß das, was als Wahrheit behauptet wird, einem aber falsch vorkommt, auch falsch ist.« »Ist nicht die Selbsttäuschung die schlimmste Täuschung?« erwiderte Eadulf. »Du glaubst, ich täusche mich selbst?« »Ich versuche dich nur daran zu erinnern, daß das, was so zu sein scheint, auch wirklich so sein könnte.« Fidelma lachte leise und legte ihm die Hand auf den Arm. »Eadulf, du bist die Stimme des Gewissens. Wenn ich zu sehr schwärme, zügelst du meinen Überschwang. Dennoch werden wir dieses Schreckgespenst Gadra aufspüren, falls es denn existiert.« Eadulf seufzte. »Ich hatte keinen Zweifel daran, daß wir das tun werden.« Fidelma erhob sich und ging Duban suchen. Critan stand bei den Ställen auf Wache, und er erklärte Fidelma nach einigen Hin und Her, daß Duban sich zur Zeit nicht im rath aufhielt. Er war nicht gerade mitteilsam. »Er mußte mit einigen Kriegern zu den hochgelegenen Weiden.« »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Fidelma. »Warum sind sie jetzt noch losgeritten, es wird doch gleich dunkel?« »Es ist alles in Ordnung«, antwortete Critan. »Ihr braucht euch nicht zu fürchten, solange Männer diesen rath bewachen, Schwester.« Fidelma unterdrückte eine scharfe Erwiderung. »Trotzdem, aus welchem Grund ist Duban fortgeritten?« drängte sie. »Es kam die Nachricht von einem Rinderraub in einem der einsamen Bauernhöfe jenseits der Berge.« »Ein Raubüberfall?« Das interessierte sie. »Weiß man, wer ihn verübt hat?« »Das wollen sie eben herausfinden. Wahrscheinlich dieselben Leute, die vor ein paar Wochen in dieses Tal einfielen. Ich hätte mit Duban reiten sollen, aber statt dessen erhielt ich den Befehl, hierzubleiben und mich um diese Kreatur, diesen Moen, zu kümmern. Das ist nicht gerecht.« Fidelma kam der junge Krieger eher wie ein schmollendes Kind vor denn wie ein, erwachsener Mann. »Als Krieger«, sagte sie bedeutungsvoll, »bist du nur an deine Pflicht gebunden, wenn du sie freiwillig übernommen hast.« Critan machte ein ärgerliches Gesicht. »Ich verstehe nicht, was du meinst.« »Genau. Hör mal, Critan«, wechselte sie rasch das Thema, »sagt dir der Name Gadra etwas?« »Gadra soll ein Schreckgespenst sein, das Kinderseelen stiehlt«, knurrte der junge Mann. »Die Leute hier benutzen seinen Namen, um ihre Kinder zu ängstigen.« »Gibt es ihn wirklich?« »Ich habe Duban von ihm reden hören. Ich glaube nicht an Gespenster, also hab ich ihn danach gefragt.« »Und was hat Duban gesagt?« wollte Fidelma wissen. »Er erzählte mir, daß zu seiner Jugendzeit Gadra als Einsiedler in den Bergen lebte und sich weigerte, den neuen Glauben anzunehmen.« »Ist er noch am Leben?« »Das war vor vielen Jahren. Er wohnte im Wald in einem kleinen Bergtal. Ich weiß nicht, wo. Duban könnte es vielleicht wissen.« Fidelma dankte dem jungen Mann und ging zurück zum Gästehaus, um Eadulf zu berichten. »Was nun?« fragte er. »Wir können nichts weiter tun, als bis morgen zu warten.« Lange nach Mitternacht wurde Fidelma vom Hufschlag eines Pferdes geweckt. Eadulf schlief fest in seiner Kammer. Sie erhob sich, nahm ihren Mantel um und schlich sich barfuß zum Fenster an der Vorderseite des Gästehauses. Am Tor stieg ein Mann vom Pferd. Im Licht der Fackeln erkannte sie Menma, den Stallwärter. Sie wollte schon zurück ins Bett, als sich eine Gestalt aus dem Schatten der Festhalle löste. Sie trat ins Licht der Fackeln und begrüßte den rothaarigen Mann. Es war Pater Gorman. Er schien erregt und schwenkte die Arme. Sein Ton war offenbar heftig, aber trotzdem sprach er leise, und sie konnte seine Worte nicht verstehen. Zu ihrer Überraschung schien Menma ebenso heftig zu antworten. Pater Gorman wies auf das Gästehaus. Offensichtlich waren Eadulf und sie der Gegenstand des Streits. Sie fragte sich, aus welchem Grunde. Kurz darauf zog Menma sein Pferd am Zügel fort zum Stall. Pater Gorman blieb noch stehen, die Hände in die Seiten gestemmt, und sah Menma nach. Dann wandte auch er sich rasch ab und schritt zu seiner Kapelle. Gedankenvoll ging Fidelma wieder zu Bett. Die Sonne schien schon hell, als sie sich zu Eadulf setzte zu dem Frühstück, das Grella gebracht hatte. Sie spürte die Wärme der Strahlen, die durch die Fenster des Gästehauses fielen. Eadulf war gerade mit dem Frühstück fertig und lehnte sich zurück, während Fidelma schweigend aß. Erst als auch sie die Mahlzeit beendet hatte, fragte er: »Was meinst du, ob Duban schon zurück ist?« »Ich werde ihn suchen und sehen, ob er uns mehr über diesen Einsiedler sagen kann«, erwiderte Fidelma. Eadulf sollte inzwischen ein bißchen bei den Bewohnern des rath herumhören. Fidelma ging vom Gästehaus an der Steinmauer der Festhalle entlang. Stimmen und ein kurzes hartes Lachen ließen sie innehalten. Das Lachen kam ihr bekannt vor. Sie blieb im Schutz der Mauer stehen und blickte dorthin, von wo es gekommen war. Ein Reiter stand dort, der anscheinend gerade eingetroffen war, denn er war noch vom Staub der Reise bedeckt. Er war vom Pferd gestiegen und hatte die Zügel über den Arm geschlungen. Fidelma erkannte den großen, stämmigen Mann sofort. Es war Muadnat, der Bauer, gegen den sie in Lios Mhor das Urteil gesprochen hatte. Etwas anderes verschlug ihr fast den Atem: Die Gestalt, die er in den Armen hielt und die seine Küsse mit der Leidenschaft eines jungen Mädchens erwiderte. Es war eine hochgewachsene blonde Frau in einem bunten Mantel. Erst als sie sich aus der stürmischen Umarmung löste, erkannte Fidelma in ihr Cranat, die Witwe Ebers. Instinktiv trat Fidelma tiefer in den Schatten der Mauer zurück und betrachtete Muadnat genauer. Für jemanden, der gerade sieben cumals Land verloren hatte, sah er recht glücklich aus, als er die verwitwete Fürstin umarmte. Die Vertraulichkeit der beiden war nicht zu übersehen. Muadnat lachte noch einmal schallend, bis Cranat ihm den Finger auf die Lippen legte, sich unruhig umsah und ihn verschwörerisch in das Haus hinter ihnen hineinwinkte. Muadnat band nur noch rasch sein Pferd an dem Pfosten davor an, bevor er ihr folgte. Fidelma wartete, bis sie verschwunden waren, und ging dann mit nachdenklich gesenktem Kopf weiter zum Eingang der Festhalle. Deren Tür stand offen. Sie wußte nicht, was sie zögern ließ, ihr Kommen anzukündigen. Leise trat sie ein. Vielleicht hatte sie im Unterbewußtsein die Stimmen wahrgenommen. Eine von ihnen gehörte Duban. »Ich meine, du solltest ihr mehr Respekt erweisen«, sagte er ernst. »Wenigstens mache sie dir nicht unnötig zur Feindin.« »Warum nicht? Lange ist sie nicht mehr hier. Ich meine, sie überschreitet ihre Befugnisse.« Fidelma runzelte die Stirn, denn die andere Stimme war die Crons. Das Gespräch fand in einem Nebenraum statt, dessen Tür nur angelehnt war. Katzengleich schlich sich Fidelma näher. »Ich weiß, sie ist Colgüs Schwester. Aber denkst du, sie wäre nur deshalb hergeschickt worden? Sie ist schlau. Diesen forschenden grünen Augen entgeht so leicht nichts.« »Ach! Du hast die Farbe ihrer Augen bemerkt?« Die Antwort klang verdrossen. Erstaunt entdeckte Fidelma Eifersucht in der Stimme der Tanist. Duban entgegnete mit einem Lachen: »Ich habe bemerkt, daß sie sich nicht hinters Licht führen läßt. Je weniger du ihre Feindschaft herausforderst, desto besser, mein Schatz.« Die Anrede ging ihm ziemlich leicht von den Lippen. »Sie wird doch wohl nicht glauben, daß Moen unschuldig ist?« Cron klang etwas besänftigt. »Ich meine, sie vermutet es. Pater Gorman glaubt, daß sie entschlossen ist, es zu beweisen. Er war ganz aufgeregt, als ich ihn gestern abend traf, nachdem er mit ihr gesprochen hatte.« »Ich dachte, die Angelegenheit ließe sich leicht regeln. Wenn meine Mutter sich doch bloß nicht eingemischt hätte.« »Nichts ist leicht, mein Schatz. Wenn sie wirklich glaubt, daß Moen unschuldig ist, dann wird sie nach anderen suchen, die ihn ermordet haben könnten. Du tätest gut daran, sie dir zur Freundin zu machen.« Cron zog scharf den Atem ein. »Sie könnte herausfinden, wie sehr ich meinen Vater haßte. Meinst du das?« »Am Ende wird sie herausfinden, wie sehr jeder ihn haßte«, antwortete Duban. »Jedenfalls mußt du dich um diesen blöden Muadnat kümmern. Ausgerechnet in diesem Augenblick mußte der im rath auftauchen und Ärger machen. Kannst du ihm nicht sagen, er soll verschwinden und nächste Woche wiederkommen, wenn alles vorbei ist?« »Wie kann ich das, mein Lieber? Er hat nicht genug Verstand, um den Grund zu begreifen. Er könnte uns Probleme bereiten. Nein, ich muß die Sache in die Hand nehmen. Sag Muadnat, wie ich mich entschieden habe und daß er zur Mittagsstunde in der Festhalle erscheinen soll.« »Dann behandle bitte die Schwester mit mehr Anstand.« »Geh jetzt«, befahl Cron. »Es gibt noch viel zu tun.« Fidelma schlich rasch auf Zehenspitzen zur Tür zurück. Dort nahm sie den Hammer und schlug gegen den hölzernen Block, bevor sie die Halle betrat, als wäre es das erste Mal. Cron kam aus dem Nebenraum. Sie war allein. Sie begrüßte Fidelma höflich, doch mit wachsamem Blick. »Ich suche Duban«, verkündete Fidelma. »Weshalb glaubst du, daß er hier sein könnte?« wich ihr die Tanist aus. »Sicher ist das hier doch ein guter Anfang, wenn man den Kommandeur deiner Leibgarde sucht?« fragte Fidelma unschuldig. Cron erkannte ihren Fehler und rang sich ein Lächeln ab. »Im Augenblick ist er nicht hier. Er war vorige Nacht lange unterwegs und ist wahrscheinlich noch gar nicht aufgestanden.« Die Lügen gingen ihr glatt über die Lippen. »Wenn ich ihn sehe, sage ich ihm, daß du dich nach ihm erkundigt hast. Jetzt entschuldige mich bitte, ich muß mich auf eine wichtige Angelegenheit vorbereiten.« Fidelma ließ sich nicht so leicht abwimmeln. »Vorbereiten?« »Ich muß heute ein Urteil sprechen«, erwiderte Cron. »Geringere Fälle darf ich verhandeln, auch wenn meine Mutter mit meiner Gesetzeskenntnis nicht zufrieden ist.« Es stimmte, daß ein Fürst bei unwesentlichen Fällen als Richter fungieren durfte, wenn kein Brehon bei der Hand war, um ihm zu helfen. »Was für ein Fall ist es denn?« »Keiner, der dich etwas angeht«, erwiderte Cron sofort. Doch dann lenkte sie ein. »Es handelt sich um einen Schaden, den Tiere angerichtet haben. Ein Bauer aus unserer Gemeinschaft verlangt Schadenersatz von einem anderen Bauern. Die Sache muß sofort entschieden werden, denn der Kläger hegt großen Zorn.« Schadensfälle durch Tiere kamen oft vor. In jeder Landgemeinde waren Schäden am Boden oder an der Ernte, die Haustiere des Nachbarn verursacht hatten, der häufigste Anlaß zu Gerichtsverfahren. Im allgemeinen tauschten benachbarte Bauern daher tairgille genannte Kautionen aus, um mögliche Schadensfälle durch Haustiere abzudecken. In den meisten Lebensbereichen griff das Gesetz auf ähnliche Kautionen zurück, um sicherzustellen, daß rechtliche Verpflichtungen eingehalten wurden. Selbst Fidelma mußte wegen ihres Amtes als professionelle Richterin bei dem Oberrichter oder Brehon ihres Bezirks ein Pfand von fünf Unzen Silber hinterlegen für den Fall, daß eines ihrer Urteile angefochten wurde. Denn wenn ein Urteil von ihr durch den Oberrichter verworfen wurde, mußte sie denjenigen Ersatz leisten, die sie durch ihr falsches Urteil geschädigt hatte. Ihre Kaution verfiel nur dann, wenn der Kläger innerhalb einer bestimmten Zeit gegen ihr Urteil Beschwerde einlegte und der Oberrichter ihr Urteil für falsch befand. Wenn ein Richter sich weigerte, diese Kaution zu hinterlegen, wurde er von der weiteren juristischen Tätigkeit ausgeschlossen. Es war sicher ein Fall von geringer Bedeutung und einer, den Cron angemessen entscheiden konnte. Fidelma wollte sich schon entschuldigen und verabschieden, als ihr plötzlich ein Verdacht kam. Sie wandte sich eilig zurück. »Ist einer der Beteiligten ein Bauer namens Muadnat?« Cron starrte sie verblüfft an. »Kannst du hellsehen, Schwester? Was weißt du von Muadnat?« forschte sie. Fidelma hatte also richtig vermutet. Cron wußte offensichtlich nicht, daß Fidelma die Richterin in Lios Mhor gewesen war. Zu diesem Zweck also war Mu-adnat im rath des Fürsten aufgetaucht. »Wußtest du von Muadnats Prozeß gegen seinen Verwandten Archü?« Cron schien angestrengt nachzudenken. Sie nickte langsam. »Ich weiß davon nur durch den Dorfklatsch. Mu-adnat mußte vor einem Brehon in Lios Mhor erscheinen und verlor einen Hof, auf den er Anspruch erhob.« »Ich war dieser Brehon«, erklärte Fidelma. »Während ich mich in Lios Mhor aufhielt, erhielt ich den Auftrag meines Bruders, hierher zu reisen.« Die blauen Augen der Tanist betrachteten sie neugierig. »Gegen wen erhebt Muadnat die Klage?« erkundigte sich Fidelma. »Wiederum gegen Archü.« Fidelma überlegte rasch. »Kannst du mir die Einzelheiten seiner Beweisführung nennen?« Einen Augenblick schien es, als wolle Cron sich weigern, doch dann besann sie sich eines Besseren. »Ich glaube, Archü hat sich für etwas zu verantworten«, sagte sie ausweichend. »Wofür genau?« drängte sie Fidelma. »Seit Archü den umstrittenen Hof am Schwarzen Moor in Besitz nahm, ist er Muadnats Nachbar, denn Muadnats Land grenzt an seines. Muadnat behauptet, Archü habe aus bösem Willen und Fahrlässigkeit seine Schweine nachts durch den Grenzzaun gelassen, wo sie Schaden auf Muadnats Grund und Boden anrichteten. Außerdem hätten die Tiere auf Muadnats Hof ihren Kot hinterlassen.« Fidelma atmete tief ein und aus, während sie die Bedeutung der Angelegenheit erwog. »Mit anderen Worten, wenn Muadnat diese Ansprüche gegen Archü zu Recht erhebt, wird er einen hohen Schadenersatz von ihm verlangen können?« fragte sie. Crons Miene besagte, daß dies offenkundig war. »Das hat mir Muadnat auch schon erklärt.« Fidelma fragte spöttisch: »Also hat sich Muadnat bereits rechtskundig gemacht?« »Was willst du damit andeuten?« erwiderte die junge Tanist. »Ich treffe nur eine Feststellung und deute gar nichts an. Es stimmt allerdings, daß der Besitzer von Tieren, die durch seinen bösen Willen oder seine Fahrlässigkeit Schaden anrichten, als Verursacher dieses Schadens gilt, daß die Strafe sich verdoppelt, wenn der Schaden in der Nacht entstand, und daß der Schadensersatz sich noch erhöht, wenn die Tiere Kot abgesetzt haben. Mit anderen Worten, Archü würde einen erheblichen Betrag als Schadensersatz an Muadnat zu zahlen haben.« Cron stimmte zu. »Wahrscheinlich den halben Wert seines Hofes oder noch mehr«, sagte sie. »Wenn er nicht über Viehbestände verfügt, die über den Wert des Hofes hinausgehen, wird er zweifellos den Hof verlieren.« »Wir wissen beide, daß er nicht mehr besitzt«, antwortete Fidelma knapp. »Muadnat wird sich nicht mit weniger als dem ganzen Hof zufriedengeben.« »Ich glaube, so lautet das Gesetz.« Fidelma überlegte sorgfältig ihre Worte, bevor sie sie aussprach. »Als erwählte Fürstin hast du das Recht und die Verantwortung, in deinem Stammesgebiet Recht zu sprechen, und du kannst das allein tun, wenn kein Brehon zur Verfügung steht.« »Ich kenne meine Rechte und Pflichten.« Crons Augen verengten sich mißtrauisch. »Ich will dir nicht zu nahe treten, wenn ich dich frage, bis zu welchem Grad du die Rechte studiert hast?« »Ich habe nur das Bretha Comaithchesa studiert, das Nachbarschaftsrecht, denn wir sind hier nur eine kleine ländliche Gemeinschaft, und dieses Gesetz spielt hier die größte Rolle. Ich bin nicht juristisch ausgebildet. Ich habe nur drei Jahre in Lios Mhor studiert und den Grad eines Freisneidhed erworben.« Fidelma nickte langsam. Der Grad nach dreijährigem Studium war das, was die meisten Fürsten in den fünf Königreichen aufzuweisen hatten. Fürsten brauchten eine Ausbildung, denn sie hatten viele Pflichten zu erfüllen, und die Tätigkeit als Richter beim Stammes gericht war eine davon. Ihr war klar, daß Cron sie mit einiger Feindseligkeit betrachtete. Sie mußte so diplomatisch vorgehen, wie es Eadulf ihr nahegelegt hatte, denn ihr Verhältnis zu Cron war schon schwierig genug. »Würdest du mir erlauben, dich als Beisitzerin in diesem Fall zu beraten?« Cron errötete und nahm es als Beleidigung auf. »Ich meine, ich bin in der Lage, den Fall zu entscheiden«, verteidigte sie sich. »Ich war oft dabei, wenn mein Vater Urteile gesprochen hat.« »Ich habe nicht gesagt, daß du nicht dazu in der Lage bist«, antwortete Fidelma versöhnlich. »Aber ich habe den Verdacht, daß es hierbei um mehr geht als um den einfachen Schadensfall. Schließlich hat Muad-nat schon einmal versucht, Archü mit Hilfe des Gesetzes zu enteignen.« »Würde dich das nicht in deiner Beurteilung voreingenommen machen?« fragte Cron und mühte sich sehr, den Spott in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Vielleicht bin ich wirklich voreingenommen«, gestand Fidelma ein. »Ich schlage daher vor, daß du das Urteil fällst und ich lediglich neben dir sitze, um dich in juristischen Dingen zu beraten. Ich verspreche dir, daß meine Ratschläge sich einzig und allein auf Rechtsfragen beschränken werden.« Cron zögerte und überlegte, ob Fidelma irgendwelche Hintergedanken hegen mochte. »Das Urteil ist meine Sache?« »Du bist die erwählte Fürstin von Araglin«, bestätigte Fidelma. »Du sprichst das Urteil.« Cron dachte einen Moment nach. Es stimmte, daß Fidelma als dalaigh mit dem Rang eines anruth, nur einen Grad unter dem höchsten, den es in den fünf Königreichen gab, einfach verlangen konnte, daß sie den Richterstuhl einnahm. So lautete das Gesetz, denn an einem Ort, an dem es keinen ständigen Brehon gab, besaß ein angereister Richter je nach seiner amtlichen Stellung einen höheren Rang als ein kleiner Fürst. Damit, daß Fidelma lediglich die Erlaubnis erbat, als Beisitzerin zu beraten, bewies sie, daß sie nicht in Crons Befugnisse eingreifen wollte. »Was sollte an Muadnats Anspruch falsch sein?« fragte Cron ausweichend. »Das bleibt abzuwarten. Muadnat war verbittert, als das Urteil gegen ihn ausfiel und er den Hof an den jungen Archü verlor.« Das sah Cron ein. »Denkst du, daß Muadnat diese Anklage zurechtgezimmert hat?« »Da du das zu entscheiden hast, ist es wohl besser, wenn ich meine Gedanken für mich behalte«, antwortete Fidelma sofort. »Aber laß mich neben dir sitzen. Ich berate dich nur in Fragen des Gesetzes, und du beurteilst die Tatsachen. Meine Worte werden einzig und allein die Rechtslage betreffen, nichts anderes. Das schwöre ich dir.« »Dann soll es so sein.« Zum erstenmal setzte Cron in Gegenwart Fidelmas ein anscheinend wirklich freundschaftliches Lächeln auf. »Zu welcher Zeit soll Muadnat vor dir erscheinen?« »Zur Mittagsstunde.« »Dann gehe ich jetzt und sage Eadulf Bescheid.« »Er ist ein interessanter Mann, dein Angelsachse«, bemerkte Cron listig. »Meiner?« Fidelma zog überrascht die Brauen hoch. »Eadulf gehört keiner Frau und keinem Mann.« »Ihr seid anscheinend recht gut befreundet«, erwiderte Cron. »Der gutaussehende Bruder glaubt wohl nicht an das, was Pater Gorman über die Ehelosigkeit der Diener und Dienerinnen Gottes lehrt?« Fidelma spürte, wie sie errötete. Ihr wurde klar, daß sie mit Eadulf alle möglichen Seiten der römischen Lehre erörtert hatte, doch nie das Zölibat. Rom hatte zwar die Ehelosigkeit für Mönche und Nonnen nicht verbindlich festgelegt, doch gab es eine wachsende Zahl von Geistlichen, die daran glaubten, daß Ordensmitglieder nicht zusammenleben oder heiraten sollten. Diese Vorstellung war jedoch den Menschen so fremd, daß sie sich nie durchsetzen würde. Sie merkte, wie Cron sie belustigt ansah. Sie hob das Kinn. »Bruder Eadulf und ich sind befreundet, aber nur befreundet, seit wir uns auf dem Konzil in Hildas Abtei in Northumbria kennenlernten, mehr ist da nicht.« Cron nahm diese Versicherung mit offenkundiger Skepsis entgegen. »Es ist schön«, bemerkte sie bedeutungsvoll, »so einen Freund zu haben.« »Da wir gerade von Freunden reden«, erwiderte Fidelma geschickt, »ich hatte dir ja schon gesagt, ich suche Duban.« »Weshalb mußt du so dringend mit ihm sprechen?« erkundigte sich die Tanist. »Hast du mal was von Gadra gehört?« Cron machte ein überraschtes Gesicht. »Warum willst du etwas über Gadra wissen?« »Du kennst ihn also?« hakte Fidelma sofort nach. »Natürlich. Gesehen habe ich ihn allerdings zum letztenmal, als ich noch ganz klein war. Ich kann mich nur vage daran erinnern. Er wohnte ein paar Jahre in Teafas Hütte. Doch dann ging er wieder fort. Er ist ein Einsiedler. Heutzutage glauben die jungen Leute, er sei weiter nichts als ein Kinderschreck. Weil er als Einsiedler in den Bergen verschwand, benutzen ihn einige, um ihren Kindern Angst zu machen, damit sie gehorchen.« »Weißt du, wo man Gadra finden kann?« Cron schüttelte den Kopf. »Ich glaube kaum daß er noch lebt.« Sie zuckte die Achseln. »Doch wenn es ihn noch gibt, dann muß man schon Mut haben, um ihn aufzusuchen, denn es heißt, daß er sich weigerte, den neuen Glauben anzunehmen, und sich mit dem Bösen einließ.« »Mit dem Bösen einließ?« Cron nickte. »Er hielt an dem Glauben unserer heidnischen Vorfahren fest, und die Leute meinen, daß er sich deshalb in die Einsamkeit der dunklen Berge zurückgezogen hat.« Hinter Fidelma bewegte sich etwas. Duban trat ein. Sein Blick ging rasch zwischen Fidelma und Cron hin und her, und er tat erstaunt, sie hier beisammen anzutreffen. Dann hob er die Hand zum Gruß. Fidelma wurde klar, daß jemand, der so zu heucheln verstand, auch in anderen Dingen schwer zu packen sein würde. »Wie ich höre, hattest du keinen Erfolg bei der Suche nach den Viehdieben, Duban«, beklagte sich Cron. Sie tat so, als hätte sie ihn heute noch nicht gesehen. »Wir haben die Berge meilenweit durchstreift, aber keine Spur von den Viehdieben gefunden. Von Dio-mas Herde wurden zwei Kühe weggetrieben. Wir verfolgten ihre Spur bis zum Rand des Schwarzen Moors und verloren sie dann im Wald.« Cron war sichtlich beunruhigt. »Früher haben Viehdiebe unser Tal nie ungestraft heimgesucht. Wir müssen sie fassen. Unsere Ehre steht auf dem Spiel.« »Wir werden sie schon kriegen«, knurrte Duban. »Sobald ich eine frische Schar gesammelt habe ...« »Jetzt ist es zu spät dazu. Außerdem haben wir eine Gerichtsverhandlung zu führen. Schwester Fidelma hat vorgeschlagen, daß sie mich dabei berät, und ich habe zugestimmt. Ich habe ihr auch gesagt, daß du ihr etwas über den alten Gadra erzählen kannst.« Cron drehte sich um und verließ die Halle. Duban blieb zurück, er schien ein wenig verunsichert. »Wie soll ich das verstehen?« fragte er verlegen. »Das mit Gadra, meine ich.« »Ich habe gehört, du kanntest Gadra.« »Den Einsiedler Gadra«, nickte Duban. »Ja, aber das ist zwanzig Jahre her. Er ist tot.« »Bist du sicher?« fragte Fidelma enttäuscht. Duban rieb sich nachdenklich das Kinn. »Sicher bin ich nicht. Aber ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich als junger Mann Araglin verließ. Er muß inzwischen gestorben sein.« »Cron sagte, sie habe ihn gesehen, als sie noch ein kleines Mädchen war und er bei Teafa im rath wohnte. Wüßtest du, wo er zu finden wäre, falls er noch lebt?« Fidelma gab nicht auf. »Da oben in den Bergen im Süden. Dort wohnte er in einem kleinen Tal.« »Würdest du Bruder Eadulf und mich dorthin führen?« Duban zögerte verwirrt. »Nach all der Zeit? Wahrscheinlich ist er tot«, wiederholte er. »Aber du weißt es nicht mit Bestimmtheit?« »Nein. Aber der Ritt ist zweifellos vergeblich. Man braucht fast einen Tag hin und einen zurück.« »Führst du uns?« »Ich habe meine Pflichten hier ...« »Cron scheint nichts dagegen einzuwenden zu haben.« Fidelma glaubte, sie verdrehe damit nicht die Tatsachen. »Oder hast du andere Gründe, die dich daran hindern?« »Warum willst du unbedingt zu Gadra? Selbst wenn er noch lebt, muß er schon sehr alt sein. Was soll er denn wissen, was dir bei deiner Untersuchung nützt?« »Das ist meine Sache, Duban, nicht deine«, erwiderte sie bestimmt. »Wann wollt ihr aufbrechen?« fragte Duban schließlich widerwillig. »Wenn das Gericht schnell zu einer Entscheidung kommt, dann noch an diesem Nachmittag.« Duban zupfte nachdenklich an seinem Bart. »Dann müssen wir mindestens einmal unterwegs übernachten, selbst wenn wir Gadra finden«, wiederholte er. »Ich bin Reisen gewöhnt«, betonte Fidelma. Resigniert breitete Duban die Arme aus. »Also dann nachdem das Gericht das Urteil verkündet hat. Wenn Gadra noch lebt, müssen wir sein Recht auf Zurückgezogenheit achten. Ich allein werde dich und den angelsächsischen Bruder begleiten, keiner weiter.« »Einverstanden«, erklärte Fidelma und verließ die Halle. Draußen traf sie auf Archüs Freundin Scoth. Das junge Mädchen strahlte, als es Fidelma erkannte, und reichte ihr beide Hände. »Ach, Schwester! Ich habe gebetet, daß du noch nicht fort wärst. Wir brauchen deine Hilfe so nötig.« »Das habe ich schon gehört. Ist Archü hier, und kann er sich gegen die neuen Anschuldigungen verteidigen?« fragte Fidelma mitfühlend. »Er sucht gerade eine Unterkunft für uns.« Scoth wirkte angespannt und unglücklich. Fidelma nahm sie am Arm und führte sie zum Gästehaus. Das Mädchen dankte ihr mit einem wehen Lächeln. »Muadnat ist wie ein Rabe auf einem Schlachtfeld, er wartet nur auf den richtigen Moment, um sich auf uns zu stürzen. Du bist unsere einzige Hoffnung.« »Ich bin zumindest noch hier.« »Gott sei Dank! Wäre Muadnat vorsichtiger, hätte er sich erst vergewissert, ob du schon weg bist. Aber er ist so gierig auf unser Land, daß er gleich zum rath gestürmt ist und nicht ahnt, daß er wieder ein Urteil von dir zu erwarten hat.« »Mein Urteil hat er nicht zu erwarten. Es ist Cron, eure Tanist und erwählte Nachfolgerin des Fürsten, die das Urteil zu fällen hat.« Scoth blieb vor Schreck stehen. »Aber du mußt den Vorsitz bei Gericht führen«, flehte sie Fidelma an. »Du kannst doch Archü nicht im Stich lassen. Cron wird ihre eigenen Leute bevorzugen!« »Ich lasse niemanden im Stich, Scoth. Kann ich deinen Worten entnehmen, daß Muadnat die Anklage erfunden hat?« »Nein, leider nicht.« Es war Archü, der das sagte. Er stand plötzlich hinter Fidelma. »Es tut mir leid, daß du in einer so mißlichen Lage bist, Archü«, sagte sie traurig nach einigem Nachdenken. »Aber du kannst doch eingreifen und die Klage abweisen«, beharrte Scoth verzweifelt. »Scoth!« wies Archü sie scharf zurecht. »Schwester Fidelma ist an ihren richterlichen Eid gebunden.« Sie hatten das Gästehaus erreicht, und Fidelma ließ sie eintreten. Eadulf begrüßte sie erstaunt. Fidelma teilte ihm die Neuigkeiten mit und wandte sich wieder an Archü. »Sag mir die Wahrheit. Du meinst, Muadnat hat die Klage nicht aus der Luft gegriffen? Ist sein Anspruch begründet?« Archü war rot geworden. Er machte eine hilflose Geste. »Er ist zu schlau, eine solche Anklage nur zu erfinden.« Fidelma schwieg einen Moment. »Ist dir klar, was das bedeutet?« »Es heißt, daß mein lieber Vetter Muadnat sich wiederholen wird, was für kurze Zeit mir gehörte. Er wird den Hof meiner Mutter an sich reißen. Ich werde wieder landlos sein«, schloß Archü bitter. Kapitel 10 Das Gerichtsverfahren wurde in aller Form abgehalten. Cron trug über ihrem blauen Seidenkleid eine lange bunte Amtsrobe mit einer kunstvollen Goldbrosche. Belustigt stellte Fidelma fest, daß sie Schaflederhandschuhe angelegt hatte. Bei vielen Clans gehörten solche Roben und Handschuhe zur Amtskleidung des Fürsten, wenn er zu Gericht saß. Cron hatte offensichtlich große Sorgfalt auf ihre Kleidung, ihre Toilette und die Auswahl ihres Parfüms verwendet, und Lavendelduft erfüllte den Raum. Sie nahm ihre Rolle als erwählte Fürstin ohne Zweifel sehr ernst. Cron saß in ihrem Amtssessel in der Festhalle. Neben dem reich geschnitzten Holzsessel war auf dem Podium ein zweiter Stuhl für Fidelma aufgestellt worden. Duban stand etwas seitlich vor dem Podium in seiner offiziellen Funktion als Kommandeur der Wache, während die beteiligten Parteien auf Holzbänken vor dem Podium saßen. Muadnat und sein Gefährte mit dem dunklen Haar und dem schmalen Gesicht, der schon in Lios Mhor dabei gewesen war, hatten ihren Platz zur Rechten, während Archü und Scoth links bei Eadulf saßen. Die Krieger von Dubans Wache standen im Hintergrund der Halle. Als Fidelma die Halle betrat, bemerkte sie, daß dort hinten auch Pater Gorman Platz genommen hatte. Als Fidelma sich neben Cron niederließ, erkannte Muadnat sie sofort, sprang auf und schrie: »Ich protestiere!« Cron setzte sich und sah ihn gelassen an. »Du protestierst bereits? Wogegen?« Muadnat starrte Fidelma wütend an und wies mit dem Finger auf sie. »Ich dulde nicht, daß diese Frau hier meinen Fall entscheidet.« Crons Mund wurde schmal. »Diese Frau? Wen meinst du damit?« Muadnat biß sich auf die Lippen. »Fidelma von Kildare«, knurrte er. »Schwester Fidelma sitzt hier auf meine Einladung hin. Sie ist eine dalaigh bei Gericht und in der Rechtskunde bewandert. Gibt es einen Grund, aus dem du etwas gegen ihre Anwesenheit einzuwenden hast, Mu-adnat?« Muadnat kochte vor Zorn. »Ich erhebe Einspruch wegen ... wegen ...« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Wegen Befangenheit. Sie hat bereits bewiesen, daß sie den Angeklagten bevorzugt. Sie sollte über seinen Anspruch auf Land entscheiden, das mir gehörte, und sie sprach es ihm zu. Ich will nicht, daß sie als Richterin in meinem Fall urteilt.« »Das wird sie auch nicht«, antwortete Cron sanft. »Ich bin die Richterin in diesem Fall. Ich habe zu entscheiden, aber Schwester Fidelma sitzt neben mir, um mich zu beraten, und das wird sie auch tun. Nun trage deinen Anspruch vor, Muadnat, wenn du einen zu stellen hast.« Schwester Fidelma beugte sich zu Cron hinüber und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Cron nickte ernst und sagte laut zu Muadnat: »Ich habe deine beleidigenden Worte gegenüber einem Brehon zur Kenntnis genommen. Das ist ein ernstes Vergehen. Du hast dafür den Sühnepreis des Geschädigten zu bezahlen.« Muadnat blieb vor Schreck der Mund offen. Cron hielt inne, um ihre Worte wirken zu lassen. Dann fuhr sie fort: »Da du aber wahrscheinlich in Unkenntnis gesprochen hast, ist Schwester Fidelma bereit, auf den Sühnepreis zu verzichten. Sie kann die Beleidigung jedoch nicht übergehen, denn damit würde sie sich nach dem Gesetz der Hinnahme einer Beleidigung schuldig machen und ihren Sühnepreis verlieren. Deshalb ist eine Entschädigung von deiner Seite erforderlich. Wir werden darauf zurückkommen, wenn ich«, sie betonte das Wort, »die Anklage gehört habe, die du vorzubringen hast.« Der stämmige Mann zögerte, schwankte ein wenig, als habe er einen Schlag erhalten, doch dann fand er sich anscheinend mit Crons Spruch ab und riß sich zusammen. Er starrte böse vor sich hin. »Na schön. Die Tatsachen sind klar, und ich habe einen Zeugen dafür, meinen Oberhirten und Neffen, Agdae, der hier neben mir sitzt.« Er wies auf seinen Gefährten. »Nenne uns diese Tatsachen«, forderte Cron ihn auf. Es gab eine Bewegung hinter dem Podium, und Cranat trat rasch ein. Sie war so reich gekleidet wie immer. Verärgert runzelte sie die Stirn, als sie Fidelma auf dem Platz sah, den sie zweifellos als den ihr gebührenden betrachtete. Sie verhielt den Schritt, doch bevor sie etwas sagen konnte, redete Cron sie an, spürbar gereizt über die Unterbrechung: »Mutter, du hast mir nicht gesagt, daß du der Verhandlung beiwohnen willst.« Cranat schaute Muadnat an. Warf ihr der Bauer einen warnenden Blick zu und schüttelte er leicht den Kopf? Fidelma war sich nicht sicher. »Ich werde still zuhören, Tochter«, erwiderte Cra-nat mißbilligend. Sie ging in eine Ecke zu einer freien Bank und ließ sich erhobenen Hauptes nieder. Sie war offensichtlich ungehalten und verwirrt. Sie bemerkte hörbar: »Als Eber noch lebte, brauchte ich nicht um Erlaubnis zu bitten.« »Schwester Fidelma ist eine dalaigh und wird mich nur in Rechtsfragen beraten«, glaubte Cron ihrer Mutter erklären zu müssen, bevor sie sich wieder Muadnat zuwandte. »Fahre fort. Du wolltest mir die Tatsachen vorlegen, Muadnat.« »Das ist leicht getan. Mein Ackerland grenzt an das Land, das Archü jetzt bewirtschaftet.« Fidelma saß mit ausdrucksloser Miene da und beobachtete Muadnat. Der Bauer brachte seine Anklage recht zuversichtlich vor. »Vor zwei Tagen ließ Archü seine Schweine durch den Zaun brechen, der unsere Äcker trennt. Sie taten es nachts. Sie richteten Schaden auf meinem Acker an. Einer der Eber verletzte eins von meinen Schweinen. Die Schweine hinterließen ihren Kot auf meinem Hof. Stimmt das nicht, Agdae?« Der hagere Mann nickte düster. Muadnat fuhr fort: »Jeder Bauer weiß, was das Gesetz dazu sagt. Ich fordere vollen Schadenersatz dafür.« Er setzte sich wieder hin. Cron sah Agdae an. »Kannst du alles bestätigen, was Muadnat gesagt hat, und es bezeugen ohne Furcht vor ihm oder beeinflußt durch Versprechungen von ihm, mit dem du verwandt bist und für den du arbeitest?« Agdae stand auf, sah Muadnat an und nickte rasch. »Es verhält sich so, Tanist von Araglin. Es ist genau so, wie es mein Onkel dargestellt hat.« Er setzte sich ebenso rasch wieder hin. Cron winkte Archü, sich zu erheben. »Du hast die Anklage gegen dich gehört. Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen, Archü? Bestreitest du die Tatsachen, die uns vorgetragen wurden?« Mit resignierter Miene stand der junge Mann auf. Scoth ergriff wie tröstend seine Hand. »Es ist wahr.« Er sprach wie von Müdigkeit überwältigt. »Die Schweine sind tatsächlich von meinem Land ausgebrochen und auf Muadnats Land gelaufen und haben dort Schaden angerichtet, wie er es gesagt hat.« Muadnats Gesicht verzog sich zu einem breiten, triumphierenden Lächeln. »Er gibt es zu«, erklärte er laut, als wolle er das Gericht besonders darauf hinweisen. Cron ignorierte ihn. »Hast du nichts zu deiner Verteidigung vorzubringen?« forschte sie. »Nichts. Ich hatte eine provisorische Umzäunung für die Schweine gebaut, so gut ich konnte, und mußte feststellen, daß sie eingerissen worden war. Die Schweine hatten das nicht getan.« Cron beugte sich gespannt vor. »Willst du behaupten, daß der Zaun absichtlich niedergerissen wurde?« »Ich glaube, daß es so war.« Muadnat lachte mißtönend auf. »In seiner Verzweiflung lügt der Junge. Das kannst du ihm doch nicht abnehmen.« »Kannst du den Schuldigen benennen?« fragte Cron. »Wenn ja, mußt du deine Behauptung beweisen.« Archü sah Muadnat haßerfüllt an. »Ich kann keine Behauptungen aufstellen. Ich habe keine Zeugen dafür. Ich habe nicht gesehen, wer die Umzäunung zerstört hat. Ich kann mich nicht verteidigen.« »Die Tatsachen sind klar!« rief Muadnat ungeduldig. »Der Junge gibt alles zu. Sprich mir den vollen Schadenersatz zu.« »Hast du sonst noch etwas zu sagen, Archü?« fragte Cron. »Verurteile mich, wie du willst«, sagte der junge Mann resigniert und setzte sich wieder. Da lehnte sich Fidelma hinüber und berührte Cron leicht am Arm. »Dürfte ich ein paar Fragen stellen, um die Rechtslage zu klären?« Cron stimmte zu: »Bitte.« »Meine erste Frage richtet sich an Archü. Wann kamst du in den rechtmäßigen Besitz deines Bauernhofes und dieser Schweine?« Archü starrte sie verblüfft an. »Das weißt du doch«, erwiderte er. »Beantworte meine Frage«, verwies ihn Fidelma. »Als du selbst das Urteil in Lios Mhor gesprochen hast.« »Wann war das?« »Vor genau vier Tagen«, antwortete Archü kopfschüttelnd, als zweifle er an ihrem Verstand. »Bestätigst du das, Muadnat?« Muadnat lachte spöttisch. »Du hast für ihn entschieden. Hast du das schon vergessen?« »Also ist Archü seit vier Tagen im Besitz seines Hofes. Bestätigt ihr beide das auch?« »Ja, der Hof gehört ihm und die Schweine auch und die Verantwortung auch«, brummte Muadnat und lächelte seinem Neffen Agdae triumphierend zu, der nickend daneben saß. »Und gehe ich richtig in der Annahme, daß vor Archü du selbst diesen Hof und diese Schweine besessen hast?« erkundigte sich Fidelma. Zum erstenmal flackerte ein Verdacht in Muadnats Augen auf. »Das weißt du auch sehr gut«, antwortete er großsprecherisch, doch mit etwas unsicherer Stimme. »Hast du das Land, das jetzt Archü gehört, getrennt oder gemeinschaftlich mit deinem angrenzenden Land bewirtschaftet?« Wieder zögerte Muadnat, weil er nicht genau wußte, worauf das hinaussollte, aber eine Falle befürchtete. Er wandte sich an Cron. »Die Tatsachen liegen dir vor, Tanist von Araglin. Ich verstehe nicht, was diese Frau mir unterstellen will.« »Antworte auf die Frage«, beharrte Fidelma. »Wenn du nicht weißt, was die Frage bedeutet, entbindet dich das nicht von der Pflicht, einer dalaigh bei Gericht zu antworten. Du hast dich bereits der Mißachtung meines Amtes schuldig gemacht.« Die Schärfe ihres Tons ließ Muadnat schwer schlucken. Er sah Cron flehend an, aber sie gab ihm nur das Zeichen zu antworten. »Ich habe sie zusammen bewirtschaftet«, brummte er. Fidelma nickte ungeduldig, als habe sie die Antwort bereits gekannt, doch darauf gewartet, daß er sie aussprach. »Das Gesetz legt fest, daß Grenzzäune zwischen Bauernhöfen in Ordnung gehalten werden müssen. Das ist doch dasselbe Gesetz, nach dem du klagst, nicht wahr?« fragte sie. Muadnat schwieg. »Hast du die Grenzzäune in Ordnung gehalten?« »Der Hof, der jetzt Archü gehört, war seit Jahren mein Eigentum. Ich habe die Grenzzäune entfernt, weil sie nicht mehr gebraucht wurden.« »Vor Gericht hat sich ergeben, daß der Hof, der Archü gehört, nicht dein Eigentum war und daß du ihn in all den Jahren lediglich als gesetzlicher Vormund für deinen Verwandten Archü bewirtschaftet hast«, erwiderte Fidelma. »Du gibst zu, daß du die Grenzzäune zwischen seinem Hof und deinem Hof entfernt hast?« Cron schaute Fidelma mit unverhohlener Bewunderung an, als ihr plötzlich das Ziel der Befragung klar wurde. Trotz ihrer früheren Abneigung gegen Fidelma war Cron intelligent genug, um Fidelmas Scharfsinn und ihre Rechtskenntnis zu würdigen. »Zugeben?« Muadnat war verwirrt. »Wieso sollte ich Grenzzäune zwischen Ländereien, die mir gehörten, stehenlassen?« Fidelma gestattete sich ein schmallippiges Lächeln. »Du hast die Grenzzäune entfernt?« »Ja.« Anscheinend zufriedengestellt, wandte sich Fidelma an Cron. »Nun bin ich bereit, dich zu der Rechtslage zu beraten, Tanist von Araglin, es sei denn, du hast noch Fragen zu stellen. Für mich ist die Sache klar. Möchtest du meinen Rat geheim oder öffentlich hören?« »Ich meine, die streitenden Parteien haben das Recht, die Gesetzeslage zu erfahren«, erwiderte Cron feierlich. »Sehr wohl. Erstens haben wir gehört, daß Archü de facto, also tatsächlich, seinen Besitz erst vor vier Tagen übernehmen konnte. Bis dahin war er zwar de jure, also von Rechts wegen, der Eigentümer, doch Muadnat besaß und bewirtschaftete den Hof. Muad-nat gibt zu, daß er die Grenzzäune zwischen den beiden Höfen niederlegte. Das ist nach dem Gesetz unzulässig, doch kann sich Muadnat damit entschuldigen, daß er glaubte, legal zu handeln.« Muadnat erhob sich und wollte sie unterbrechen. »Du bist still, während die dalaigh die Rechtslage erläutert«, wies ihn Cron schroff zurecht. Cranat, die während der Zeit wie eine Statue dagesessen hatte, wurde unruhig. »Tochter, mußt du so scharf mit einem Mann reden, der dein Verwandter ist und deinem Vater treu gedient hat?« protestierte sie. »Das beschämt uns vor Fremden.« Muadnat hatte sich still wieder hingesetzt. Cron sah ihre Mutter ärgerlich an. »Ich bin Tanist und sitze zu Gericht. Da müssen die Zuhörer schweigen, Mutter. Das gilt auch für dich.« Cranat starrte ihre Tochter verblüfft an und klappte den Mund hörbar zu. »Sprich weiter, Schwester Fidelma«, ordnete Cron an. Fidelma fuhr fort: »Zweitens ist zu bedenken, daß Archü seinen Besitz erst vor vier Tagen übernahm und folglich noch keine Zeit hatte, ordentliche Zäune zu errichten.« »Das Gesetz ist klar«, rief Muadnat störrisch. »Zeit spielt keine Rolle. Er ist für die Umzäunung verantwortlich.« »Das stimmt nicht«, widersprach Fidelma, an Cron gewandt. »Die Zeit spielt wohl eine Rolle. Das Bretha Comaithchesa ist darin sehr genau. Die Besitzer benachbarter Bauernhöfe sind beide für den Grenzzaun zwischen ihren Ländereien verantwortlich, und dieser Zaun ist ihr gemeinsames Eigentum, so daß jeder seinen Teil der Arbeit auszuführen hat.« Sie wandte sich an den stämmigen Bauern. »Was hast du getan, um den gemeinsamen Zaun wieder aufzurichten, den du selbst zerstört hattest, Muadnat?« Muadnat war zornrot im Gesicht. Er brachte kein Wort mehr hervor. Er begriff, daß er irgendwie wieder am Verlieren war, doch fehlte ihm der Verstand, den Grund zu erfassen. »Nichts, schließe ich aus deinem Schweigen«, bemerkte Fidelma trocken. »Und die Zeit spielt nicht etwa keine Rolle, sondern ist nach dem Gesetz ein entscheidender Faktor. Wenn jemand einen Bauernhof in Besitz nimmt, sind drei Tage vorgesehen für das Festlegen des Grenzverlaufs, und in zehn Tagen sollte der Zaun stehen. Niemand ist sofort verpflich-tet, einen Zaun zu setzen, denn es gibt keine Strafe für die Nichtfertigstellung. Es gibt nur den indirekten Zwang durch mögliche Verfahren wegen Übertretungen durch Menschen oder Tiere.« Fidelma hielt inne und wandte sich dann an Cron. »Das ist der Rat, den ich dir zur Rechtslage geben kann. Das Urteil liegt bei dir, Cron, und es muß dem Gesetz entsprechen.« Cron verzog das Gesicht. »Dann muß das Urteil offenkundig so lauten, daß Muadnat seine Klage in diesem Fall nicht durchsetzen kann. Archü hat nicht die vom Gesetz vorgesehene Zeit gehabt, die Zäune aufzustellen.« Muadnat erhob sich langsam; er zitterte vor Empörung. »Aber ich behaupte, er hat nachlässig und böswillig seine Schweine auf meinen Hof laufen lassen.« »Die Nachlässigkeit kann nicht bestraft werden«, erwiderte Cron, »und Böswilligkeit erkenne ich nicht an. Du bist genauso verantwortlich für den Bau eurer Grenzzäune, Muadnat. Schwester Fidelma hat das Gesetz sogar großzügig ausgelegt, wenn sie es dir nicht als Schuld anrechnete, daß du die Zäune niedergerissen hast. Ich wäre vielleicht nicht so großmütig. Du hast dafür zu sorgen, daß die Zäune zum vorgeschriebenen Zeitpunkt stehen.« Muadnat blickte Fidelma finster und haßerfüllt an. Er wollte zum Sprechen ansetzen, als ihn sein Neffe Agdae am Arm packte und warnend den Kopf schüttelte. »Noch eins«, fuhr Cron fort. »Dafür, daß du diese schwere Beschuldigung ohne Berücksichtigung der Umstände und ohne richtige Kenntnis des Gesetzes vor Gericht gebracht hast, wirst du einen sed an mich und einen sed an Schwester Fidelma für ihre Rechtsberatung zahlen. Diese Strafe ist entweder in Geld oder im Gegenwert von zwei Milchkühen bis zum Ende dieser Woche an meinen Verwalter zu entrichten.« Muadnat wandte sich zum Gehen, doch Cron hielt ihn zurück. »Dann geht es noch um deine Strafe für die Beleidigung einer dalaigh zu Beginn der Verhandlung.« Sie schaute Fidelma fragend an. Mit ausdruckslosem Gesicht beantwortete Fidelma Crons unausgesprochene Frage: »Für diese Beleidigung, deren volle Strafe meinen Sühnepreis betragen würde, gestatte ich Muadnat, den Wert einer Milchkuh für den Unterhalt der hiesigen Kirche zu spenden oder Arbeit im gleichen Wert bei ihrer Instandhaltung zu leisten, ganz nach seiner Wahl.« Muadnat schäumte fast vor Wut. »Denkst du denn, ich sehe deine Selbstsucht nicht, Tanist?« schrie er. »Tanist nennst du dich! Tanist durch Bestechung und Intrigen. Du bist keine richtige ...« Plötzlich stand Pater Gorman auf und kam nach vorn. »Muadnat! Du vergißt dich!« ermahnte er ihn. Der Priester legte dem zornigen Bauern die Hand auf den Arm, und mit Agdaes Hilfe führte er Muadnat aus der Festhalle hinaus. Man hörte ihn draußen noch weiterschimpfen. Cranat wartete nur wenige Augenblicke, dann erhob sie sich mit unziemlicher Hast und ging hinaus. Cron blickte hinüber zu Archü und Scoth, die sich glückstrahlend in den Armen lagen. »Du kannst gehen, Archü, aber höre noch meinen Rat ...« Archü trat erwartungsvoll näher und bemühte sich, ein ehrerbietiges Gesicht zu machen. »Du hast in Muadnat einen unversöhnlichen Feind. Sei auf deiner Hut.« Archü nickte bestätigend und schenkte Fidelma ein breites Grinsen. Dann nahm er Scoth bei der Hand, und sie eilten hinaus. Mit einem tiefen Seufzer lehnte sich Cron zurück und schaute Fidelma bewundernd an. »Du findest dich in dem Irrgarten der Gesetze wie auf einem geraden Weg zurecht, Fidelma. Ich wünschte, ich besäße deine Kenntnisse und dein Talent.« Fidelma ließ das Kompliment kalt. »Dafür wurde ich ausgebildet.« »Meine Warnung an Archü gilt auch dir. Muadnat verzeiht nichts. Er war ein entfernter Vetter und Freund meines Vaters. Vielleicht hätte ich nicht so hart mit ihm umgehen sollen. Meine Mutter war heute nicht mit mir zufrieden.« »Deine Mutter betrachtet Muadnat offensichtlich als ihren engen Freund.« »Eine Fürstin kann keine engen Freunde haben. Ich kann meine Urteile nicht auf Freundschaft gründen.« »Du kannst nur so handeln, wie es das Gesetz vorschreibt«, bemerkte Fidelma. »Das muß ich auch. Bei der Auslegung der Gesetze muß ein Brehon oder ein Fürst über allen Freundschaften stehen.« »Ich weiß, daß du recht hast. Doch Muadnat ist eine Macht in Araglin. Er ist auch mit Pater Gorman eng befreundet. Sie sind oft zusammen.« »Du sagtest, Muadnat war ein Verwandter und Freund deines Vaters Eber?« fragte Fidelma nachdenklich. »Ja. Sie wuchsen zusammen auf und zogen gemeinsam in den Krieg gegen die Ui Fidgente.« Fidelma überlegte einen Moment und zuckte dann innerlich die Achseln. Für ihre Untersuchung von Ebers Tod spielte Muadnat keine Rolle, denn zur Zeit des Mordes hatte er in ihrem Gerichtssaal in Lios Mhor gesessen. Sie stand auf und sah Duban immer noch stramm dastehen. »Vielleicht kann ich jetzt auf die Suche nach dem Einsiedler Gadra gehen?« Cron erhob sich. Zum erstenmal seit Fidelmas Ankunft im rath zeigte sie offen ihren guten Willen. Trotz ihrer Worte hatte sie es anscheinend genossen, Muad-nat eine Niederlage beizubringen, und sie strahlte. »Fidelma, ich habe erlebt, wie sorgfältig du mit dem Gesetz umgehst. Vielleicht etwas spät wird mir klar, daß du ebenso sorgfältig nach der Wahrheit hinter dem Tod meines Vaters suchst. Ich hätte wohl . « Die Entschuldigung für ihr Verhalten blieb unausgesprochen. Sie fuhr zögernd fort: »Ich möchte dir ver-sichern, daß ich alles tun werde, dich bei deiner Untersuchung zu unterstützen.« Fidelma zog fragend die Brauen hoch. »Gibt es da noch etwas, was ich wissen sollte?« Einen Augenblick glaubte sie Furcht in den hellen Augen der Tanist von Araglin schimmern zu sehen. »Noch etwas? Nein, das glaube ich nicht. Ich sage das nur, weil ich so stolz tat, als du herkamst. Mit Höflichkeit sollte man nicht geizen, denn sie kostet nichts.« »Wenn du dich daran hältst, wirst du den Menschen von Araglin eine gerechte Fürstin werden«, erwiderte Fidelma ernst. »Und das ist wichtiger als eine Amtsrobe.« Cron schaute verlegen drein und fingerte an der Goldbrosche, die den Mantel an der Schulter zusammenhielt. »Es ist hier in Araglin so Sitte, daß die Fürsten und ihre Frauen bei Amtshandlungen den bunten Mantel und die Handschuhe tragen.« Sie lächelte kurz. »In eine solche Stellung aufzusteigen bedeutet eine große Verantwortung«, bemerkte Fidelma. »Manchmal braucht man Zeit, um mit einer solchen Veränderung im Leben fertig zu werden.« »Das ist aber keine Entschuldigung für Arroganz. Du erwähntest Gadra, und das erinnert mich an eine Lehre, die er mir erteilte, als er noch im rath wohnte und ich ein kleines Mädchen war. Seine Worte sind mir im Gedächtnis geblieben. Er sagte, die Stolzen sondern sich von den anderen ab und betrachten sie aus der Entfernung, und deshalb glauben sie, die anderen seien klein und unbedeutend. Doch dieselbe Entfernung läßt sie den anderen ebenso klein und unbedeutend erscheinen.« Fidelma lächelte anerkennend. »Danach ist Gadra ein Mann von Weisheit. Wahrhaftig, wenn du deine Augen nicht erhebst, denkst du immer, du stehst auf dem Gipfel. Komm, Duban, machen wir uns auf die Suche nach diesem weisen Mann.« »Falls er noch lebt«, sagte Duban pessimistisch. Kapitel 11 Duban und Fidelma ritten voran auf dem schmalen Weg, der zwischen den großen Eichen hindurchführte, die in den Talschluchten standen. Bruder Eadulf folgte ihnen. Er blickte wachsam um sich. Er hatte von Überfällen durch Banditen gehört und meinte, ganze Kriegerscharen könnten sich an diesen düsteren Orten verbergen und Reisende könnten nur wenige Meter entfernt an ihnen vorbeiziehen und sie überhaupt nicht bemerken, denn so dicht und undurchdringlich waren die Wälder auf den Bergen rings um Araglin. Die Bäume standen so eng beieinander, daß vom blauen Himmelszelt und von der warmen Frühjahrssonne nichts zu sehen war. Die Luft war kühl, und Eadulf fiel auf, daß nur wenige Frühlingsblumen blühten, es aber zahlreiche dunkle immergrüne Pflanzen gab und solche, die die kalte, dunkle, feuchte Natur der Wälder liebten. Eadulf ritt mit aufmerksamem Blick, doch in lockerer Körperhaltung und ließ sein Pferd gemächlich den anderen folgen. Die Stille war beinahe bedrückend. Ab und zu raschelte es im Unterholz, und einige wenige Singvögel ließen sich hören. »Ein düsterer, ungemütlicher Ort zum Wohnen«, brach Eadulf das Schweigen, in dem sie seit Erreichen des Waldes geritten waren. Duban wandte sich halb um. »Es liegt in der Natur von Einsiedlern, daß sie sich an Orten niederlassen, die andere nicht schön finden«, erwiderte er. »Ich habe schon gesündere Orte gesehen«, antwortete Eadulf. »Was nützt es einem, als Einsiedler zu leben, wenn einem das die Gesundheit ruiniert?« »Ein gutes Argument«, lachte der Krieger. »Trotzdem heißt es, Gadra sei über achtzig Jahre alt. Wenn er noch lebt, würde mich das überraschen.« »Das hast du uns schon ein paarmal gesagt«, schaltete sich Fidelma ein. »Erzähl uns lieber mehr von Gadra. Wir wissen, daß er als Einsiedler lebt und ein weiser Mensch ist. Was weißt du sonst noch von ihm?« »Da gibt’s wenig zu sagen. Gadra ist eben Gadra. Für mich hatte er immer dasselbe Alter.« »Weiß man, woher er stammt?« erkundigte sich Fidelma. Duban zuckte die Achseln. »Es heißt, er war Priester in den heidnischen Zeiten.« »Ein Druide?« fragte Fidelma. Tatsächlich fand man in den fünf Königreichen hier und da noch Anhänger der alten Götter. Fidelma selbst war ihnen schon begegnet; sie lebten zurückgezogen und hielten an den alten Bräuchen und an dem alten Glauben fest. Sie konnte nicht umhin, manche ihrer Lehren zu bewundern. Der neue christliche Glaube hatte sich noch nicht vor so langer Zeit im Lande durchgesetzt, daß die alte Art sich gänzlich überlebt hätte. »So würde man ihn wahrscheinlich bezeichnen. Als Junge hörte ich schon Geschichten vom alten Gadra. Für uns war er immer alt. Wir wurden gewarnt, wir sollten uns von ihm fernhalten, denn der Priester sagte, er bringe den alten Göttern in den wilden Eichenwäldern Menschenopfer dar.« Fidelma schnaubte verächtlich. »Immer wird von Menschenopfern geredet, wenn man die Wahrheit eines religiösen Kults nicht erkennt. Die Gründerin meines Klosters in Kildare, die heilige Brigitta, war eine Druidin und die Tochter eines Druiden. Von solchen Menschen hat man nichts zu befürchten. Aber berichte mir mehr über Gadra. Weiß man, wann er in diese Gegend kam?« »Bestimmt nicht zu Ebers Zeit«, erwiderte Duban. »Ich glaube, er kam, als Ebers Vater noch ein Junge war. Er hatte die Gabe des Heilens und der Weisheit.« »Wie konnte er die Gabe des Heilens besitzen, wenn er nicht an den wahren Gott glaubte?« unterbrach Eadulf etwas unwillig. Fidelma lächelte ihn an. »Einer solchen Logik kann man nicht widersprechen«, antwortete sie mutwillig. Eadulf wußte nicht recht, ob sie sich über ihn lustig machte. »Heilt er im Namen des Heilands Jesus Christus?« wollte er wissen. »Er heilt einfach die Leute, die mit einer Krankheit zu ihm kommen. Er heilt in niemandes Namen«, antwortete Duban. »Natürlich verurteilte Pater Gorman alle, von denen er erfuhr, daß sie sich hatten von Ga-dra heilen lassen. Aber jetzt habe ich schon ein paar Jahre nichts mehr von Gadra gehört. Ich meine, er ist gestorben und wir verschwenden unsere Zeit mit dieser Reise.« Eadulf wollte etwas antworten, doch Duban hob plötzlich die Hand zum Zeichen, daß sie ihre Pferde zügeln sollten. »Da vorn sehe ich eine Lichtung. Ich glaube, wir sind dicht bei dem Tal, in dem er früher wohnte.« Fidelma spähte nach vorn. »Hier wohnt Gadra?« Duban nickte. »Bleibt hier zurück. Ich reite vor«, sagte er leise, »denn wenn er noch lebt, wird er mich wohl wiedererkennen.« Langsam und vorsichtig ritt er auf die helle Lichtung vor ihnen zu. Fidelma sah, daß die Lichtung nur eine kleine Schneise war, und in der Stille des Waldes hörte sie das Plätschern und Rauschen eines Baches. Sie meinte eine Holzhütte zwischen den Bäumen zu erkennen. Plötzlich schallte Dubans Stimme laut herüber. »Gadra! Gadra! Ich bin Duban von Araglin! Lebst du noch?« Eine Weile herrschte Schweigen. Dann kam eine Antwort. Die Stimme klang alt, aber tief und volltönend. »Wenn nicht, Duban von Araglin, dann gibt dir jedenfalls ein Geist Antwort.« Dubans Erwiderung war leiser, weder Fidelma noch Eadulf konnten sie verstehen. Nach einer Weile rief er ihnen laut zu, sie sollten auf die Lichtung kommen. Auf einem ebenen Stück Land an einem reißenden, schäumenden Bergbach stand eine sauber errichtete Holzhütte mit Rohrdach. Ein kleiner Garten mit Kräutern, Gemüse und ein paar Obstbäumen umgab sie. Duban war abgestiegen und band sein Pferd an einen nahen Busch. Dicht daneben stand ein kleiner alter Mann mit einem weißen Haarschopf, der sich auf einen polierten Schlehdornstock stützte. Auf den ersten Blick wirkte er gebrechlich. Doch Fidelma erkannte schnell, daß dieser Eindruck täuschte. Er war schmal, aber sehnig. Sein loses Gewand war mit Safran gefärbt, und an einer Halskette trug er einen goldenen Ring mit alten Symbolen, wie sie Fidelma noch nie gesehen hatte. Fidelma schwang sich vom Pferd, reichte Eadulf die Zügel und ging auf den alten Mann zu. Ein paar Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen. »Sei gesegnet, Gadra«, grüßte sie ihn und neigte leicht den Kopf. Sie blickte in ein freundliches Gesicht mit nußbraunem, wettergebräuntem Teint, in dem durchdringende helle Augen leuchteten. Sie schienen eher grau als blau. Das schneeweiße Haar fiel in Wellen bis auf die Schultern. Der weiche Bart war kurz geschnitten und ließ den Ring frei, der ihm vor der Brust hing. Gadra war unstreitig ein Greis, doch sein Alter ließ sich kaum schätzen, denn sein Gesicht war noch jung und faltenlos, und nur die eingesunkenen Schultern zeugten von vielen Lebensjahren. Fröhlich schaute er sie an. »Du bist hier willkommen, Fidelma, Tochter Failbe Flanns.« Fidelma war überrascht. »Woher weißt du .?« Bei seinem Lachen ging ihr ein Licht auf, sie lächelte verlegen und zuckte die Achseln. »Was hat dir Duban sonst noch alles erzählt?« Gadra nickte befriedigt. »Du hast einen hellen Kopf, Fidelma.« Er blickte über die Schulter dorthin, wo Eadulf die Pferde anband. »Komm her, Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham. Komm näher und setz dich zu uns, dann können wir uns unterhalten.« Fidelma erinnerte sich an die Zeit, als sie junge Schülerin beim Richter Morann von Tara war, und ließ sich vor dem Alten mit gekreuzten Beinen im Gras nieder wie eine Novizin vor dem Lehrer. Gadra lächelte geschmeichelt. Bruder Eadulf setzte sich etwas unbeholfen auf einen runden Stein in der Nähe und fand die Sitzfläche recht unbequem. Duban glaubte anscheinend auch, es wäre seiner Würde abträglich, wenn er sich auf die Erde setzte, und suchte sich einen anderen Stein. Gadra hockte sich jugendlich leicht ebenfalls im Schneidersitz Fidelma gegenüber hin. »Bevor wir reden«, begann Gadra und berührte mit dem Finger den Goldring vor seiner Brust, »stört dich dies hier?« »Warum sollte mich das stören?« fragte Fidelma. Gadra wies auf ihr Kruzifix. »Steht es nicht im Gegensatz zu dem da?« Fidelma schüttelte langsam den Kopf. »Dein Halbmond war jahrhundertelang bei unserem Volk das Symbol des Lichts und des Wissens. Ich brauche ihn nicht zu fürchten. Warum sollte ich daran Anstoß nehmen?« »Viele Anhänger des neuen Glaubens nehmen aber daran Anstoß.« Eadulf war es unbehaglich in Gegenwart eines Menschen, der das Symbol eines heidnischen Glaubens trug. »Du hast den Glauben an Christus nicht angenommen?« wollte er wissen. Gadra sah ihn an und lächelte leicht. »Ich bin ein alter Mann, mein angelsächsischer Bruder. In mir sterben die uralten Götter und Göttinnen unseres Volkes nur langsam. Dennoch gönne ich euch eure neue Lebensweise, eure neuen Gedanken und eure neuen Hoffnungen. Es liegt in der Natur der Dinge, daß das Alte stirbt und das Neue lebt. Das ist eine Gefahr für diese Welt und zugleich ein Segen. Das ist das Wesen der Kinder der Göttinmutter Danu. Das Leben stirbt und wird neu geboren. Das Leben wird neu geboren und stirbt. Es ist ein unendlicher Kreislauf. Die alten Götter sterben, die neuen Götter werden geboren. Die Zeit wird kommen, da auch sie sterben und wieder neue Götter entstehen werden.« Fidelma merkte, daß Gadras Worte Eadulf empörten, und sie sagte hastig: »Wir alle sind Gefangene unserer Zeit.« Gadra lachte zustimmend. »Du besitzt Einsicht, Fidelma. Oder ist es nur Empfänglichkeit? Kannst du mir sagen, was schneller ist als der Wind?« »Der Gedanke«, antwortete Fidelma sofort. Sie kannte das Spiel, das der Alte begann. »Ach ja. Und was ist weißer als Schnee?« »Die Wahrheit«, erwiderte sie. »Was ist schärfer als ein Schwert?« »Der Verstand.« »Dann verstehen wir uns gut, Fidelma. Ich bin ein Hort des Alten, und wenn ich nicht mehr bin, wird vieles mit mir verlorengehen. Aber das ist der Lauf der Welt. Deshalb habe ich mich in den Wald zurückgezogen, um zu sterben.« Fidelma schwieg einen Moment. »Hat Duban dir berichtet, was in Araglin geschehen ist?« »Er hat mir gesagt, wer ihr seid. Das und weiter nichts. Daß du etwas von mir willst, ist mir klar.« »Eber, der Fürst von Araglin, ist ermordet worden.« Gadra schien nicht überrascht. »Zu meiner Zeit hat man den Tod einer Seele in dieser Welt gefeiert, denn es bedeutete, daß die Seele in der anderen Welt wiedergeboren wurde. Es war Sitte, eine Geburt zu betrauern, denn es bedeutete, daß eine Seele in der anderen Welt gestorben war.« »Der Tod Ebers geht mich näher an, Gadra, denn ich bin eine Anwältin bei Gericht in den fünf Königreichen.« »Verzeih, wenn ich als Philosoph gesprochen habe. Natürlich macht es etwas aus, auf welche Weise jemand in die andere Welt gegangen ist. Ich nehme an, daß jetzt Muadnat Fürst von Araglin ist?« Fidelma starrte ihn verblüfft an. »Cron ist Tanist und wird Fürstin, wenn die derbf-hine ihrer Sippe sie bestätigen.« Gadra gab ihr einen schrägen Blick zurück, sprach aber nicht weiter von Muadnat. »Eber ist also tot? Ermordet? Und du, mein Kind, bist eine dalaigh und führst die Untersuchung?« Ausnahmsweise machte es Fidelma nichts aus, daß jemand sie »Kind« nannte. »So ist es.« »Was willst du von mir?« »Moen wurde an Ebers Leiche angetroffen mit einem blutigen Messer in der Hand.« Zum erstenmal wurde das stille Lächeln im Gesicht des Alten von Verblüffung überschattet. Doch dieser Ausdruck verschwand sofort wieder. Er hatte sich großartig unter Kontrolle. »Meinst du damit, daß Moen Eber ermordet haben soll?« fragte er leicht beunruhigt. »Er wird des Mordes beschuldigt«, bestätigte Fidelma. »Wenn ich nicht im Laufe meines langen Lebens so vieles erlebt hätte, würde ich sagen, der Junge ist nicht in der Lage, jemandem das Leben zu nehmen.« Fidelma beugte sich vor. »Verstehe ich dich richtig? Meinst du, daß er den Mord begangen haben kann?« »Unter besonderen Umständen kann auch der fügsamste Mensch zum Mord getrieben werden. Moen ist der fügsamste Mensch, der mir je begegnet ist.« »Als fügsam bezeichnen ihn die anderen nicht«, erwiderte Fidelma. Gadra seufzte leise. »Glaub mir, der Junge ist eine sensible, stille Natur. Ich weiß das, denn ich habe ihn von seinen Kindertagen an aufwachsen sehen. Teafa und ich haben ihn alles gelehrt, was er weiß.« Fidelma schaute den Alten eine Weile an. »Ihr habt ihn gelehrt?« fragte sie mit Betonung. »Das habe ich gesagt. Was erwidert er auf diese Anklage? Was sagt Teafa dazu?« »Moen ist taubstumm und blind. Wie könnte er uns etwas mitteilen?« Gadra schnaubte ungeduldig. »Über Teafa natürlich. Er verständigt sich über Teafa. Was meint sie dazu?« »Ach ...«, seufzte Fidelma und bedauerte, daß sie nicht alles gesagt hatte. »Ist Teafa etwas zugestoßen? Ich lese das in deiner Miene.« »Ja. Teafa ist tot.« Gadra saß ganz steif und still da. »Ich werde für ihre gute Wiedergeburt in der anderen Welt beten«, sagte er leise. »Sie war eine gütige Frau mit einer großen Seele. Wie starb sie? Hat Eber sie getötet? Hat der Junge zugeschlagen, um Teafa zu verteidigen?« Fidelma schüttelte den Kopf und versuchte die wirbelnden Gedanken zu ordnen, die die Worte des Alten in ihr ausgelöst hatten. »Moen wird beschuldigt, auch Teafa getötet zu haben, er soll erst sie erstochen haben und dann zu Ebers Wohnung gegangen sein und ihn erstochen haben.« »Kann das wahr sein?« Trotz seiner großen Selbstdisziplin und Beherrschung wirkte Gadra spürbar erschüttert. »Die Anklage lautet so. Ich bin hergekommen, um herauszufinden, was wirklich vorgefallen ist.« »Was du da erzählt hast, kann nicht wahr sein«, erklärte Gadra entschieden. »Wenn ich mir auch vorstellen kann, daß Moen, hinreichend gereizt, sich gegen Eber wenden würde, so würde er doch niemals die Hand gegen Teafa erheben. Teafa ist ihm eine Mutter gewesen.« »Es ist schon vorgekommen, daß ein Sohn seine Mutter getötet hat«, warf Eadulf ein. Gadra ignorierte ihn. »Hat sich seit Teafas Tod jemand mit Moen verständigen können?« Fidelma schüttelte den Kopf. »Man hat mir erklärt, nur Teafa habe sich mit Moen verständigen können. Niemand wußte, wie. Er kann nicht hören, er kann nicht sehen, und er kann nicht sprechen.« Gadra schaute traurig drein. »Es gibt andere Verständigungsmittel. Der Junge kann tasten, er kann riechen, er kann Schwingungen spüren. Wenn das Schicksal uns einiger unserer Sinne beraubt, können wir andere stärker entwickeln. Also hat sich niemand mit ihm verständigt seit diesen schrecklichen Ereignissen?« »Ich schaffte es nicht. Deshalb bin ich hier. Ich habe gehört, du wüßtest, auf welche Weise man sich mit ihm verständigen kann.« »Das stimmt. Wie ich schon sagte, ich habe mit Teafa zusammen den Jungen unterrichtet. Ich muß sofort mit dir zum rath von Araglin und mit ihm sprechen«, sagte der Alte mit Entschiedenheit. Fidelma war überrascht. Sie hatte auf seinen Rat gehofft, doch nicht zu denken gewagt, der alte Mann würde darauf bestehen, selbst zum rath mitzukommen. »Wenn du das fertigbringst, dann glaube ich bedingungslos an alle Wunder.« »Es ist möglich«, versicherte ihr Gadra düster. »Der arme Moen. Kannst du dir vorstellen, was es für jemanden bedeuten muß, in solch einen Körper eingesperrt zu sein, ohne zu wissen, was um einen herum vor sich geht und ohne sich verständigen zu können? Er muß Angst haben und ganz verzweifelt sein, weil er nicht weiß, was geschehen ist.« »Wenn er unschuldig ist, macht er Furchtbares durch«, gab Eadulf zu. »Aber es muß doch noch jemand außer Teafa im rath gewußt haben, wie man sich mit Moen verständigt?« Gadra sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Du denkst praktisch, Angelsachse. Doch die Antwort lautet, daß nur Teafa die Geduld besaß, es von mir zu lernen. Vielleicht hat sie versucht, es weiterzugeben, ich glaube das aber nicht. Ich meine, sie hielt es für besser, wenn es ein Geheimnis bliebe.« »Warum?« »Die Antwort darauf hat sie mit ins Grab genommen.« Gadra erhob sich, und Fidelma folgte seinem Beispiel. »Ich habe kein Pferd«, sagte der Alte, »deshalb kann es eine Weile dauern, bis ich den rath von Ara-glin erreiche.« »Du kannst entweder hinter Duban oder hinter Bruder Eadulf aufsitzen. Das ist kein Problem.« »Dann reite ich hinter Bruder Eadulf«, erklärte er. Eadulf holte die Pferde, und Gadra sprach leise mit Fidelma. »Dein Eadulf spricht unsere Sprache gut.« Sie errötete. »Er ist Gast in unserem Land, ein angelsächsischer Mönch, der an unseren Hochschulen studiert hat.« Sie hielt inne und fügte leise hinzu: »Und er ist nicht mein Eadulf.« Die lustigen hellen Augen blickten sie plötzlich fragend an. »In deiner Stimme liegt Wärme, wenn du von diesem Angelsachsen sprichst.« Fidelma spürte, wie ihre Wangen noch röter wurden. »Er ist mir ein guter Freund«, erklärte sie abwehrend. Gadra sah sie durchdringend an. »Verleugne niemals deine Gefühle, mein Kind, vor allem nicht vor dir selbst.« Der Alte verschwand in seiner Hütte, ehe Fidelma etwas antworten konnte. Einen Augenblick ärgerte sie sich, doch dann mußte sie lächeln. Ob er nun ein Heide war oder nicht, die Offenheit und die Weisheit des Alten gefielen ihr. Sie wandte sich um und traf auf Dubans forschenden Blick. »Wie ich sehe, magst du den Alten trotz eurer religiösen Unterschiede.« »Vielleicht sind die Unterschiede gar nicht so groß, wenn wir die Bezeichnungen, die wir verwenden, einmal weglassen. Wir stammen alle von denselben Ahnen ab.« »Vielleicht.« In dem Moment kam der alte Mann zurück mit seinem Reisemantel und einem sacculus, einer Schultertasche, in der er offensichtlich alles verstaut hatte, was er für die Reise brauchte. »Sag mir, mein angelsächsischer Bruder«, fragte er, während ihm Eadulf aufs Pferd half, »mein alter Gegner Gorman hält sich wohl immer noch im rath auf?« »Pater Gorman ist Priester in Araglin.« »Na, mein Vater ist er nicht«, brummte Gadra. »Ich habe nichts dagegen, irgend jemanden meinen Bruder oder meine Schwester zu nennen, aber es gibt nicht viele auf dieser Erde, denen ich das Recht zubillige, sich von mir als Vater anreden zu lassen, besonders nicht einem Mann, dessen Intoleranz an seiner Seele frißt wie ein Wurm.« Bei dieser heftigen Antwort des Alten wechselte Eadulf einen Blick mit Fidelma, doch seine Belustigung fand bei ihr kein Echo. Sie blieb ernst. »Mach dir keine Sorgen wegen Gorman«, erklärte sie dem Alten und schwang sich in den Sattel. »Du kommst mit meiner Ermächtigung in den rath von Araglin.« Gadra lachte. »Jeder ermächtigt sich selber, Fidelma«, sagte er. Sie traten den Rückweg durch die großen Bergwälder an. Wie in wortloser Übereinstimmung schwiegen sie, man hörte nur das Schnauben der Pferde auf dem Waldweg. Selbst aus den Wäldern kam kein Laut, obwohl es über dem düsteren Blätterdach noch taghell war. Fidelma ritt mit gesenktem Kopf und tief in Gedanken. Sie versuchte zu ergründen, wie der Alte oder auch Teafa sich mit einem so stark behinderten Menschen wie Moen verständigen konnten. Nach einer Weile gab sie es auf. Es genügte ihr, daß Gadra gesagt hatte, er könne es, denn sie ging davon aus, daß er die Wahrheit sprach. Sagten nicht die Weisen der Vorzeit, daß die Wahrheit die Erde erhält und uns von unseren Feinden befreit? Sie blickte sich nach Eadulf um und fragte sich, woran er wohl dachte. Es mußte ihm unbehaglich sein in der Nähe eines Menschen, der den neuen Glauben ablehnte und dem Glauben der Ahnen anhing. Gadra hatte Eadulf treffend charakterisiert: Er war praktisch - sachlich und pragmatisch. Er nahm die Lehre an, die man ihm beibrachte, und dabei blieb er, und er wich von dieser Lehre nicht ab und stellte sie nicht in Frage. Er war wie ein schwerfälliges Schiff, das stetig den Ozean durchfurchte. Im Vergleich dazu war sie eine leichte Barke, die hin und her über die Wellen tanzte. Tat sie ihm damit Unrecht? Plötzlich fiel ihr ein Zitat aus Hesiod ein: Bewundere das kleine Schiff, aber bringe deine Ladung in das große. Sie seufzte innerlich und wog in Gedanken die Aussagen gegeneinander ab, die sie bisher gehört hatte, doch schließlich wurde ihr klar, daß sie nichts erreichen konnte, bevor Gadra nicht herausgefunden hatte, was Moen wußte. Sie wollte möglichst schnell in den rath zurückkehren und erfahren, was Moen zu sagen hatte. Ungeduld war, das wußte sie, ihr größter Fehler. Sie gab Eadulf recht, wenn er ihr Reizbarkeit und Ruhelosigkeit vorhielt, doch meinte sie, ein unruhiger Geist sei wenigstens ein Beweis, daß man am Leben war. Plötzlich zügelte Duban sein Pferd und hob die Hand. Mit schräg gehaltenem Kopf lauschte er nach vorn. Sie hielten an, und Duban machte ihnen ein Zeichen, sie sollten absitzen. »Was ist?« flüsterte Fidelma. »Mehrere Pferde mit schweren Hufeisen«, erwiderte Duban ebenso leise, »und Reiter, die sich keine Mühe geben, vorsichtig zu sein. Hört mal!« Sie spitzte die Ohren und vernahm tatsächlich entfernte Stimmen, die einander zuriefen. Duban spähte umher. »Rasch«, befahl er leise, »wir führen die Pferde in den Wald. Hier hindurch«, wies er mit der Hand, »da sind Felsen, hinter denen wir uns verbergen können.« Fidelma schluckte ihre Fragen herunter. Wenn ein erfahrener Krieger solche Anweisungen gab, mochte sie nicht widersprechen. Sie folgten ihm so leise und so schnell wie möglich durch das Unterholz zu der Felsgruppe, die er ihnen gezeigt hatte. Eadulf und Gadra hielten die Pferde, während Duban und Fidelma am Rand der Felsen knieten und den Weg beobachteten. Die Geräusche einer Reiterschar waren nun deutlich vernehmbar. Das lärmende Gelächter und die Rufe der Reiter bewiesen, daß sie keine Gefahr auf ihrem Weg durch den Wald fürchteten. Fidelma sah Duban von der Seite an. Der Krieger spähte mit zusammengekniffenen Augen nach vorn. Er war sichtlich beunruhigt. »Was macht dir Sorge?« flüsterte sie. »Die Wälder gehören zu Araglin, und du bist der Kommandeur der Leibgarde des Fürsten. Warum verstecken wir uns?« Duban antwortete leise aus dem Mundwinkel: »Ein Krieger lernt, niemals mit beiden Füßen zu probieren, wie tief ein Fluß ist. Hör mal.« Fidelma lauschte dem Trappeln der näher kommenden Pferde. »Ich bin kein Krieger, Duban. Was hörst du?« »Ich höre das Klappern von Pferderüstungen, Schwerter, die gegen Schilde schlagen, und den Klang schwerer Hufeisen. Die Reiter sind bewaffnet. Wenn ich einen Jagdhund im Schafstall finde, versuche ich zuerst einmal festzustellen, ob den Schafen Gefahr droht.« Er machte ihr ein Zeichen, still zu sein. Durch das Unterholz und die Bäume, die zwischen ihnen und dem Weg standen, konnten sie Gestalten ausmachen. Es waren ungefähr ein Dutzend Reiter, die lässig ihres Weges zogen. Einige trugen leichte Mäntel und Schilde am Arm, andere lange Lanzen. Die letzten der Schar führten an Leitzügeln ein halbes Dutzend Esel mit sich, stämmige Lasttiere, an deren Seiten offensichtlich schwerbeladene geschlossene Tragkörbe hingen. Daß die Reiter nichts davon ahnten, daß sie beobachtet wurden, erkannte man an dem lauten, groben Gelächter, mit dem sie die zotigen Witze über einen von ihnen begleiteten. Fidelma kniff die Augen zusammen. Ganz zum Schluß, noch hinter den Packeseln, ritt ein Mann ohne Mantel. Über der einen Schulter hing ihm ein Bogen, die andere war bandagiert, und den Arm trug er in einer Schlinge. Sie holte tief Luft. Duban und Fidelma warteten schweigend, bis die Reiter außer Hörweite waren. Dann erhoben sie sich langsam und gingen zurück zu Eadulf und Gadra. »Das verstehe ich nicht«, sagte Eadulf sofort. »Warum verstecken wir uns vor diesen Reitern?« Duban strich sich nachdenklich über seinen schwarzen Bart. »Ich glaube, das sind die Viehdiebe, die die Bauernhöfe von Araglin unsicher machen.« »Woher weißt du das?« fragte Fidelma. »Ich sah gut bewaffnete Männer, die fremd sind in diesem Tal. Warum sind sie hier? Wir wissen, daß Bewaffnete einige unserer Bauernhöfe überfallen haben. Ist es nicht logisch, daß sie es waren?« »Es hört sich logisch an«, gab Eadulf widerwillig zu. »Wenn es Viehdiebe sind, warum führen sie dann die schwerbeladenen Esel mit? Und wohin wollen sie?« »Dieser Weg führt nach Süden aus den Tälern heraus zur Küste. Von hier aus kann man in kurzer Zeit nach Lios Mhor oder Ard Mor gelangen«, erklärte Gadra. »Kann man auf diesem Weg Lios Mhor schneller erreichen als auf dem, der an Bressals Herberge vorbeiführt?« erkundigte sich Fidelma. Sie erinnerte sich an das, was Bressal ihr gesagt hatte. »Auf diesem Weg kommt man einen halben Tag eher nach Lios Mhor, als wenn man den Weg an Bres-sals Herberge vorbei nimmt«, bestätigte der Alte. »Wer diese Männer auch sein mögen«, warf Eadulf ein, »uns hätten sie doch sicher nichts getan? Ich bin zwar hier fremd, aber soviel habe ich gehört, daß es nicht üblich ist, Ordensleuten gegenüber Gewalt anzuwenden.« »Mein angelsächsischer Bruder«, sagte Gadra und legte Eadulf seine magere Hand auf den Arm, »ist der Anlaß groß genug, bricht man auch den ältesten Brauch. Zu deinem Schutz solltest du dich lieber auf deinen gesunden Menschenverstand verlassen und nicht auf deine Kleidung.« »Ein guter Rat«, stimmte ihm Fidelma zu. »Mindestens einem von denen sind wir schon einmal begegnet.« Überrascht hob Eadulf die Brauen. »Tatsächlich?« fragte er. »Wo?« wollte Duban wissen. »Der mit dem Arm in der Schlinge«, fuhr Fidelma ungerührt fort, »war einer von denen, die Eadulf vor zwei Tagen verwundete, als sie Bressals Herberge überfielen. Sein Pfeil bohrte sich tief ins Fleisch.« »Eadulf traf einen Angreifer mit einem Pfeilschuß?« Der alte Gadra sah Eadulf mit unverhohlenem Staunen an. Dann begann er zu lachen. Eadulf schnaubte verärgert. »Manchmal verlasse ich mich nicht nur auf meine Kleidung, wenn ich mich verteidigen muß«, meinte er trocken. Gadra schlug ihm auf die Schulter. »Ich glaube, du gefällst mir, mein angelsächsischer Bruder. Manchmal vergesse ich, wie nötig man pragmatische Menschen braucht. Man kann nicht über einen Fluß rudern, wenn man keine Riemen hat.« Eadulf wußte nicht recht, wie er das auffassen sollte, und beschloß, es als Kompliment zu nehmen. Duban schaute immer noch ernst drein. »Bist du sicher, daß dies die Männer waren, die Bressals Herberge angriffen?« Fidelma nickte. »Wir können es bezeugen.« »Ich glaube, wir müssen so schnell wie möglich zurück zum rath von Araglin.« »Was ist mit Menma?« fragte Eadulf, doch Fidelma warf ihm einen Blick zu, der ihn verstummen ließ. Duban wandte sich stirnrunzelnd um, er hatte ihren warnenden Blick nicht gesehen. »Wieso Menma?« fragte er. »Eadulf hat überlegt, wer den rath verteidigen könne, wenn die Banditen ihn angreifen«, erklärte Fidelma eilig. Duban schüttelte den Kopf. »Menma wäre keine große Hilfe. Aber der Critan und andere meiner Krieger sind dort. Doch diese Räuber reiten vom rath weg, also brauchen wir uns um seine Sicherheit keine Sorgen zu machen, Bruder.« Eadulf zuckte die Achseln. Er begriff, daß es Fidelma aus diesem oder jenem Grunde für sich behalten wollte, daß Menma an dem Überfall auf Bressals Herberge teilgenommen hatte. Da merkte er, daß Ga-dra ihn forschend musterte. Er wandte sich ärgerlich ab und führte sein Pferd zum Weg zurück. Nun ritt ihnen Duban schneller voran als zuvor, er ließ das Pferd traben, so oft es der Pfad durch die engen Hohlwege erlaubte und die niedrigen Äste sie nicht behinderten. Eine Weile später flüsterte Gadra dem vor ihm sitzenden Eadulf ins Ohr: »Sei getrost, mein angelsächsischer Bruder. Wenn du zweimal denkst, bevor du einmal redest, sprichst du doppelt so weise.« Eadulf preßte die Lippen zusammen und fluchte innerlich über den Scharfblick des Alten. Kapitel 12 Critan brachte Moen in das Gästehaus. Fidelma sah dies als geeigneteren Ort für seine Befragung an als den Stall, in dem er gefangengehalten wurde. Außer Fidelma und Eadulf war nur Gadra anwesend. Duban besprach sich mit Cron wegen der Viehräuber. Es herrschte Schweigen, als der junge Krieger mit seiner üblichen beleidigenden Arroganz den unglücklichen Moen herbeischleppte. Befriedigt stellte Fidelma fest, daß Critan sich wenigstens weiter bemüht hatte, Moen sauberzuhalten und ihm einen Rest von Menschenwürde zu bewahren. Ihr tat das arme Wesen leid, als es nun in den Raum geschoben wurde. Moens Gesicht zeigte tiefe Furcht, denn er wußte und verstand nicht, was um ihn herum vor sich ging. Critan drückte ihn auf einen Stuhl, und er saß da mit hängendem Kopf. Critan grinste Fidelma an. »Na?« fragte er. »Was nun? Was für Kunststücke wollt ihr ihm beibringen?« Gadra trat vor und zischte Critan wütend an. Einen Moment glaubte Fidelma, er werde den arroganten Burschen schlagen. Dann ereignete sich etwas Merkwürdiges. Moen schnüffelte, hob den Kopf und zog prüfend die Luft ein. Zum erstenmal sah Fidelma einen Ausdruck von Hoffnung in seinem Gesicht, und er gab ein leises Wimmern von sich. Gadra ging zu ihm, setzte sich auf einen Stuhl neben ihm und ergriff seine Hand. Fidelma konnte kaum glauben, wie sehr sich das Gesicht des Behinderten veränderte. Es leuchtete im Wiedererkennen und vor Freude. Sie sah, daß Gadra Moens linke Hand ergriffen hatte. Zuerst erschien es wie ein Ritual, denn Moen hielt die Hand gerade ausgestreckt mit der Handfläche nach oben. Überrascht beobachtete sie, wie Gadra mit den Fingerspitzen etwas auf die Handfläche des jungen Mannes zeichnete. Dann faßte Moen die Hand Gadras und machte ähnliche Zeichen darauf. Fidelma wurde klar, daß es das war, was Moen im Stall mit ihrer Hand versucht hatte. Sie hatte keinen Zweifel, daß nun ein richtiges Zwiegespräch stattfand. Die Bewegungen der Finger folgten einander schnell und immer schneller. Plötzlich begann Moen angstvoll zu stöhnen und wiegte sich vor und zurück wie in körperlichem Schmerz. Gadra legte ihm den Arm um die Schultern. Traurig blickte er Fidelma an. »Ich habe Moen gerade erklärt, daß Teafa tot ist. Er betrachtete sie als seine Mutter.« »Wie nahm er die Nachricht vom Tod Ebers auf?« fragte Eadulf. »Ohne Überraschung«, antwortete Gadra. »Ich glaube, das wußte er. Ich habe ihm gesagt, was geschehen ist und wessen er verdächtigt wird.« »Ihm gesagt?« Critan begleitete seine Worte mit einem höhnischen Gelächter. »Komm, Alter. Der Witz ist ja gut, aber ...« »Ruhe!« fuhr ihn Fidelma mit eisiger Stimme an. »Du verläßt uns jetzt. Du kannst draußen warten, bis wir dir Bescheid geben.« »Ich habe den Gefangenen zu bewachen.« Der Krieger lief rot an vor Ärger. »Es ist meine Pflicht .« »Es ist deine Pflicht, zu tun, was man dir sagt«, erwiderte Fidelma gereizt. »Geh und sag Duban, deinem Kommandeur, daß ich dich nicht mehr in der Nähe dieses Gefangenen sehen will. Und zwar sofort!« »Du kannst doch nicht ...«, setzte Critan empört an. Eadulf stand auf und nahm ihn mit betonter Sanftmut am Arm. Nur der plötzliche Schmerzenslaut und das verzerrte Gesicht Critans verrieten, wieviel Kraft Eadulf anwendete. »Doch, wir können«, sagte Eadulf freundlich. »Du wirst hier nicht mehr gebraucht.« Er schob ihn fast auf die gleiche Weise aus der Tür, in der Critan den Gefangenen hereingebracht hatte. Als Eadulf die Tür von innen schloß, grinste Gadra ihn an. »Wahrhaft pragmatisch. Du gefällst mir wirklich, mein angelsächsischer Bruder!« Fidelma hatte nicht weiter darauf geachtet, sondern Moen nachdenklich betrachtet. Sie wandte sich an Gadra. »Während er sich beruhigt, würde ich gern erfahren, nach welcher Methode du dich mit ihm verständigst. Ich muß wissen, ob diese Verständigung echt ist.« Gadra knurrte verärgert: »Glaubst du, ich habe mir das alles ausgedacht, mein Kind?« Fidelma schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das meine ich nicht. Aber ich muß von Rechts wegen die Sicherheit haben, daß dies eine vollgültige Aussage des Jungen ist, denn wenn ich sie einem Gerichtshof vorlegen will, muß ich sie selbst in vollem Umfang verstehen.« Gadra sah sie einen Augenblick an und zuckte dann gleichmütig die Achseln. »Als Anwältin hast du sicher schon von dem alten Ogham-Alphabet gehört.« Fidelmas Augen weiteten sich. »Du benutzt das Ogham-Alphabet zur Verständigung?« Ogham war die früheste Schriftform des Volkes der fünf Königreiche und bestand aus einer Grundlinie, auf die kurze Linien zuliefen oder sie kreuzten. Zwanzig Buchstaben konnte man so darstellen. Die Vorfahren glaubten, der Gott Ogma, der Schutzpatron des Lesens und Lernens, sei ins südwestliche Muman, dem Ort aller Ursprünge, gekommen und habe die Weisen im Gebrauch des Alphabets unterwiesen, damit sie über Land und Meer reisen und den Leuten das Schreiben beibringen konnten. Die Buchstaben wurden oft in Hasel- oder Espenstäbe eingeritzt, und viele Grabsteine trugen Inschriften in Ogham. Mit der Einführung des neuen lateinischen Alphabets und der neuen Gelehrsamkeit war das Ogham außer Gebrauch gekommen. Fidelma hatte als Teil ihrer Erziehung noch die alte Schrift gelernt, denn viele Texte waren in dieser alten Form aufgezeichnet. Ihr wurde plötzlich klar, auf welche Weise man ein so einfaches Alphabet als Verständigungsmittel mit der Hand benutzen konnte. Gadra beobachtete den Wechsel ihrer Miene, als sie das erkannte. »Willst du es selbst versuchen?« fragte er. Fidelma nickte eifrig. Gadra wandte sich an Moen und wechselte rasch einige Zeichen mit ihm. »Nimm seine Hand. Halte die Fläche nach oben und benutze die Linie vom zweiten Finger bis zur Handwurzel als Grundlinie. Stell dich ihm vor, indem du deinen Namen in Ogham-Buchstaben schreibst.« Vorsichtig nahm Fidelma die Hand des jungen Mannes. Drei Striche rechts von der Grundlinie für »F«; fünf Punkte mit der Fingerspitze auf der Grundlinie für »i«; zwei Striche rechts von der Grundlinie für »d«; vier Punkte auf der Linie für »e«; zwei Striche rechts für »l«; ein diagonaler Strich über die Linie für »m« und ein Punkt für »a«. Sie führte die Bewegungen langsam und vorsichtig aus. Dann wartete sie auf die Antwort. Mit einem lebhaften Lächeln nahm der junge Mann ihre linke Hand, die sie ihm darbot, und hielt die Handfläche nach oben. Dann schrieb sein Finger darauf einen diagonalen Strich für »M«; zwei Punkte auf der Linie für »o«; eine kleine Pause, dann vier Punkte für »e« und dann vier Striche rechts für »n«. Moen. Es war so einfach. Und dieses Wesen hatte man behandelt, als wäre es ein Tier, dachte Fidelma empört. Langsam schrieb Fidelma weiter auf Moens Handfläche. »Ich bin eine Anwältin bei Gericht und hergekommen, um die Morde an Eber und Teafa zu untersuchen. Verstehst du mich?« »Ja. Ich habe sie nicht getötet.« »Sag mir, was geschehen ist, soweit du das weißt.« Sofort begann der junge Mann ihre Handfläche schnell mit seinen Fingern zu bearbeiten, so schnell, daß sie ihn unterbrechen mußte. »Du bist zu schnell. Ich bin diese Art der Verständigung nicht gewöhnt. Sprich mit Gadra, er kann es mir übersetzen.« »Sehr gut.« Fidelma lehnte sich zurück und erklärte Gadra, was sie wissen wollte. Sogleich übernahm er die Aufgabe. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Fidelma sah auf und erblickte Duban, der verwundert die Szene betrachtete. »Critan hat sich bei mir beschwert ...«, begann er verlegen, doch Fidelma unterbrach ihn. »Ich kann mir vorstellen, was Critan gesagt hat«, erklärte sie. Duban verzog das Gesicht. »Ich weiß, daß er seine Fehler hat. Ich werde dafür sorgen, daß er Moen nicht mehr bewacht, wenn du das möchtest.« Er schaute zu Gadra und Moen hinüber. »Es stimmt also. Kann er sich wirklich verständlich machen?« »Wie du siehst, Duban, können wir uns mit ihm verständigen und er sich mit uns. Würdest du bitte draußen warten? Wir müssen Moen bei dieser Befragung ebensolche Vertraulichkeit zubilligen, wie jedem von uns nach dem Gesetz zusteht.« Der Kommandeur der Wache machte zwar ein enttäuschtes Gesicht, nickte aber und verließ den Raum. Fidelma und Eadulf beobachteten nun staunend und beeindruckt, wie schnell Moens Finger über Ga-dras Handfläche tanzten. Ab und zu unterbrach der Alte den Fluß der Zeichen. Wahrscheinlich stellte er klärende Zwischenfragen. Dann begann er zwischen Fidelma und Moen zu dolmetschen. »Sag uns, Moen, hast du Teafa oder Eber getötet?« »Nein.« Eine Pause. »Ich hatte Teafa sehr gern. Sie zog mich auf wie eine Mutter.« »Erzählst du uns, was sich in der Nacht ereignete, in der du gefangengesetzt wurdest?« »Ich will es versuchen.« »Laß dir Zeit und berichte uns alles so ausführlich wie möglich.« »Ich versuche es. Manchmal schlafe ich schlecht. Dann stehe ich auf und gehe umher.« »Du gehst nachts herum?« »Ob Nacht oder Tag, das ist mir gleich.« Fidelma bemerkte zu ihrer Überraschung, daß Moen tatsächlich über den Scherz lächelte, den er gemacht hatte. »Gingst du in der Nacht auch aus?« »Ja.« »Weißt du, wie spät es war?« »Leider nicht. Zeit bedeutet mir nichts, außer wenn ich merke, daß es heiß oder kalt ist oder wenn ich bestimmte Arten von Blumen riechen kann. Ich weiß nur, daß es kalt war, als ich hinausging, und daß es feucht roch, aber nicht nach Blumen. Ich stand auf und ging zur Tür unserer Hütte. Ich kann mich sehr leise bewegen.« Fidelma begriff, daß dies gegen Moen ausgelegt werden konnte. »Wie gut kannst du dich allein im Dorf bewegen?« fragte sie. »Wenn nicht jemand etwas im Weg liegen läßt, etwas, was nicht in die Lücken zwischen den Gebäuden gehört, dann habe ich im allgemeinen keine Schwierigkeiten. Ein paarmal bin ich über eine Kiste oder ähnliches gefallen, was im Weg lag. Dann schlagen die Hunde an, und die Leute werden ärgerlich. Gewöhnlich geht es sehr gut.« »Wohin gingst du?« »Das kann ich nicht sagen. Ich kann es dir zeigen, wenn du willst, ich gehe einfach noch einmal denselben Weg.« »Später. Was tatest du unterwegs?« »Wenig, ich saß nur am Wasser, wo es oft so schön riecht und die Düfte Körper und Seele und Verstand streicheln. Aber damals roch es nicht.« »Du saßest am Wasser?« »Ja.« »An fließendem Wasser?« »Ja. Teafa nennt es einen Fluß.« »Hast du das öfter gemacht?« »Sehr oft. Da kann man das Leben genießen, besonders, wenn es warm ist und die Luft duftet. Ich sitze einfach da und denke nach.« Fidelma schluckte, als sie begriff, wie sensibel der junge Mann war, den alle für ein bloßes Tier hielten. »Was tatest du dann?« »Ich ging zurück zur Hütte.« »Zu Teafas Hütte?« »Ja. An der Tür nahmen mich Leute am Arm. Sie drückten mir ein Stück Holz in die Hand. Sie führten meine andere Hand am Holz entlang, wahrscheinlich, damit ich begreifen sollte, daß auf dem Holz etwas geschrieben stand.« »Etwas geschrieben?« »Es waren Buchstaben eingeritzt von der Art, mit denen wir uns jetzt verständigen.« »Weißt du, wer die Leute waren?« »Nein. Ihr Geruch war mir fremd.« »Was stand auf dem Stück Holz geschrieben?« »Dort stand: >Eber will dich sofort sprechen.< Ich sollte zu Eber kommen.« »Was tatest du?« »Ich ging hin.« »Hast du nicht daran gedacht, Teafa zu wecken und es ihr zu sagen?« »Sie wäre dagegen gewesen, daß ich zu Eber ging.« »Warum das?« »Sie hielt ihn für einen schlechten Menschen.« »Und was hieltest du von ihm?« »Eber war immer nett zu mir. Er gab mir manchmal zu essen und versuchte sich mit mir zu verständigen. Er legte mir die Hand auf den Kopf und aufs Gesicht, aber er wußte nicht, wie er mir etwas mitteilen sollte. Ich habe Teafa einmal gebeten, ihm unsere Verständigungsweise beizubringen, aber sie wollte es nicht.« »Hat sie dir erklärt, warum sie es nicht wollte?« »Nein, nie. Sie sagte nur, er sei ein sehr schlechter Mensch.« »Als du nun diese Botschaft erhieltest, hast du also gedacht, er habe euer Verständigungsmittel entdeckt?« »Ja. Wenn Eber mir Buchstaben auf einem Stab schickte, hatte er es wohl herausgefunden.« Diese Logik war nicht zu widerlegen. »Was machtest du mit dem Stab?« Es trat eine Pause ein. »Ich ließ ihn fallen, glaube ich. Nein, er wurde mir aus der Hand gerissen. Ich hab mich nicht darum gekümmert. Ich wollte schnell zu Eber.« »Du fandest den Weg zu Ebers Wohnung?« »Das war nicht schwer. Ich kann mich gut orientieren.« Er hielt inne. »Erzähl weiter«, drängte ihn Fidelma. »Ich ging zur Tür. Ich klopfte an, wie Teafa es mich gelehrt hatte. Dann hob ich den Riegel an und ging hinein. Niemand kam zu mir. Ich wartete eine Weile und dachte, wenn Eber da wäre, würde er sich melden. Dann merkte ich, daß es noch ein Zimmer geben mußte, und ging weiter. Ich tastete mich an der Wand entlang und fand schließlich die zweite Tür. Ich klopfte an, aber es wurde nicht geöffnet. Ich fand den Riegel, hob ihn und trat ein.« »Was geschah dann?« »Nichts. Ich wartete wieder, daß Eber sich meldete. Dann fragte ich mich, ob es noch ein Zimmer gäbe. Ich schob mich an der Wand entlang, eine Hand vorgestreckt. Sie traf bald auf etwas Heißes, Unangenehmes, ich glaube, ihr nennt es eine Lampe. Etwas, das brennt, damit ihr im Dunkeln sehen könnt.« Fidelma nickte, doch sofort wurde ihr klar, daß Moen das ja nicht sehen konnte. Sie sagte also: »Ja. Auf dem Tisch brannte eine Lampe. Was dann?« »Als ich um den Tisch herumging, stießen meine Füße gegen etwas, das auf dem Boden lag. Ich dachte, es wäre eine Matratze. Ich beschloß, darüber hinwegzukriechen und an der Wand entlang zur anderen Seite des Zimmers zu gehen, denn ich wollte die Tür zum nächsten Zimmer finden. Ich hockte mich hin und versuchte, über das hinwegzuklettern, was ich für eine Matratze hielt ...« Die Finger wurden still, dann fuhren sie fort: »Ich merkte, daß vor mir eine Leiche lag. Ich berührte sie mit der Hand. Sie war feucht und klebrig. Das Feuchte schmeckte salzig und ekelte mich. Ich tastete nach dem Gesicht, traf aber auf etwas Kaltes, das auch feucht war. Es war sehr scharf. Es war ein Messer.« Der junge Mann erschauerte. »Ich kniete dort und wußte nicht, was ich tun sollte. Ich erkannte Eber am Geruch. Ich roch, daß Eber vor mir lag und das Leben aus ihm gewichen war. Ich glaube, ich stöhnte etwas. Ich wollte mir den Weg nach draußen suchen und Teafa wecken, als mich Hände grob packten. Ich hatte Angst um mein Leben. Ich schlug um mich. Fäuste trafen mich, taten mir weh, und ich wurde gefesselt. Ich wurde irgendwohin geschleppt. Es roch ekelhaft. Niemand kam zu mir. Niemand versuchte sich mit mir zu verständigen. Ich brachte eine Ewigkeit im Fegefeuer zu und wußte nicht, was ich tun sollte. Mir wurde klar, daß Eber erstochen worden war, und zwar mit dem Messer, das ich gefunden und in der Hand gehalten hatte. Ich vermutete, daß die Leute, die mich gefangen hatten, entweder seine Mörder waren oder, noch schlimmer, daß sie annahmen, ich hätte Eber getötet. Ich versuchte etwas zu finden, auf das ich eine Nachricht für Teafa schreiben könnte. Ich konnte nicht verstehen, daß sie mich im Stich ließ. Ab und zu warf man mir ein paar Brocken zu essen hin. Es gab auch einen Eimer mit Wasser. Manchmal konnte ich essen und trinken, aber oft fand ich die Brocken nicht, die sie mir hinwarfen. Niemand half mir. Niemand.« Er machte eine Pause, ehe seine Finger weiterschrieben. »Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Schließlich bemerkte ich einen Geruch, den ich auch jetzt wahrnehme ... Die Frau mit Namen Fidelma. Danach kamen Hände, die grob waren, aber mich säuberten, fütterten und mir zu trinken gaben. Ich blieb angekettet, erhielt jedoch eine bequeme Strohmatratze, und der Ort roch besser. Aber wieder verging Zeit. Erst jetzt kann ich reden, und erst jetzt ist mir ganz klar, was sich ereignet hat.« Fidelma seufzte tief, als Gadra die Übersetzung der Fingerzeichen des jungen Mannes beendet hatte. »Moen, dir hat man ein großes Unrecht zugefügt«, sagte sie schließlich. Gadra übersetzte prompt. »Selbst wenn du schuldig gewesen wärst, hätte man dich nicht wie ein Tier behandeln dürfen. Dafür müssen wir dich um Verzeihung bitten.« »Du brauchst nicht darum zu bitten, Fidelma. Du hast mich aus dieser Lage befreit.« »Noch nicht ganz. Ich fürchte, befreit bist du erst, wenn wir deine Unschuld bewiesen und den Schuldigen überführt haben.« »Ich verstehe. Wie kann ich dir dabei helfen?« »Für den Augenblick hast du mir sehr geholfen, ich werde später noch einmal mit dir sprechen. Du kannst in die Hütte zurückkehren, in der du mit Teafa gewohnt hast und die dir vertraut ist. Wenn Gadra dazu bereit ist, wird er für dich sorgen, bis unsere Suche nach dem Schuldigen beendet ist. Zu deinem eigenen Schutz empfehle ich dir, die Hütte nicht allein zu verlassen.« »Ich verstehe. Danke, Schwester Fidelma.« »Noch eins.« Ihr war ein Gedanke gekommen. »Nämlich?« fragte Moen durch Gadra, als sie schwieg. »Du sagtest, du konntest mich riechen?« »Ja. Ich mußte die Sinne entwickeln, die Gott mir gelassen hat: Tastsinn, Geschmack und Geruch. Ich spüre auch Schwingungen. Ich merke es, wenn sich ein Pferd nähert oder ein kleineres Tier. Ich erkenne, in welche Richtung ein Fluß läuft. Das alles verrät mir, was um mich herum geschieht.« Er hielt inne und schien genau in die Richtung von Bruder Eadulf zu lächeln. »Ich weiß, daß du einen Begleiter hast, Fidelma, und daß es ein Mann ist.« Eadulf bewegte sich verlegen. »Es ist Bruder Eadulf«, erklärte Gadra und sagte zu ihm: »Wenn du nicht Ogham kannst, drücke Moen die Hand zum Gruß.« Vorsichtig langte Eadulf hinüber und nahm die Hand des jungen Mannes. Er fühlte den Druck als Antwort. »Sei gesegnet, Bruder Eadulf«, übersetzte Gadra rasch die Fingerbewegungen Moens. »Kommen wir auf deinen Geruchssinn zurück«, unterbrach ihn Fidelma. »Erinnere dich daran, Moen, wie jemand deine Hand ergriff und dir den Stab mit der Ogham-Schrift gab, die lautete, du solltest zu Eber kommen. Du sagtest, du hättest seinen Geruch nicht erkannt. Hatte er denn einen Geruch?« Moen dachte nach. »O ja. Ich habe nicht mehr daran gedacht. Es war ein süßer Geruch nach Blumen.« »Ein Geruch nach Blumen? Aber es war kalt, sagtest du. Das heißt, für uns war es Nacht, und nach der Zeit, zu der du in Ebers Wohnung angetroffen wurdest, stimmt das auch. Nur wenige Blumen geben in den ganz frühen Morgenstunden ihren Duft ab.« »Es war ein Parfüm. Nach dem Geruch dachte ich zuerst, es wäre eine Dame, die mir den Stab gab. Aber die Hände, die meine Hände berührten, waren rauh und schwielig. Es muß ein Mann gewesen sein. Der Tastsinn lügt nicht; es war ein Mann, der mir den Stab mit der Schrift darauf gab.« »Was für eine Art von Parfüm war es?« »Ich kann Gerüche erkennen, aber ich kann ihnen nicht die Bezeichnungen geben, unter denen ihr sie kennt. Ich bin jedoch sicher, daß die Hände einem Mann gehörten. Sie waren rauh und hart.« Fidelma atmete tief aus und lehnte sich nachdenklich zurück. »Nun gut, Gadra«, sagte sie schließlich zu dem Alten. »Ich gebe dir Moen in Gewahrsam. Du mußt dich um ihn kümmern und ihn vorläufig in Teafas Hütte behalten.« Gadra sah sie besorgt an. »Glaubst du jetzt, daß der Junge an den Verbrechen unschuldig ist, die man ihm vorwirft?« Fidelma wehrte ab. »Glauben und beweisen ist zweierlei, Gadra. Sieh zu, daß er sich wohl fühlt. Ich halte dich auf dem laufenden.« Gadra half Moen auf die Füße und führte ihn zur Tür. Duban stand noch draußen. Nachdem Fidelma ihm ihre Wünsche mitgeteilt hatte, trat er beiseite und ließ Gadra und seinen Schützling vorbei. »Einigen Leuten in diesem rath wird deine Entscheidung nicht gefallen, Fidelma«, murmelte der Krieger. Fidelmas Augen blitzten zornig. »Ich rechne sehr damit, daß die Schuldigen damit unzufrieden sind«, erwiderte sie. »Ich werde Cron von deiner Entscheidung hinsichtlich Moens informieren«, sagte Duban. »Aber ich wollte dir noch etwas mitteilen, was dich interessieren könnte.« »Nun?« fragte sie, als er schwieg. »Ein Reiter hat eben die Nachricht in den rath gebracht, daß einer der einzeln liegenden Bauernhöfe heute morgen überfallen worden ist. Ich hole gleich meine Männer zusammen, damit wir helfen können, soweit das möglich ist. Ich dachte, es würde dich interessieren, wessen Hof angegriffen wurde.« »Warum?« fragte Fidelma. »Komm zur Sache, Mann. Weshalb sollte mich das interessieren?« »Es war der Hof des jungen Archü.« Eadulf spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfiff. »Ein Überfall auf Archüs Bauernhof? Wurde jemand verletzt?« »Ein Schäfer aus der Gegend brachte die Nachricht und berichtete, er habe gesehen, daß Rinder weggetrieben und Scheunen angezündet wurden, und er meint, ein Mensch wurde getötet.« »Wer?« fragte Fidelma. »Das konnte uns der Schäfer nicht sagen.« »Wo ist dieser Schäfer?« »Er hat den rath schon verlassen, weil er sich wieder um seine Herde kümmern muß.« Eadulf wandte sich mit besorgter Miene an Fidelma. »Archü sagte doch, daß er und Scoth den Hof allein bewirtschaften.« »Ich weiß«, antwortete Fidelma ernst. »Duban, wann willst du mit deinen Männern zu Archüs Hof reiten?« »Sofort.« »Dann kommen Eadulf und ich mit. Ich nehme Anteil an dem Schicksal dieser jungen Leute. Hat man festgestellt, wo Muadnat sich aufhält? Ich würde es ihm sehr wohl zutrauen, daß er Archü überfällt und den Verdacht auf deine Viehräuber lenkt.« »Ich weiß, du kannst Muadnat nicht leiden, aber ich glaube nicht, daß er eine solche Dummheit begeht. Du schätzt ihn falsch ein. Außerdem haben wir die Banditen mit eigenen Augen gesehen.« Eadulf meinte nachdenklich: »Es stimmt, Fidelma. Du kannst nicht leugnen, daß es die Banditen gibt.« »Reiter haben wir allerdings gesehen«, sagte Fidelma. »Aber wie ihr euch erinnern werdet, zogen sie nach Süden, und Rinder hatten sie auch nicht bei sich, sondern Esel mit schweren Tragkörben. Wo waren denn die Rinder, wenn das Viehdiebe waren? Los, kommt, wir reiten zu Archüs Hof.« Kapitel 13 Duban hatte ein halbes Dutzend gut bewaffneter Reiter gesammelt. Fidelma war erleichtert, daß sich der arrogante Critan nicht darunter befand. Ihr fiel auf, daß weder Cron noch ihre Mutter Cranat erschienen, um sie aus dem rath zu verabschieden. In Kolonne zu zweit, mit Fidelma und Eadulf am Schluß, passierten sie die Tore des rath und trabten am Südufer des Flus-ses dem östlichen Ende des fruchtbaren Tales von Araglin mit seinen Kornfeldern und weidenden Viehherden entgegen. Duban ritt nicht übermäßig schnell, hielt aber ein stetiges Tempo ein. Nach wenigen Meilen führte der Weg an einer Flußschleife vorbei, die eine vom Fluß auf drei Seiten geschützte Halbinsel bildete. Bäume verhüllten diese kleine Oase. Blumen gab es in Fülle, und in der Mitte der Landzunge erhob sich eine malerische flache Holzhütte. In dem Garten davor stand eine kleine, mollige blonde Frau und beobachtete den Reiterzug, der sie offensichtlich bei der Pflege ihrer Blumen gestört hatte. Sie ritten in zu großer Entfernung vorbei, als daß Fidelma ihr Gesicht hätte erkennen können. Die Frau hob auch nicht die Hand zum Gruß, sah ihnen aber nach. Fidelma bemerkte mit Interesse, daß ein paar von Dubans Männern heimlich belustigte Blicke wechselten und einer in lautes Lachen ausbrach. Sie trieb ihr Pferd nach vorn an die Spitze der kleinen Kolonne zu Duban. »Wer war das?« fragte sie. »Niemand von Bedeutung«, brummte der Krieger. »Dieser Niemand von Bedeutung scheint deine Männer aber lebhaft zu interessieren.« Duban schaute verlegen drein. »Das war Clidna, eine fleischliche Frau.« »Fleischliche Frau« war eine beschönigende Umschreibung für Prostituierte. »Ich verstehe.« Nachdenklich ließ sich Fidelma wieder ans Ende der Kolonne neben Eadulf zurückfallen. Sie erklärte ihm, wer die Frau war. Er seufzte und schüttelte traurig den Kopf. »Soviel Sünde an einem so schönen Ort.« Fidelma ersparte sich eine Antwort. Am Ende des langen Tals stieg der Weg an. Er führte nun durch dichten Wald, war hier aber breit genug für Wagen. Nach einem steilen Anstieg zwischen zwei Bergen erreichten sie ein zweites, höher gelegenes Tal. Als sie hineinritten, zeigte Fidelma wortlos nach rechts, und Eadulfs Blick folgte ihrer Hand. Irgendwo hinter dem Berghang stieg eine Rauchsäule auf. Duban drehte sich im Sattel um und sah, daß Fidelma das untrügliche Zeichen bereits bemerkt hatte. Er winkte sie nach vorn. »Dies ist das Tal des Schwarzen Moors. Wo der Rauch aufsteigt, liegt Archüs Hof. Das Land links im Tal gehört Muadnat.« Fidelma erblickte bebaute Äcker, Rinderherden, Rotwildrudel und reiches Weideland. Dieser Bauernhof war weit mehr wert als sieben cumals, stellte sie fest. Sie schätzte seinen Wert auf das Fünffache des Landes, das er Archü hatte zurückgeben müssen. Der Weg führte etwas höher am Berghang am Rande von Muadnats Besitz entlang. Manchmal säumten ihn Bäume oder Sträucher, an anderen Stellen offenes Grasland, das Rotwild oder andere Tiere kurz hielten. Im Tal auf Muadnats Land war zur Zeit niemand zu sehen. »Wahrscheinlich sind Muadnat und seine Leute schon zu Archü hinübergeritten«, erklärte Duban, der Fidelmas Gedanken erraten hatte. Sie lächelte dünn, gab aber keine Antwort. Die Rauchsäule mußte von Muadnats Hof aus gut zu sehen sein. Duban befahl, in leichten Galopp überzugehen. Die Kolonne ritt nun schneller den Weg entlang, der sich den Berghang hinunterschlängelte. Fidelma erkannte, daß Archüs Hof in einem kleinen Seitental lag, im rechten Winkel von dem Haupttal des Schwarzen Moors, das Muadnat gehörte. Auf dem Weg, auf dem sie entlangkamen, war es die meiste Zeit dem Blick entzogen. Bald wurde der Abstieg so steil, daß sie in Schritt fallen mußten. »Wie gut kennst du diese Gegend hier, Duban?« fragte Fidelma. »Recht gut«, antwortete der Krieger. »Ist dies der einzige Weg ins Tal oder heraus?« »Das ist der einzige bequeme Weg, aber Männer, auch mit Pferden, könnten einen Pfad über die Berge nehmen.« Fidelma hob den Blick zu den runden Bergkuppen. »Wohl nur in letzter Verzweiflung«, meinte sie. Eadulf beugte sich vor. »Woran denkst du?« fragte er. »Ach, daß eine Reiterschar auf dem Weg zu Archüs Hof über Muadnats Land oder an ihm entlang gezogen sein muß und daß sie dort jemand bemerkt haben müßte.« So rasch wie möglich stiegen sie ab ins Tal. Die Gebäude des Gehöfts waren schon deutlich auszumachen: ein Wohnhaus, ein Dörrofen für Getreide gleich dahinter, eine Scheune und ein Schweinestall. Etwas weiter weg stand die ausgebrannte schwarze Ruine einer anderen Scheune, von der immer noch eine Rauchsäule aufstieg. In einer Koppel gingen ein paar Rinder. Duban ritt direkt auf das Wohnhaus zu. »Halt, wenn euch das Leben lieb ist!« Jäh hielten sie an. »Wir sind bewaffnet«, rief dieselbe Stimme, »und wir sind viele. Kehrt um dahin, wo ihr hergekommen seid, oder ...« Fidelma schob sich nach vorn. »Archü!« rief sie, denn sie hatte die Stimme erkannt. »Ich bin es, Fidelma. Wir kommen euch zu Hilfe.« Die Tür des Hauses wurde plötzlich aufgerissen, und Archü starrte sie an. In der Hand hielt er weiter nichts als ein rostiges Schwert. Scoth spähte ihm furchtsam über die Schulter. »Schwester Fidelma!« Archü blickte von ihr zu Duban und den anderen Männern. »Wir dachten, die Räuber sind wiedergekommen.« Fidelma stieg ab, und Duban und Eadulf taten es ihr gleich. Die anderen blieben im Sattel und behielten mißtrauisch die Umgebung im Auge. »Wir haben gehört, daß Banditen euren Hof überfallen haben. Ein Schäfer ritt zum rath und brachte die Nachricht.« Scoth kam heraus. »Das war Libren. Es stimmt, Schwester. Wir schliefen noch, als sie angriffen. Ihre Rufe und das Brüllen unserer Rinder weckten uns. Wir konnten uns hier verbarrikadieren. Uns taten sie nichts, aber sie trieben ein paar Rinder weg und steckten eine Scheune in Brand. Es war noch nicht hell, und wir konnten kaum sehen, was vor sich ging.« »Wer war das?« fragte Fidelma. »Habt ihr sie erkannt?« Archü schüttelte den Kopf. »Dazu war es zu dunkel. Es wurde viel herumge-schrien.« »Wie viele Räuber waren es ungefähr?« »Ich hatte den Eindruck, es waren weniger als ein Dutzend.« »Weshalb haben sie den Angriff abgebrochen?« Archü runzelte die Stirn bei Dubans plötzlicher Frage. »Abgebrochen?« »Ich sehe nur eine niedergebrannte Scheune«, bemerkte der Krieger. »Ihr habt noch Rinder in der Koppel, und ich höre Schafe und Schweine. Ihr seid unverletzt, und euer Haus ist unbeschädigt. Offensichtlich beschlossen die Räuber, den Angriff abzubrechen.« Der junge Mann sah den Krieger staunend an. Fidelma schenkte Duban einen anerkennenden Blick für seine logische Schlußfolgerung. »Ich habe mich auch schon gefragt, warum sie nicht versuchten, ins Haus einzubrechen oder es anzustek-ken«, sagte Scoth. »Es war, als wollten sie uns nur Angst einjagen.« »Vielleicht lag es an Libren, dem Schäfer«, vermutete Archü. »Als er vom Berg aus die Flammen sah, stieß er in sein Horn und kam heruntergerannt, um uns zu helfen.« »Ein tapferer Mann«, murmelte Eadulf. »Ein törichter Mann«, verbesserte ihn Duban. »Trotzdem war er tapfer.« Eadulf blieb hartnäckig bei seiner Meinung. »Ihm haben wir es zu verdanken, daß sie uns nur zwei Kühe weggetrieben haben«, meinte Scoth. »Zwei Kühe? Und das nur, weil ein Schäfer angerannt kommt, um euch zu helfen?« Duban blieb skeptisch. »Es stimmt«, versicherte Archü. »Als Libren ins Horn stieß, trieben sie die Rinder vor sich her und ritten davon.« »Das ist die ganze Beute? Zwei Milchkühe?« Archü nickte. »Welchen Weg schlugen sie ein?« fragte Eadulf. Scoth zeigte sofort das Tal hinunter zu Muadnats Ackern. »Libren sagt, sie verschwanden in der Richtung.« »Das ist der Pfad, der durch das Sumpfland, das Schwarze Moor selbst, führt. Er endet auf Muadnats Land«, erklärte Duban unsicher. »Er führt bestimmt nirgendwoanders hin«, versicherte ihnen Archü grimmig. »Wo ist dieser Schäfer?« fragte Fidelma. Scoth wies zu den Bergen im Süden. »Er weidet seine Herde dort drüben. Er blieb bis zum Morgen hier, für den Fall, daß die Räuber wiederkämen. Dann borgte er sich ein Pferd von uns, weil Archü mich nicht alleinlassen wollte, und ritt zum rath, um euch Nachricht von dem Überfall zu bringen. Er kam vor einer halben Stunde zurück und berichtete uns, daß ihr im Anmarsch seid.« »Warum hat er nicht auf uns gewartet?« »Er hatte seine Herde seit dem Morgen sich selbst überlassen«, erklärte Archü. »Hier wird er nun nicht mehr benötigt.« Fidelma sah sich um, als suche sie etwas. »Libren sagte, es sei jemand getötet worden. Wer war das und wo ist die Leiche?« Duban schlug sich vor die Stirn und stöhnte. »Ich Trottel, das hatte ich ganz vergessen.« Er wandte sich an Archü. »Wer wurde umgebracht?« Archü schaute verlegen drein. »Die Leiche liegt da drüben neben der ausgebrannten Scheune. Ich weiß nicht, wer das ist. Keiner sah, wie es passierte. Erst als wir den Brand löschen wollten, haben wir die Leiche entdeckt.« »Bei einem Überfall auf deinen Hof wird ein Mann getötet, und du weißt nichts davon?« Duban blieb skeptisch. »Komm, mein Junge, wenn es einer von den Angreifern ist, brauchst du keine Strafe zu fürchten. Du hast nur in Notwehr gehandelt.« Archü schüttelte den Kopf. »Nein, wahrhaftig, wir haben niemanden getötet. Wir hatten gar nicht die Waffen dafür. Wir verbarrikadierten uns im Haus während des Überfalls und sahen nichts. Libren war auch überrascht. Er kennt den Mann ebenfalls nicht.« »Untersuchen wir die Leiche«, forderte Fidelma sie auf, als sie merkte, daß das Reden nicht weiterführte. Einer von Dubans Männern hatte sie schon entdeckt. Er zeigte wortlos auf den Boden, als sie sich ihr näherten. Der Leichnam war der eines Mannes in den Dreißigern. Es war ein häßlicher Mann mit vernarbtem Gesicht und einer Knollennase, die anscheinend von einem Schlag plattgedrückt war. Die Augen waren dunkel, groß und blicklos. Die Kleidung war blutbesudelt und mit einem eigenartigen feinen weißen Staub bedeckt. Man hatte ihm die Kehle so tief durchgeschnitten, daß der Kopf fast vom Rumpf getrennt war. Das erinnerte Fidelma an eine Ziege oder ein anderes Haustier, das man geschlachtet hatte. Eins war klar, er war nicht im Kampf getötet, sondern vorsätzlich ermordet worden. Fidelma besah sich die Handgelenke und erkannte die Reibespuren von Fesseln. Bis vor kurzem waren seine Hände gebunden gewesen. Mit hochgezogenen Brauen schaute sie Duban an. »Diesen Mann habe ich noch nie zuvor in Araglin gesehen«, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. »Er ist fremd in diesem Tal, soviel ich weiß.« Fidelma rieb sich nachdenklich das Kinn. »Das wird immer verwirrender. Ein Überfall findet statt. Die Räuber töten einen fremden Gefangenen oder einen ihrer eigenen Leute. Sie ziehen mit lediglich zwei Milchkühen ab und versuchen nicht, mehr Beute zu machen. Warum?« »Das läßt sich leicht erklären, wenn es Muadnats Leute waren«, bemerkte Scoth grollend. »Warum nimmst du an, dieser Tote war ein Gefangener oder gehörte zu ihren eigenen Leuten?« fragte Duban und betrachtete die Leiche. »Das ist sehr wahrscheinlich«, antwortete Fidelma. »Bis vor kurzem waren ihm die Hände auf dem Rük-ken gebunden. Das erklärt auch, warum man ihm ohne Widerstand die Kehle durchschneiden konnte. Weitere Wunden hat er nicht. Er muß also ein Gefangener der Räuber oder einer von ihnen gewesen sein. Jedenfalls ist er nicht vom Himmel gefallen, oder?« Plötzlich beugte sie sich nieder und untersuchte stirnrunzelnd die Unterarme und Hände des Mannes. »Was ist?« fragte Eadulf. »Dieser Mann war harte Arbeit gewöhnt. Seht euch die Schwielen an seinen Händen an, seine Narben und den Schmutz unter seinen Fingernägeln.« Fidelma betrachtete nun das Gesicht des Toten genauer. »Erinnert dich dieser Mann an j emanden, Eadulf? Jemanden, der uns in den letzten Tagen begegnet ist?« Eadulf schaute ihn genau an und schüttelte den Kopf. »Vermute ich richtig, daß es seit gestern nicht geregnet hat?« fragte Fidelma nun Archü. Der junge Mann blickte verwirrt drein, nickte aber. Jetzt untersuchte Fidelma sorgfältig die Kleidung des Leichnams. Sie schien sich für die feine Staubschicht darauf zu interessieren. Dann stand sie auf. »Araglin wird allmählich zu einem Land voller Geheimnisse«, bemerkte sie leise. »Wir sollten wohl zu Muadnats Hof reiten.« »Meinst du, daß Muadnat hinter all dem steckt?« fragte Duban zweifelnd. »Es wäre logisch, ihn zuerst zu verhören«, erwiderte Fidelma, »besonders nach allem, was sich bisher ereignet hat.« »Da hast du wohl recht«, antwortete Duban zögernd. »Wenn wir davon ausgehen, daß es ein Räubertrupp war, dann ist es seltsam, daß Archüs Hof überfallen wurde und Muadnats nicht. Sein Hof ist leichter zu erreichen und besitzt mehr Vieh als Archüs.« Duban befahl einem seiner Männer, bei Archü zu bleiben und ihm bei der Beerdigung der Leiche zu helfen. Die übrigen saßen wieder auf und trabten den Weg zu Muadnats Hof entlang. Eadulf machte Fidelma ein Zeichen und ließ sich ans Ende der Kolonne zurückfallen. »Ist es klug, sich in diese Angelegenheit einzumischen?« fragte er so leise, daß nur sie es hören konnte. »Klug?« Sie war überrascht. »Ich dachte, wir stek-ken schon mittendrin.« »Du hast den Auftrag, den Mord an Eber zu untersuchen, nicht dich in die Fehde zwischen Archü und seinem Vetter verwickeln zu lassen.« »Das stimmt«, meinte Fidelma. »Aber ich habe das Gefühl, daß viel mehr hinter den Geheimnissen von Araglin steckt, als man uns glauben machen möchte. Sieh dir an, wie Duban und Cron ihr Verhältnis verheimlichen. Nach außen hin heißt es, Eber sei geachtet gewesen, insgeheim gibt man zu, daß er gehaßt wurde. Wo liegt die Wahrheit? Und Muadnats Abneigung gegen seinen Vetter: Ist das ein Teil der Feindschaften in diesem Tal, oder gibt es etwas, was alle diese Punkte verbindet, wie ein Spinnennetz, in dessen Mitte ein böses Wesen lauert?« Eadulf unterdrückte einen Seufzer. »Ich bin nur ein Fremder in diesem seltsamen Land, Fidelma. Ich bin auch nur ein einfacher Mensch. Ich verstehe die Feinheiten nicht, von denen du sprichst.« Er begriff, daß dies eine lahme Entschuldigung dafür war, daß er keine Vorschläge zu machen hatte. Fidelma war das auch so klar, und sie schwieg. Als sie das Haupttal erreichten, schlug Duban den Weg von dem Bergpfad durch die bestellten Äcker zu Muadnats Hof ein. Beinahe sofort sahen sie, wie ein paar Landarbeiter dem Hof zueilten. Offensichtlich hatte man sie gesehen. Eine bekannte Gestalt tauchte auf. Es war Agdae, Muadnats Neffe und Oberhirt. Breitbeinig, mit den Händen auf den Hüften, stand er auf dem Weg und sah ihnen entgegen. Einige seiner Leute hatten sich bewaffnet und kamen in drohender Haltung näher. »Empfängt man so Besuch, Agdae?« rief Duban, als sie heran waren. »Du kommst mit Bewaffneten hierher«, erwiderte Agdae ungerührt. »Meinst du es gut oder schlecht mit uns? Das müssen wir wissen, bevor wir unsere Waffen niederlegen und euch als Brüder begrüßen.« Duban parierte sein Pferd vor Agdae. »Die Antwort solltest du kennen«, sagte er. Agdae gab seinen Leuten das Zeichen, die Waffen zu senken und sich zu zerstreuen. Mit einem heuchlerischen Lächeln wandte er sich an Duban: »Was sucht ihr denn hier?« »Wo ist dein Onkel Muadnat?« wollte Duban wissen. »Ich habe keine Ahnung. Während er fort ist, führe ich hier die Aufsicht. Was wollt ihr von ihm?« »Archüs Hof ist überfallen worden.« Einen Moment zuckte es in Agdaes Gesicht. »Nun soll ich wohl Mitleid mit Archü haben, nachdem er Muadnat um das Land betrogen hat?« Fidelma wollte sich einschalten, doch Duban hob die Hand. »Siehst du die Rauchsäule dort hinter dem Berg?« fragte er. »Die sehe ich«, erwiderte Agdae gelassen. »Du siehst sie und hältst es doch nicht für nötig, Archü zu Hilfe zu kommen? Wir sind eine kleine Gemeinschaft hier in den Tälern von Araglin, Agdae. Ein Angriff auf einen unserer Höfe ist ein Angriff auf uns alle. Seit wann verweigern die Männer von Ara-glin einander die Hilfe?« Agdae zog die Schultern hoch und ließ sie mit übertriebener Gleichgültigkeit fallen. »Woher sollte ich wissen, daß der Rauch bedeutete, daß der Junge überfallen wurde?« »Das hätte dir der Rauch selber sagen müssen«, warf Fidelma rasch ein. Agdae sah sie finster an. »Tut mir leid, aber ich habe es nicht gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen wie du, dalaigh, oder verborgene Dinge zu entdecken. Für mich bedeutet Rauch nichts weiter als Rauch. Archü hätte ja auch Felder abbrennen können, um das Stroh loszuwerden. Wenn ich jedesmal losgerannt wäre, um zu sehen, was es gibt, wenn ich ein Feuer auf Bauernland sichtete, dann hätte ich mein halbes Leben damit verbracht. Außerdem, wenn ich zu Archü gegangen wäre, der hochstehende Freunde in juristischen Kreisen hat, hätte es mir passieren können, daß ich ihm noch eine Entschädigung für unbefugtes Eindringen hätte zahlen müssen.« »Eine glatte Zunge bringt einen oft zu Fall«, fauchte Fidelma, die merkte, daß Agdae auch ironisch werden konnte. »Aber nachdem du nun gehört hast, daß ein Überfall stattgefunden hat, wirst du uns vielleicht verraten, wo Muadnat sich aufhält.« Agdae grinste sie an und schwieg. Duban wiederholte die Frage in schärferem Ton. »Was soll ich euch sagen? Muadnat ist nicht hier.« »Aber wo ist er?« beharrte Duban. »Wohin ist er gegangen?« »Ich kann euch weiter nichts sagen, als daß er gestern auf die Jagd geritten ist, und wenn er wieder da ist, dann ist er wieder da.« »Welche Richtung hat er eingeschlagen?« fragte Duban hartnäckig. Agdae zuckte die Achseln. »Wer kann wissen, in welche Richtung der Falke fliegt, wenn er Beute sucht?« »Sehr schön gesagt.« Fidelma war verärgert. »Hoffen wir, daß der Falke nicht ein paar Adlern begegnet.« Agdae starrte sie verblüfft an und versuchte den Hintersinn ihrer Worte zu ergründen. »Muadnat kann sich seiner Haut wehren«, meinte er. »Daran zweifle ich nicht«, versicherte ihm Fidelma. »Sind alle eure Landarbeiter da?« »Soviel ich weiß, ja.« Agdae ging plötzlich auf ihre Fragen ein. »Was meinst du damit?« »Auf Archüs Hof wurde jemand getötet, den wir nicht kennen. Von den Räubern getötet.« Duban beschrieb den Mann. »Alle unsere Männer sind hier außer Muadnat«, erklärte Agdae. »Er ist es ja wohl nicht, sonst würdet ihr nicht nach ihm suchen.« »Also Muadnat jagt in den Bergen?« »So wie ich gesagt habe.« »Laß deine Männer hier vor mir antreten, Agdae«, befahl Duban. Agdae zögerte, doch dann gab er den Befehl weiter. Ungefähr ein Dutzend Landarbeiter stellte sich nervös Dubans forschendem Blick. Sie sahen nicht sehr eindrucksvoll aus, die meisten waren schon älter, sehnig und mit Kraft genug für den Pflug und die Sense, aber nicht für das rauhe Leben eines Viehdiebs. Duban sah Fidelma an und zuckte die Achseln. »Diese Männer gehörten sicher nicht zu den Räubern«, meinte er. »Sollen wir den Bauernhof noch weiter durchsuchen?« Fidelma schüttelte den Kopf. »Lohnt es sich, den Pfad zu suchen, von dem Archü sprach, und die Räuber weiter zu verfolgen?« fragte sie. Duban lachte trocken. »Der Weg, den er uns zeigte, führt durch einen Sumpf. Deshalb heißt die Gegend ja Schwarzes Moor. Abgesehen von dem Stück bis hierher, sind alle Wege gefährlich. Durch diesen heimtückischen Sumpf kann man keinen Weg verfolgen.« Bruder Eadulf beugte sich plötzlich im Sattel vor und sprach Agdae an: »Ich habe eine Frage an dich.« »Na, dann schieß los, Angelsachse«, erwiderte Ag-dae selbstgefällig. Eadulf wies über die Felder. »Hinter eurem Hof gibt es einen Weg, der anscheinend hinauf in die Berge im Norden führt, in die entgegengesetzte Richtung des Weges, der uns zum rath von Araglin zurückbringt. Ich dachte, es gäbe nur diesen einen Weg ins Tal und aus ihm heraus?« »Na und?« fragte Agdae. Fidelma blickte in die Richtung, in die Eadulf gewiesen hatte, und sah einen Weg, der ihr vorher nicht aufgefallen war. Er verlief an hochgelegenen Wiesen und Bauminseln vorbei zum Rand des Waldes, der die Berge auf der anderen Seite des Tals bedeckte. »Wo führt der Weg hin?« wollte Eadulf wissen. »Nirgendwohin«, erwiderte Agdae kurz. »Wir haben gehört, daß die Räuber in Richtung auf euren Hof davongeritten sind«, mischte sich Duban ein. »Wenn sie nicht den Weg genommen haben, der zurück ins Haupttal von Araglin führt, dann bleibt nur noch der Weg da oben. Wo führt der also hin?« »Zu keinem bestimmten Ort«, beharrte Agdae. »Ich habe den Angelsachsen nicht belogen.« »Was?« Duban lachte laut auf. »Jeder Weg führt doch irgendwo hin.« »Du kennst mich doch, Duban. Ich weiß über jeden Weg und jedes Nebental in dieser Gegend Bescheid. Ich sage dir, der Weg führt nirgendwo hin. Er verliert sich auf der anderen Seite der Berge.« »Ich nehme an, er sagt die Wahrheit«, antwortete Eadulf und lehnte sich anscheinend zufriedengestellt zurück. »Es ist auch nicht wichtig. Wenn die Räuber den Weg eingeschlagen hätten, dann müßte sie doch jemand auf diesem Hof gesehen haben. Ist es nicht so, Agdae?« Der schaute einen Moment verlegen drein, nickte aber dann. »Du hast recht, Angelsachse. Man hätte sie gesehen.« Fidelma war erstaunt. Sie fragte sich, weshalb Ea-dulf sich nach dem Weg erkundigt hatte, wenn er nicht auf der logischen Annahme bestand, daß die Räuber dort entkommen waren, und Duban zur Verfolgung auffordern wollte. Eadulfs Frage mußte wohl einen anderen Grund gehabt haben. Duban war noch nicht überzeugt. »Ich schicke zwei meiner Spurensucher hinauf, die sollen den Weg prüfen. Wenn sie Anzeichen von den Räubern finden, setzen wir ihnen nach.« »Sie werden nichts finden«, schnaubte Agdae. Duban gab zwei Männern ein Zeichen, und sie galoppierten davon. Agdae sah Fidelma verdrossen an. »Wie ich sehe, bist du entschlossen, meinen Onkel Muadnat als einen Schurken darzustellen, dalaigh.« »Muadnat ist in der Lage, sich selber darzustellen«, erwiderte Fidelma ungerührt. »Duban, dort kommt ein Reiter!« Einer von Du-bans Männern hatte ihn erspäht. Alle wandten sich in die Richtung um, in die er wies. Ein Reiter näherte sich auf dem Hauptweg zum rath von Araglin. Bald konnte man in ihm die schlanke Gestalt Pater Gormans erkennen. »Was geht hier vor?« rief der Priester, als er heranritt. »Du hast uns erschreckt, Pater«, entgegnete Duban. »Du schienst aus dem Nirgendwo aufzutauchen.« Er musterte die Kleidung des Priesters und fügte hinzu: »Bei so kaltem Wetter sollte man nicht ohne Mantel unterwegs sein.« Pater Gorman zuckte die Achseln. »Es war noch warm, als ich heute morgen losritt«, meinte er wegwerfend. »Aber was ist hier los?« »Hast du nicht gehört, daß Archüs Bauernhof überfallen wurde? Deshalb sind wir so beunruhigt, wenn wir Reiter in dieser Gegend antreffen.« Der Priester wurde unsicher. »Ein Überfall? Das ist schändlich. Wohl wieder diese Viehdiebe? Ich wollte sowieso zu Archü. Aber wenn die Räuber noch in der Nähe sind, sollte ich vielleicht nicht allein dort hinreiten.« »Ach«, meinte Fidelma ironisch, »die Räuber sind schon lange weg, aber du hast ja deinen Glauben, der dich sicher vor Schaden bewahrt. Auf Archüs Hof bist du bestimmt willkommen. Da liegt noch eine Leiche, die deinen Segen braucht.« Pater Gorman blickte sie zornig an. »Wer ist umgebracht worden?« fragte er. »Niemand scheint ihn zu kennen«, gestand Duban. Er wollte noch etwas hinzusetzen, als seine beiden Männer zurückkehrten. »Wir haben den Weg untersucht. Er ist zu steinig für deutliche Spuren, jedenfalls so weit, wie wir geritten sind, ungefähr eine Meile.« Duban war enttäuscht. »Ich möchte keine Zeit auf eine aussichtslose Verfolgung verschwenden«, knurrte er. »Wenn der Weg nirgendwo hinführt, hat das keinen Zweck. Ich akzeptiere deine Aussage, Agdae, aber weise deinen Onkel darauf hin, daß ich, Duban, ihn sprechen will, sobald er zurückkommt. Ich denke, hier können wir nichts weiter ausrichten.« Dabei sah er Fidelma fragend an, und sie nickte zum Einverständnis. Sie ließen Pater Gorman im Gespräch mit Agdae zurück und machten sich auf den Weg zum rath von Araglin. Erst nachdem sie aus dem Tal mit Muadnats Hof heraus waren, fragte Fidelma Eadulf leise, was ihn veranlaßt hatte, die Frage nach dem Weg in die Berge zu stellen und dann Agdaes Erklärung einfach hinzunehmen. »Ich wollte sehen, wie er darauf reagiert, denn ich hatte jemanden auf dem Weg gesehen, als wir auf den Hof zuritten. Wahrscheinlich achteten alle nur auf Agdae und seine Leute, denn außer mir scheint niemand die Gestalt bemerkt zu haben.« »Ich habe nicht einmal den Weg entdeckt«, gestand Fidelma. »Jedenfalls hat keiner ein Wort gesagt von jemandem, der den Berg hochreitet.« »Nun, ich sah, wie jemand auf einem Pferd den Weg hochjagte und im Wald verschwand.« »Wer war es? Muadnat?« Eadulf schüttelte den Kopf. »Nein. Der Gestalt nach war es kein Mann, sie war schlanker. Ich sah sie deutlich im Sonnenlicht, als wir uns dem Gehöft näherten.« Fidelma ärgerte sich immer, wenn Eadulf eine Erklärung hinauszögerte, um den Effekt zu verstärken. »Hast du die Reiterin erkannt?« fragte sie so geduldig sie nur konnte. »Ich glaube, es war Cron.« Kapitel 14 Als Fidelma aus dem Fenster des Gästehauses sah, erblickte sie einen Reiter, der durch das Tor des rath von Araglin hereinstürmte. Es war am Morgen, und sie und Eadulf hatten gerade ihr Frühstück beendet. Sie waren am vorigen Abend spät in den rath zurückgekehrt. Als sie Muadnats Hof verließen, hatte Duban entschieden, noch einen zweiten Mann zum Schutz auf Archüs Hof zu schicken. Er war jedoch überzeugt, daß Banditen für den Überfall verantwortlich seien. Als Fidelma und Eadulf sich zum Frühstück niedersetzten, hatten sie gesehen, wie Duban mit einer Kriegerschar aus dem Tor ritt, und angenommen, daß er weiter nach den Räubern suchen wollte. Daß Eadulf auf dem Weg hinter Muadnats Gehöft eine Reiterin gesehen hatte, hatten sie auf Fidelmas Drängen für sich behalten. Als Fidelma Eadulf gefragt hatte, woran er Cron denn auf diese Entfernung erkannt habe, hatte Eadulf gesagt, an dem bunten Mantel, den sie in der Festhalle getragen hatte. Zu ihrer Überraschung war der Reiter, der jetzt in den rath preschte, Muadnats Neffe Agdae. Er sprang ab und rannte zur Festhalle. »Was ist denn nun schon wieder los?« fragte Eadulf mürrisch. Mit gelassener Miene kehrte Fidelma an den Frühstückstisch zurück. »Ich habe das Gefühl, daß wir das sehr bald erfahren werden.« Wirklich verstrichen nur wenige Augenblicke, bis Dignait eintrat und sie zu Cron in die Festhalle bat. Die junge Tanist empfing sie mit düsterer Miene. »Es geht um Muadnat«, verkündete sie. »Vermutlich beschuldigt unser streitsüchtiger Freund nun Archü, seinen eigenen Pferdestall niedergebrannt zu haben. Oder was ist diesmal geschehen?« fragte Fidelma ärgerlich. »Es könnte schon sein, daß Archü eines schweren Verbrechens beschuldigt wird, Fidelma«, erwiderte Cron. »Aber diesmal kommt die Anklage nicht von Muadnat.« »Ich glaube, du solltest uns das näher erklären«, meinte Fidelma sanft. »Muadnat wurde tot aufgefunden. Er hängt an dem hohen Steinkreuz von Eoghan am Weg nach Araglin.« Fidelmas Augen weiteten sich. Sie erinnerte sich, daß Eadulf das Kreuz bewundert hatte, als sie ins Tal von Araglin kamen. »Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, steht das hohe Kreuz nicht an dem Weg zu Muadnats Hof, sondern an dem Weg, auf dem man aus der entgegengesetzten Richtung ins Tal gelangt. Wer hat die Leiche entdeckt?« »Agdae. Die Wiese oberhalb des Kreuzes gehört ihm. Agdae sagte, Muadnat habe gestern den Hof verlassen, um zur Jagd zu gehen. Erst heute morgen bemerkte Agdae, daß Muadnat nicht nach Hause gekommen war. Er machte sich auf die Suche nach ihm und fand ihn tot am hohen Kreuz hängen. Muadnat jagte oft in den Bergen dahinter. Agdae kam her, um Hilfe zu holen, und ist jetzt mit ein paar Männern auf dem Wege dorthin.« »Sicherlich hat dir Duban von unserem gestrigen Besuch auf Muadnats Hof berichtet?« sagte Fidelma. Cron nickte. »Da ist es Agdae anscheinend nicht eingefallen, uns ans Steinkreuz zu schicken, als wir nach Muadnat suchten.« »Ist das wichtig?« »Das wird sich herausstellen. Als wir Agdae gestern nach Muadnat fragten, wußte er angeblich nicht, wo der zu finden wäre. Doch als er sich heute morgen um Muadnat Sorgen machte, weil der nicht zurück war, wußte er genau, wo er ihn zu suchen hatte.« »Nun, Agdae beschuldigt bereits Archü dieses Mordes.« »Mit welcher Begründung?« »Archü ist als einziger in Araglin mit Muadnat verfeindet. Er sagt, daß Archü durch dich Muadnat die Schuld an dem Überfall auf seinen Hof gestern gab.« »Das stimmt nicht ganz.« Fidelma wandte sich an Eadulf. »Wir sollten lieber zu dem Kreuz reiten und uns selbst kundig machen.« Er stimmte ihr zu und fragte Cron: »Wie lange wird es dauern, bis Duban zurückkommt? Es könnte sein, daß wir ihn brauchen, um Archü vor Agdaes wilden Beschuldigungen zu schützen.« »Warum verbringt ihr eure Zeit mit dieser Angelegenheit?« fragte Cron verärgert. »Sie hat nichts mit dem Tod meines Vaters Eber oder mit Teafas Tod zu tun. Ihr solltet euch lieber damit befassen, den Mörder zu ermitteln, wenn es, wie ihr jetzt wohl behauptet, nicht Moen ist ... obwohl ich glaube, daß es großer Überredungskunst bedarf, um die Bewohner von Araglin von seiner Unschuld zu überzeugen.« »Ich finde, daß es besser ist, für alles offen zu sein, wenn man eine Untersuchung durchführt«, entgegne-te Fidelma heftig. »Es gibt viel Heimlichtuerei in Ara-glin. Man hat mir Dinge erzählt, die nicht wahr sind. Ich weiß nicht, ob der Tod Muadnats etwas mit der Ermordung Ebers und Teafas zu tun hat. Wenn du es besser weißt, würdest du dann bitte dein Wissen mit mir teilen?« Cron hatte Mühe, ihre Miene zu beherrschen, und Fidelma beobachtete mit Befriedigung, daß Unsicherheit und sogar Furcht sich in ihr spiegelten. Nach einem kurzen Moment hatte sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle. »Nein, ich verfüge nicht über solche Erkenntnisse. Ich habe nur eine Bemerkung gemacht, die ich für logisch halte. Wenn ihr zu dem hohen Kreuz reiten müßt, dann tut es nur. Aber ich meine, eure Untersuchung dieser Angelegenheit dauert schon reichlich lange und hat bisher zu keinem Ergebnis geführt.« »Sie dauert so lange wie nötig«, erwiderte Fidelma entschieden. »Die Leute müssen Geduld haben.« »Agdae hat vielleicht keine Geduld. Er hat geschworen, Archü zu suchen und Rache zu nehmen.« Fidelma sah Cron durchdringend an. »Dann würde ich dir raten, Duban zu holen und ihn Agdae festsetzen zu lassen, wenn du nicht willst, daß auf eine Ungerechtigkeit eine weitere folgt. Vielleicht sollte man Archü und Scoth zu ihrem eigenen Schutz in den rath bringen, bis ich die Angelegenheit geklärt habe.« »Agdae war mit Muadnat verwandt, wie ich auch. Er wird es nicht dulden, daß der Mörder seiner gerechten Strafe entgeht«, sagte Cron kühl. »Dann«, erwiderte Fidelma ebenso eisig, »müssen wir dafür sorgen, daß der Mörder oder die Mörderin gefunden wird, wer es auch sein mag.« Sie schritt rasch aus der Festhalle, gefolgt von Ea-dulf. Kurz darauf ritten sie in scharfem Trab dem hohen Kreuz zu. Critan war schon dort mit zwei stämmigen Männern, dem Anschein nach Landarbeitern. In der Nähe stand ein Esel, dem man offensichtlich die Leiche Mu-adnats aufladen wollte. Sie bereiteten sich gerade darauf vor, die Leiche vom Kreuz herunterzuholen. Mu-adnat hing an einem Seil um den Hals, das man um den Querbalken des Granitkreuzes geschlungen hatte. Seine Füße befanden sich nur wenige Zoll über dem Erdboden. Fidelma sah sofort die Blutflecke auf seinem Hemd, die davon zeugten, daß man ihm schwere Verletzungen zugefügt hatte, als er noch lebte. Der eine Landarbeiter, der gerade eine Leiter an die Rückseite des Kreuzes stellen wollte, bemerkte plötzlich das Herannahen der beiden Reiter, hielt inne und sagte leise etwas zu seinen beiden Gefährten. Sie drehten sich um und sahen Fidelma und Eadulf feindselig an. Critän trat ihnen hochmütig entgegen. »Ihr seid hier nicht willkommen«, begrüßte er sie. Ungerührt parierte Fidelma ihr Pferd und stieg ab. »Wir haben auch nicht um ein Willkommen gebeten«, antwortete sie ruhig. Eadulf saß ebenfalls ab und band sein Pferd mit Fi-delmas zusammen. Critän stand mit den Händen in den Hüften da. Er starrte Fidelma wütend an. Er würde es ihr nie verzeihen, daß sie ihn gedemütigt hatte. Jetzt ließ er seinem Zorn freien Lauf. »Es wäre besser, wenn du verschwindest, Frau. Zweimal hast du Archü bei seiner Fehde gegen Mu-adnat geholfen. Jetzt siehst du, wohin das geführt hat. Diesmal kommt Archü wieder davon. Es wird dir auch nicht gelingen, dieses Teufelsgeschöpf freizubekommen, nachdem es Eber und Teafa ermordet hat.« Sein Ton war so drohend wie seine Worte. Fidelma stand anscheinend unbesorgt da, die Hände sittsam vor sich gefaltet, sie lächelte den jungen Mann sogar an. »Ich bin Anwältin bei den Gerichten der fünf Königreiche, Critän«, sagte sie freundlich. »Wagst du es, mich zu bedrohen?« Arroganz und Unerfahrenheit verdrängten sogar Critans angeborene Verschlagenheit. Er schob das Kinn vor. »Hier ist Araglin, Frau. Hier hast du weder den Schutz deiner Kirche noch den der Krieger deines Bruders.« Beunruhigt sah er, wie Fidelma noch breiter lächelte. »Ich brauche sie nicht, um mich hier durchzusetzen«, erwiderte sie. Die beiden Landarbeiter standen unschlüssig da und überließen Critan das Reden. Der mit der Leiter schien zu begreifen, daß der junge Krieger mit seinen Drohungen wohl zu weit gegangen war. Er setzte die Leiter ab und trat vor. »Es stimmt, daß du hier nicht erwünscht bist, Schwester«, sagte er in etwas respektvollerem Ton. »Unser Verwandter«, er wies mit dem Daumen über die Schulter zum Kreuz, »ist ermordet worden, und wir wissen, wer dafür zu bezahlen hat. Du solltest dich um deine eigenen Dinge kümmern.« »Ihr habt euch anscheinend schon entschieden, wen ihr für Muadnats Tod bestrafen wollt, ob er nun schuldig ist oder nicht«, bemerkte Eadulf trocken. »Wäre es nicht besser, damit zu warten, bis der wahre Schuldige gefunden ist?« »Niemand hat dir gesagt, daß du dich hier einmischen sollst, Angelsachse«, fuhr ihn Critan an. »Jetzt haut ab, alle beide. Ich kann euch nur warnen.« Fidelmas Mundwinkel zogen sich zu einer fast wehmütigen Miene herab. Das war immer ein gefährliches Zeichen, doch nur Eadulf wußte es. Sie hatte bemerkt, daß der junge Mann seine Worte mühsam wählte, sein Gesicht gerötet war, seine Augen glänzten und seine Gesten fahrig waren. Bei näherem Hinsehen war ihr klar geworden, daß er sich an diesem Morgen Mut angetrunken hatte. »Ich will dein schlechtes Benehmen übersehen, Critan, und diesmal noch deine Jugend und deine Unerfahrenheit berücksichtigen. Jetzt möchte ich Muad-nats Leiche untersuchen, und ich tue das kraft meines Amtes.« Mit drohenden Worten hatte Critan nichts erreicht, und das verblüffte ihn. Hilfesuchend sah er die beiden Landarbeiter an. Sie schauten verlegen zu Boden. Critan merkte, daß er sich erneut vor anderen blamierte. »Dies sind Verwandte Muadnats«, erklärte er störrisch. »Wir werden dir nicht gestatten, das Gesetz zu verdrehen, damit Archü unserer Gerechtigkeit entgeht.« »Sind sie denn Zeugen des Mordes gewesen?« fragte Fidelma und zeigte plötzlich mit dem Finger auf den, der etwas vernünftiger mit ihr gesprochen hatte: »Du da, hast du gesehen, wie Archü Muadnat umbrachte?« Der Mann wurde rot. »Nein, natürlich nicht, aber ...« »Und du?« fuhr Fidelma den zweiten Mann an. »Wer sonst als Archü würde so was machen?« erwiderte er trotzig. »Wer sonst? Verlangt nicht das Gesetz, das zu untersuchen, bevor ihr Rache nehmt an einem, der vielleicht unschuldig ist?« Critan mischte sich mit höhnischem Lachen ein. »Du kannst gut mit Worten umgehen, Frau. Aber wir haben jetzt genug von Worten. Verschwinde von hier, ehe ich dir Beine mache.« Er legte die Hand ans Schwert. Die Geste war eindeutig. Eadulf, rot vor Zorn, trat entschlossen vor, doch Fidelma hielt ihn energisch zurück. »Willst du eine Frau bedrohen?« fragte er grollend. »Gar noch eine Nonne?« Critan hatte bereits das Schwert gezogen. Sein Gesicht war gerötet, seine Augen glänzten. »Bleib stehen, Eadulf«, warnte Fidelma. Der eine Landarbeiter, der etwas vernünftiger zu sein schien, betrachtete Critan unruhig. Eine Drohung mit Worten war eine Sache, aber ein tätlicher Angriff auf eine Nonne und eine Anwältin dazu, das war ihm zuviel. »Vielleicht sollten wir sie doch die Leiche untersuchen lassen«, meinte er schüchtern. Die Vorstellung, vor dieser Frau das Gesicht zu verlieren, machte den arroganten jungen Mann noch störrischer. »Ich sage, was hier getan wird«, beharrte er beinahe weinerlich. »Critan«, erwiderte der andere unsicher, »sie ist nicht nur eine Nonne, sondern .« »Sie ist die, deren falsche Schlangenzunge Archü erlaubte, sich das zu nehmen, was Muadnat gehörte. Sie ist auch für seinen Tod verantwortlich!« »Critan!« Fidelma sprach leise, aber deutlich. »Steck dein Schwert ein, geh zum rath und schlaf deinen Rausch aus. Deine Unhöflichkeit werde ich übersehen.« Der junge Mann zitterte nun beinahe vor Wut. »Wenn du ein Krieger wärst ...«, stammelte er. Fidelmas Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wenn du mir mit körperlicher Gewalt drohen willst, dann laß dich dadurch nicht daran hindern.« »Critan«, rief der Mann, der die Leiter hatte an das Kreuz stellen wollen. Doch der hob das Schwert und machte einen Schritt nach vorn. Fidelma winkte ihm zu schweigen und allen, etwas zurückzutreten. Eadulf sah den Zorn auf ihrer Stirn. Er beobachtete, wie sie sich leicht breitbeinig hinstellte und die Arme locker herabhängen ließ. Ihre Stimme wurde leise und zischend. »Knabe! Jetzt bist du zu weit gegangen. Deine Jugend und deine Trunkenheit sind keine Entschuldigung mehr. Wenn du dein Schwert gebrauchen willst, dann tu es doch. Selbst eine vom Alter gebeugte Frau wird mit einem kleinen Kind wie dir fertig.« Die eiskalt gesprochenen Worte taten die beabsichtigte Wirkung. Critan heulte auf vor Wut. Mit erhobenem Schwert rannte er an. Fidelma stand einfach da und erwartete seinen Angriff. Eadulf schwankte, ob er vorspringen und sich schützend vor sie stellen sollte oder stehen-bleiben, weil er ahnte, was kommen würde. Er hatte in Rom gesehen, wie Fidelma ihr ungewöhnliches Können bewies. Sie war eine Meisterin in der Kunst, die sie troid-sciathagid nannte, Selbstverteidigung. Sie erklärte ihm, daß die irischen Mönche und Nonnen weit reisten, um den neuen Glauben zu predigen, oft allein und unbewaffnet. Da sie es für unrecht hielten, Waffen zu tragen, hatten sie eine Kunst der waffenlosen Selbstverteidigung gegen Räuber und Banditen entwickelt. Der Kampf, wenn man ihn so nennen wollte, war in Sekunden vorbei. In einem Moment stürmte der junge Mann mit erhobenem Schwert auf Fidelma zu, und im nächsten Moment lag er rücklings am Boden, und Fidelma stand mit einem Fuß fest auf dem Gelenk der Hand, die das Schwert umfaßte. Sie hatte sich kaum bewegt und ihn einfach über ihre Schulter geworfen. Eadulf wußte, daß ein Trick dabei war. Der eigene Schwung hatte den Critan fortgerissen. Nun lag er betäubt da und schnappte nach Luft. Die beiden Landarbeiter starrten verwundert auf den niedergeworfenen Burschen. Eadulf trat vor, beugte sich hinunter und hob das Schwert auf. Er schaute Critan an, roch seinen Atem und schüttelte traurig den Kopf. »Plures crapula quam gladius«, tadelte er ihn. »Da du kein Latein verstehst, mein Junge, das bedeutet: Trunkenheit tötet mehr Menschen als das Schwert.« Fidelma wandte sich an die Landarbeiter. »Einer von euch bringt ihn jetzt zurück in den rath zu eurer Tanist und sorgt dafür, daß er seinen Rausch ausschläft. Wenn er wieder nüchtern ist, könnt ihr ihm sagen, daß es mit seiner Absicht, Krieger zu werden, vorbei ist. Sagt Cron, eurer Tanist, daß ich das angeordnet habe. Er soll sich von nun an als Hirt oder Pflüger betätigen. Im Königreich Muman wird er keine Waffen mehr tragen. Nur wegen seiner Jugend und Trunkenheit werde ich seinen Angriff auf mich nicht weiter verfolgen.« Einer der Männer kam heran und stellte den immer noch benebelten jungen Mann auf die Füße. Er wollte Eadulf das Schwert aus der Hand nehmen, doch Fidelma verwehrte es. »Scharfe Messer sind kein Spielzeug für Kinder«, bestimmte sie. »Behalte es, Eadulf.« Der Mann, der die Leiter hatte aufstellen wollen, murmelte: »Wirf mich nicht mit dem törichten Jungen in einen Topf, Schwester.« Fidelma erwiderte nichts und beobachtete, wie der andere Mann Critan auf dem Weg zum rath von Ara-glin halb zog und halb schleppte. Eadulf verzog das Gesicht. »Wenn er im rath anlangt, wird er wieder nüchtern sein.« Fidelma seufzte kurz und wandte sich dann der Leiche zu, die an dem hohen Kreuz hing. »Ich brauche einen Moment deine Leiter«, sagte sie zu dem übriggebliebenen Landarbeiter. Der Mann stellte sie an das Kreuz, und Fidelma stieg hinauf, während Eadulf ihm half, die Leiter zu halten. Trotz des geronnenen Blutes und des Seils konnte Fidelma erkennen, daß Muadnats Kehle mit einem raschen gekonnten Schnitt durchtrennt worden war, der fast den Kopf vom Rumpf löste. Es war kein schöner Anblick, er erinnerte an die Schlachtung eines Tieres. Das viele Blut ließ darauf schließen, daß man ihm erst die Kehle durchgeschnitten und ihm danach ein Seil um den Hals gelegt und ihn am Kreuz aufgehängt hatte. Warum hatte man den Toten auch noch gehängt? Ihr schien es fast, als habe man ein schwarzes Ritual vollzogen. Sie besah sich die Leiche sorgfältig, entdeckte aber keine weiteren Hinweise. Das Seil war ein üblicher, aus Fasern gedrehter Strick. Von dem Messer, mit dem ihm die tödliche Wunde beigebracht worden war, war nichts zu sehen. Sie stieg wieder herunter. »Du kannst die Leiche jetzt abnehmen«, erklärte sie dem Landarbeiter. Eadulf half ihm dabei. Inzwischen ging Fidelma in immer größeren Kreisen um das Kreuz herum, den Blick auf den Boden gerichtet. Nach einer Weile blieb sie plötzlich stehen und holte tief Atem. »Eadulf!« Er kam sofort zu ihr. Sie deutete zur Erde. Eadulf betrachtete unsicher das Gras. Da waren Flecke. »Blutspritzer?« vermutete er. Sie nickte. »Schau sie dir genau an.« Eadulf bückte sich und sah, daß auf Grashalmen und einer breitblättrigen Pflanze Blut angetrocknet war. »Meinst du, daß man ihm hier die Kehle durchgeschnitten hat?« »Die Annahme erscheint mir begründet«, erwiderte Fidelma. »Sonst noch etwas?« Eadulf wollte sich schon erheben, als er noch einmal hinschaute und mit einem kurzen Ausruf etwas aufhob. »Was ist das?« fragte Fidelma. »Ein Büschel Haare.« Eadulf stand auf und hielt es in der offenen Hand. »Dickes rotes Haar«, bestätigte Fidelma. »Menschenhaar.« »Meinst du, es hat etwas mit dem Mord zu tun?« »Es sieht aus, als sei es mit den Wurzeln ausgerissen worden. Schau dir die Enden an«, antwortete sie, ohne auf seine Frage einzugehen. Nachdem er die Haare betrachtet hatte, nahm sie sie vorsichtig und tat sie in ihr marsupium, den Lederbeutel, den sie immer an der Hüfte trug. »Ich glaube, jetzt kehren wir am besten zum rath zurück, Eadulf. Hier ist kaum noch etwas zu tun. Ich möchte Agdae befragen. Agdae! Warum ist er denn nicht hier?« fragte sie. Sie wandte sich an den Landarbeiter, der Muadnats Leiche auf dem geduldig wartenden Esel festband. »Kam Agdae zurück, nachdem er Hilfe aus dem rath geholt hatte?« »Nein, Schwester«, antwortete der Mann sofort. »Er ließ Critan und meinen Freund und mich hier, damit wir die Leiche abnehmen und zu Muadnats Hof schaffen sollten. Ich glaube, er hat sich gleich auf die Suche nach Archü gemacht.« Fidelma stöhnte. »Sagtest du nicht vorhin, daß du auch mit Muadnat verwandt bist?« fragte sie. Der Mann nickte. »Ja, wie die meisten hier im Tal, auch die Tanist.« »Wenn Muadnat so viele Vettern hatte, warum hegte er dann ausgerechnet von Archü eine so schlechte Meinung?« Die Antwort kam ohne Zögern. »Er haßte Archüs Vater, einen Ausländer. Muadnat meinte, Archüs Vater Artgal hätte kein Recht gehabt, die Liebe seiner Verwandten Suanach zu stehlen.« »Die Liebe zu stehlen?« Fidelma verzog das Gesicht. »Das ist eine interessante Formulierung. Wem soll denn Suanachs Liebe gestohlen worden sein? Das deutet darauf hin, daß die Frau gegen ihren Willen an Artgal gebunden war. Verhielt es sich so?« Dem Mann war das Gespräch sichtlich unbehaglich. »Muadnat hatte sie mit Agdae verheiraten wollen. Doch Suanach wollte ihn nicht. Sie liebte Archüs Vater Artgal sehr.« »Also war Muadnats eigene verdrehte Anschauung von dieser Ehe schuld an dem ganzen Streit?« »Vermutlich, aber den Toten soll man nichts Schlechtes nachsagen.« Der Mann wollte offenbar nicht weiter darüber reden. »Dann sprechen wir lieber von den Lebenden. Sprechen wir von Archü und Agdae. Versuchen wir, Ungerechtigkeit gegenüber den Lebenden zu verhindern«, erwiderte Fidelma. »Ist die Abneigung gegen den Vater auf den Sohn übertragen worden?« fragte Eadulf. »Soll Archü dafür büßen, daß Muadnat seinen Vater nicht mochte? Das wäre in höchstem Maße ungerecht.« »Das ist sicher sehr ungerecht, aber noch kein Grund für Archü, Muadnat umzubringen«, erwiderte der Landarbeiter. »Bist du sicher, daß er das getan hat?« »Agdae hat es doch gesagt.« »Muß Agdaes Behauptung deshalb wahr sein? Du hast uns gerade erzählt, daß Agdae genausoviel Grund hat, Archü zu hassen, wie Muadnat, wenn nicht mehr.« »Agdae ist schließlich auch Muadnats Adoptivsohn, nicht nur sein Neffe. Sollte er nicht die Wahrheit kennen?« »Sein Adoptivsohn?« Das interessierte Fidelma. »Also hat Muadnat keine Frau und keine eigenen Kinder?« »Nein, nicht, daß ich wüßte. Agdae war sein Neffe, doch Muadnat hat ihn von Kind an aufgezogen.« »Agdae wird also Muadnats Hof erben?« »Das nehme ich an.« Fidelma ging zu ihrem Pferd. »Du kannst die Leiche zu Muadnats Hof bringen«, sagte sie. »Ich bin hier fertig. Wenn du Agdae eher siehst als ich, dann warne ihn vor jeder Handlung, mit der er sich den Zorn des Gesetzes zuziehen würde. Ihr wißt beide, was ich damit meine.« Sie schwang sich aufs Pferd. Eadulf tat es ihr gleich. »Wohin jetzt?« fragte er, als sie bereits den Berghang hinunterritten. »Zu Archüs Hof natürlich.« »Meinst du, daß dieser Mord mit dem an Eber und Teafa in Verbindung steht?« »Es ist zumindest merkwürdig, daß sich in diesem schönen Tal von Araglin, in dem jahrelang niemand gewaltsam zu Tode kam, innerhalb weniger Tage mehrere solcher Gewalttaten ereignen. Bisher sichere und wohlbehütete Bauernhöfe werden überfallen. Vieh wird weggetrieben, seltsamerweise aber jedesmal nur ein paar Rinder. Die Morde an Eber, Teafa, Mu-adnat und einem fremden Mann, den wir nicht kennen, können doch nicht alle nur zufällig geschehen sein. Ich muß gestehen, Eadulf, ich glaube nicht sehr an Zufälle. Ich ziehe es vor, die Tatsachen zu prüfen, und nur wenn es sich ohne jeden Schatten eines Zweifels erweist, daß es Zufälle waren, will ich das glauben.« Sie schwieg und setzte ihr Pferd in einen leichten Galopp. »Wir müssen schnell zu Archü, falls Agdae tatsächlich Rache an ihm nehmen will.« Eadulf hatte Mühe, mit Fidelma mitzuhalten, denn sie war eine ausgezeichnete Reiterin. Sie besaß auch ein gutes Ortsgedächtnis und fand sofort den Weg am Fluß entlang, an der Hütte der Prostituierten Clidna vorbei und den gewundenen Pfad hinauf in die Berge und in das ungewöhnliche, L-förmige Tal des Schwarzen Moors, das Muadnat so lange beherrscht hatte. Fidelma hatte schon in frühester Kindheit reiten gelernt. Saß sie im Sattel, verschmolz das Pferd gleichsam mit ihrem eigenen Körper und Willen und gehorchte ihr auf den leisesten Druck wie durch Gedankenübertragung. Sie liebte die dadurch gewonnene Freiheit. Wenn sie sich leicht im Sattel vorbeugte und den Wind im Haar spürte und wenn das Land an ihr vorüberflog, dann erbebte sie vor Freude. Der Trommelschlag der Hufe fand ein Echo im Rhythmus ihres Körpers und regte sie zu ungehinderter Meditation an. Für eine Weile schien sie der Welt kleinlicher menschlicher Rachsucht entrückt, wurde eins mit der Natur, atmete die warme Frühlingsluft, genoß den Geruch der Wälder und Felder, empfand die sanfte Wärme der Sonne. Fast schloß sie die Augen vor schierer Sinnenfreude. Dann riß sie sich zusammen und fühlte sich beinahe schuldig. Menschen waren getötet worden, und sie hatte die Pflicht, festzustellen, warum und von wem. Ihre Augen öffneten sich weit. Sie erblickte zwei Reiter auf dem Weg vor ihr und erkannte sogleich Duban und einen seiner Männer. Sie parierte ihr Pferd und ließ sie herankommen. Eadulf hielt neben ihr. »Ich habe es bereits gehört, Schwester«, erklärte ihr Duban, noch bevor sie etwas sagen konnte. »Cron sandte mir die Nachricht. Ich habe zwei meiner Leute bei Archü und Scoth stationiert. Sie wollen ihren Hof nicht verlassen, sind aber in sicheren Händen.« »Agdae hast du also nicht gesehen? Ich hörte, er sei diesen Weg geritten.« Duban schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß er versuchen wird, Archü etwas anzutun, wenn er weiß, daß meine Männer bei ihm sind. Seine Wut wird sich schon wieder legen. Er wird zur Vernunft kommen und begreifen, daß Archü nicht für Muadnats Tod verantwortlich ist.« Fidelma sah ihn etwas verwundert an. »Du scheinst dir dessen sehr sicher zu sein? Ich würde nur behaupten, daß ich es für unwahrscheinlich halte, daß Archü Muadnat umgebracht hat.« »Ich weiß, daß er es nicht getan hat«, antwortete Duban ernst. Fidelma zog unwillkürlich die Brauen hoch. »Du weißt es?« »Ja. Das ist einfach. Gestern ließ ich zwei Mann bei Archü und Scoth zurück. Sie können bezeugen, daß keiner von beiden den Hof verlassen hat.« »Wie dumm von mir, daß ich daran nicht gedacht habe«, gestand Fidelma ein. »Also brauchen wir Archüs Unschuld nicht erst zu beweisen. Aber nun müssen wir herausbekommen, wer der Schuldige ist.« »Ich bin auf dem Rückweg zum rath«, sagte Du-ban. »Ich staune, daß dich Critan nicht begleitet. Er sollte heute früh den Befehl über die Wache übernehmen.« Fidelma berichtete ihm kurz, was sich ereignet hatte. Duban schien es nicht sehr zu überraschen. »Ich ahnte, daß der Bursche nicht den wahren Kriegergeist besitzt. Er hat Ehrgeiz, aber keinen Leistungswillen.« »Sein Problem ist, daß er über die Fähigkeiten eines Kriegers verfügt, aber nicht über seine Moral. Er ist wie ein Pfeil, der den Bogen verlassen hat, doch ohne die Lenkfedern«, meinte Fidelma. »Das verstehe ich wohl, Schwester. Ich erkenne die Gefahr durchaus, die daraus entstehen kann. Ich werde es mit Cron besprechen.« »Ich hoffe, daß sie wie in anderen Dingen auch darin deinem Rat folgt.« Mit zusammengekniffenen Augen musterte Duban mißtrauisch ihr ausdrucksloses Gesicht. Auf seine unausgesprochene Frage antwortete sie: »Ich bin nicht naiv.« »Das habe ich auch nicht angenommen«, gestand Duban. »Gut. Denk immer daran. Sprich mit Cron und erkläre ihr, daß es besser ist, die Wahrheit zu sagen, besser als die halbe Wahrheit zu sagen oder zu lügen.« Sie verabschiedete sich und winkte Eadulf, ihr zu folgen. Sie ritten weiter den Weg am Berghang entlang, und nach einer Weile rief Eadulf ihr zu: »Sie sind fort. Was wolltest du Duban damit zu verstehen geben?« Fidelma parierte ihr Pferd. »Ich habe nur ein Samenkorn gelegt«, vertraute sie ihm fröhlich an. »Es wird Zeit, daß man aufhört, uns Halbwahrheiten und Lügen aufzutischen, und uns endlich jemand die Wahrheit sagt.« »Aber hast du damit nicht Cron und Duban angedeutet, daß du sie der Mittäterschaft verdächtigst, und sie gewarnt?« »Wenn man einen Fuchs aufstöbern will, muß man manchmal seinen Bau aufgraben.« »Ich verstehe. Du rechnest damit, daß sie irgendwie reagieren?« »Wir werden sehen, ob sie es tun oder nicht.« Eadulf schnaufte mißbilligend. »Oft ist das gefährlich, denn ein in die Enge getriebener Fuchs dreht sich manchmal um und beißt seinen Verfolger. Wo wollen wir jetzt eigentlich hin? Archü weiß sicher auch nicht mehr?« »Zu Archü brauchen wir nicht mehr zu reiten, denn wir wissen, daß er sicher ist, und von Agdae ist hier nichts zu sehen.« »Wohin dann?« »Zu dem Weg, den du gestern entdeckt hast. Ich möchte wissen, wohin er führt.« »Wäre es nicht besser, wir hätten Begleiter dabei?« fragte Eadulf unschlüssig. »Wenn nun der Weg zum Versteck der Viehdiebe führt?« Fidelma lächelte. »Hab keine Angst, Eadulf. Ich werde mich nicht absichtlich in Gefahr bringen.« »Es sind auch nicht deine Absichten, die ich fürchte«, murmelte Eadulf. Zum erstenmal seit langer Zeit lachte sie vergnügt und machte ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Schließlich kamen sie zu dem Weg, von dem aus man das Tal überblickte, in dem Muadnats Hof lag. Fidelma hielt an und musterte die Felder und Gebäude eingehend. »Ich möchte nicht, daß irgend jemand auf Muad-nats Hof uns sieht«, meinte sie. »Ich wüßte nicht, wie wir den Weg erreichen, wenn wir nicht über seinen Hof reiten«, wandte Eadulf ein. »Hinter dem Feld dort gibt es eine kleine Senke, die sich quer durch das Tal zieht«, erwiderte Fidelma. »Ich denke, es ist ein Graben oder ein Bach. Am Rand wachsen an einigen Stellen Bäume und Büsche. Wenn wir einen Weg dort hinunter finden, sieht man uns wahrscheinlich nicht vom Hof aus, bis wir die andere Seite des Tals und den Weg dort erreichen.« Eadulf erschien das zweifelhaft, doch da sie sich so entschlossen zeigte, ritt er voraus. Sein Pferd suchte sich einen Weg den steilen Hang hinunter, er umging einige bestellte Felder und erreichte schließlich den Schutz der Bäume, durch die der Graben verlief. Fidelma hatte es richtig gesehen, in der Senke floß ein kleiner Bach, kaum zwei Meter breit. Der Graben bot ihnen Sichtschutz, und sie folgten ihm durch den Talgrund. Es dauerte nicht lange, dann hatten sie das Tal durchquert und kamen hinter dem Gehöft heraus, auf das sie nun von oben hinabblickten. Nichts bewegte sich dort, auch bei den Scheunen und auf den Feldern waren keine Arbeiter zu sehen. Nach einiger Zeit erreichten sie den zweiten Weg und folgten ihm hinauf in die nördlichen Berge. »Na«, meinte Fidelma, als sie den Weg sorgsam untersuchte, »man kann nicht gerade behaupten, daß er nicht benutzt wird. Dubans Leute haben ihn offensichtlich nicht weit genug verfolgt. Am Fuße der Berge mag er ja steinig sein, aber hier oben sieht man deutlich die Spuren von Pferden und Eseln und sogar von einem Wagen.« Eadulf machte ein besorgtes Gesicht. »Sollten wir nicht lieber auf Dubans Krieger warten?« Fidelma warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Schweigend ritten sie den Weg weiter, der sich nun an der Flanke eines steilen Berges hinzog, dem Tal des Schwarzen Moors entgegengesetzt, bis Eadulf erkannte, daß sich der Weg gänzlich gedreht hatte. »Wir sind jetzt auf der anderen Seite des Berges hinter Muadnats Gehöft.« Er zeigte nach oben. »Siehst du, wo die Sonne steht?« »Das ist wirklich ein gewundener Pfad«, pflichtete ihm Fidelma bei. Interessanterweise verlief der Weg jetzt eben und hielt sich auf gleicher Höhe am Berghang. Er führte erst nach Osten und bog plötzlich nach Süden ab zu einem hohen Plateau. »Das verstehe ich nicht. Wir haben einen ganzen Kreis beschrieben«, rätselte Fidelma. »Nicht nur das«, lächelte Eadulf. »Ich glaube, wir bewegen uns parallel zu dem Teil des Tals, in dem Archüs Hof liegt.« Er wies auf den Berghang zu ihrer Rechten. »Wenn wir auf den Gipfel dieses Berges steigen würden, könnten wir auf Archüs Land hinabsehen, vielleicht sogar auf sein Gehöft.« Fidelma nickte. Eine halbe Meile weiter kamen sie in einen dichten Wald, der auch den Berg bedeckte. Der Weg führte gerade in den Wald hinein und blieb so breit wie eine Wagenspur. Er wurde anscheinend regelmäßig befahren. »Das geht ja endlos weiter«, murrte Eadulf. »Vielleicht sollten wir lieber umkehren, denn sonst erreichen wir den rath nicht mehr vor Sonnenuntergang.« »Nur noch ein bißchen weiter«, lockte ihn Fidelma. »Ich glaube, wir kommen bald ...« Sie hielt plötzlich an und winkte Eadulf zurück. »Wir führen unsere Pferde in den Wald und gehen zu Fuß weiter«, befahl sie. »Ich meine, da vorn ist etwas.« Eadulf wollte protestieren, tat es dann aber doch nicht. Sie führten die Pferde ein Stück in den Wald, nicht weit, doch weit genug, daß man sie vom Weg aus nicht sehen konnte. Dann schlichen sie parallel zum Weg weiter, Fidelma voran. Bald erkannten sie, daß sie sich einer Lichtung näherten. Ein plötzliches Krachen ließ sie zusammenfahren, doch dann merkten sie, daß dort jemand Holz spaltete. Vorsichtig blieben sie am Rand der Lichtung stehen. Der Wind fuhr durch das Gras der weiten Fläche, aus der verstreute graue Granitfelsen aufragten. In einer provisorisch mit Leinen abgeteilten Koppel standen ein paar Pferde, daneben ein Dutzend Esel, kleine, stämmige Lasttiere. Neben einem Wagen briet ein Stück Fleisch am Spieß über einem Feuer. Ein Mann, den sie nicht kannten, hackte Holz. Anscheinend waren noch weitere Männer mit anderen Arbeiten beschäftigt. Fidelma musterte sie genau. Sie legte Eadulf die Hand auf den Arm und wies hinüber zur anderen Seite der Lichtung. Dort befanden sich in einer kleineren Umzäunung ein paar Kühe, kauten geduldig wieder und kümmerten sich nicht um das Schicksal ihrer einstigen Gefährtin, die den Männern nun eine Mahlzeit liefern würde. Etwas höher am Hang öffnete sich ein ungefähr mannshoher Eingang zu einer Höhle. Der ihn umgebende Fels war kahler blaugrauer Granit, und ein Vorsprung aus demselben Gestein überragte schützend den Höhleneingang. Auf dieser Lichtung endete der geheimnisvolle Weg. Daran gab es keinen Zweifel. Sie waren zu dem Versteck der Viehdiebe gelangt. Fidelma und Eadulf wechselten Blicke. Eadulf wunderte sich sichtlich, doch Fidelma hatte ein paar Werkzeuge bemerkt, die neben dem Wagen lagen, und ihr ging ein Licht auf. Sie wollte Eadulf schon das Zeichen zum Rückzug geben, als am Höhleneingang Bewegung entstand. Ein großer, kräftiger Mann trat heraus, blinzelte ins Licht, gähnte und reckte die Arme gen Himmel. Er hatte einen groben roten Bart und schulterlanges Haar. Das häßliche Gesicht gehörte unverkennbar Men-ma, dem obersten Pferdewärter des rath von Araglin. Kapitel 15 Schweigend ritten sie zum Rand des Waldes zurück. Fidelma war in Nachdenken versunken. Eadulf unterdrückte mit Mühe die vielen Fragen, die ihm durch den Kopf gingen. Als sie schließlich aus dem Schatten des Waldes herauskamen, konnte er sich nicht länger beherrschen. »Was meinst du, was das zu bedeuten hat, Fidelma?« wollte er endlich wissen. »Wenn ich das wüßte, hätte ich vielleicht den Schlüssel zu diesem ganzen Geheimnis«, antwortete sie. »Jedenfalls haben wir das Versteck der Männer gefunden, die die Bauernhöfe in Araglin überfallen.« »Doch warum verstecken sich Menma und diese Banditen in der Höhle? Und warum macht Menma mit den Viehdieben gemeinsame Sache?« »Ich halte sie nicht für Viehdiebe, und sie verstek-ken sich eigentlich auch nicht«, meinte Fidelma und lachte. »Was sind sie dann?« fragte Eadulf. »Hast du die Werkzeuge gesehen, die auf der Lichtung umherlagen?« »Werkzeuge? Nein, ich habe nur auf die Männer geachtet. Was für Werkzeuge?« Fidelma seufzte leise. »Du mußt immer daran denken, daß Beobachtung und die Analyse der Beobachtungsergebnisse ganz wesentlich sind zur Erforschung der Wahrheit. Bei dem Wagen lagen verschiedene Werkzeuge. Sie verrieten mir, daß die Höhle unzweifelhaft ein Bergwerk ist.« Eadulf war verblüfft. »Ein Bergwerk?« »Es ist nicht ungewöhnlich, in dieser Gegend auf Bergwerke zu stoßen. Wären wir von Lios Mhor genau nach Westen den Abhainn Mor entlanggereist, wären wir zu einer Ebene gekommen, die Magh Meine heißt, die Ebene der Minerale. Dort baut man Kupfer, Blei und Eisen ab.« »Ich glaube, davon habe ich schon mal gehört.« »Bressal, der Herbergswirt, erzählte uns, daß er einen Bruder hat, der als Bergmann in der Ebene der Minerale arbeitet«, fuhr Fidelma fort. »Natürlich. Aber was macht Menma in diesem Bergwerk, wenn es denn eins ist?« »Das müssen wir selbst herausbekommen.« »Und warum sollte .« »Es hat keinen Zweck, Fragen zu stellen, solange wir nicht genügend Beweismittel haben, mit denen wir die Antwort wenigstens vermuten können.« »Vielleicht hätten wir uns zeigen und eine Erklärung verlangen sollen«, meinte Eadulf. »Schließlich hast du ein Amt in diesem Königreich.« Fidelma lächelte nur. »Diese Männer führen nichts Gutes im Schilde. Glaubst du, die scherten sich um mein Amt?« »Wir hätten sie überraschen und entwaffnen können ...« »Mein lieber Freund, in den Oden des Horaz gibt es eine Zeile: >Vis consili expers mole ruit sua.<« Eadulf nickte langsam: »Kraft, frei von Weisheit, stürzet durch eigene Wucht«, wiederholte er. Sie beschattete die Augen mit der Hand und spähte zum Gipfel des Berges über ihnen empor. »Du sagtest vorhin, wenn wir den Grat überquerten, kämen wir oberhalb von Archüs Hof heraus. Stimmt das?« Eadulf runzelte die Stirn bei diesem plötzlichen Wechsel des Themas. »Das stimmt«, brummte er. »Willst du es ausprobieren?« Eadulf hielt das für einen Scherz, aber es war keiner. »Die Berghänge sind doch viel zu steil für Pferde«, protestierte er. »Zu Fuß könnten wir es versuchen, aber .« Sie zeigte wortlos aufwärts. Weiter oben am Hang sah Eadulf etwas Rotbraunes sich bewegen. Er kniff die Augen zusammen. Es war die muskulöse Gestalt eines Hirsches, der sein Rudel vor sich her trieb. Fidelma schmunzelte. »Wo ein Hirsch sein Rudel führt, kommt auch ein Reiter durch. Bist du bereit dazu?« Eadulf hob die Arme zum Zeichen des widerwilligen Einverständnisses. »Da vorn gibt es so etwas wie einen Pfad«, erklärte ihm Fidelma, »wahrscheinlich ein Wildwechsel. Schau mal!« Eadulf sah weiter nichts als eine ausgetretene Spur, die sich durch Farne und Ginster aufwärts zog. »Darauf können wir doch nicht reiten«, wandte er ein. »Nein, aber unsere Pferde führen«, versicherte ihm Fidelma. Sie glitt aus dem Sattel, nahm die Zügel und ging vorsichtig auf dem schmalen Wildwechsel den Berghang vor ihnen hinauf. Eadulf stöhnte innerlich, dann stieg auch er ab und zog sein Pferd hinter sich her. Er war nicht schwindelfrei, deshalb hielt er den Blick vor sich auf den Boden gerichtet. »Ich verstehe nicht, weshalb du diese Abkürzung zu Archüs Hof nehmen willst. Wir hätten doch genausogut auf dem Hauptweg zurückreiten können«, beklagte er sich, mehr um sich abzulenken, als um sich mit Fidelma zu streiten. »Auf diesem Weg geht es schneller. Und wir wollen nicht den Leuten auf Muadnats Hof auffallen, die mit unseren Freunden dahinten am Bergwerk im Bunde stehen.« »Ich weiß auch nicht, was das alles mit dem Mord an Eber zu tun hat.« Fidelma würdigte ihn keiner Antwort. Der Wind fuhr über die Berge, und die Pferde wurden unruhig. Sie brauchten ihre ganze Kraft, sie fest am Zügel zu halten. Vor sich hörte Fidelma das langsame Dahinziehen der Hirschkühe, die immer mal wieder ästen. Der Wind trug ihnen keinen ungewohnten Geruch zu. Nur manchmal verharrte der Hirsch wie ein imponierendes Standbild, als beobachte er besorgt ihren stetigen Anstieg. Dann trieb er mit einem seltsam bellenden Ruf sein Rudel weiter. Darauf sprangen die Tiere ein Stück höher und hielten wieder an und ästen. Der Pfad war kaum noch zu erkennen, doch Fidelma ging weiter und umrundete langsam den Berg. Die Windstöße wurden heftiger, und Eadulf senkte den Kopf, um ihnen zu entgehen und zugleich den Blick auf die offenen Höhen zu vermeiden. Er hoffte, sein Pferd würde nicht zu unruhig, denn er wußte nicht, ob er es dann noch halten könnte. Plötzlich blieb Fidelma stehen. »Was ist?« fragte er. »Sieh selbst«, erwiderte sie. Eadulf nahm seinen Mut zusammen für einen raschen, unsicheren Blick. Vor ihnen erstreckte sich das L-förmige Tal. Er sah einige Gebäude weit unten und senkte den Blick wieder, so schnell er konnte. »Was ist das?« fragte er wieder. »Archüs Tal?« Fidelma wandte sich um und schaute ihn nachdenklich an. »Macht die Höhe dir Schwierigkeiten, Eadulf?« fragte sie besorgt. Eadulf biß sich auf die Lippen. Er konnte es nicht leugnen. »Nicht so sehr die Höhe«, erwiderte er. »Es ist die Angst vor hohen offenen Stellen, vor dem Abstürzen. Hört sich das komisch an?« Fidelma schüttelte langsam den Kopf. »Das hättest du mir sagen sollen«, tadelte sie ihn sanft. »Ich wäre zu nichts nutze, wenn ich die Angst eingestehen würde.« »Mein Lehrer, Morann von Tara, sagte einmal, eine Maus könne sich an einem Fluß auch nicht mehr als satt trinken.« Eadulf war verblüfft. »Das klingt nach einer rätselhaften Philosophie.« »Nein. Wir müssen um unsere Schwächen ebenso wissen wie um unsere Stärken. Nur dann erkennen wir die Stärke in unseren Schwächen und die Schwäche in unseren Stärken.« »Meinst du, ich hätte meine Angst annehmen und sie dir beichten sollen?« »Was sonst hättest du tun sollen? Wäre ich vorgewarnt gewesen, hätte ich gewußt, was ich zu tun habe, wenn etwas passiert.« Eadulf seufzte. Er redete nicht gern über seine Schwächen. »Hier ist nicht die richtige Zeit und vor allem nicht der richtige Ort, über meine Fehler zu sprechen.« »Natürlich nicht«, besänftigte ihn Fidelma. »Entschuldige, es tut mir leid. Von nun an geht es abwärts. Du hast recht, dort unten liegt Archüs Hof. Es ist das Tal des Schwarzen Moors.« Eadulf straffte die Schultern. »Dann gehen wir weiter«, meinte er. »Je eher wir mit dem Abstieg beginnen, desto eher sind wir unten.« Fidelma schritt weiter vorsichtig voran. Das Hirschrudel hatte sich von seinem Wechsel entfernt. Der Abstieg war steil, aber in mäßigem Tempo durchaus zu bewältigen. Nur gelegentlich kamen sie an Wegstellen, an denen ein Absatz, nicht höher als einen halben Meter, gefährlicher aussah, als er war. Ein- oder zweimal mußten sie auf wenigen Metern enge Windungen passieren. Schließlich gelangten sie zu den weniger steilen unteren Abhängen des Berges, an denen Eschen und Dornsträucher einen Gürtel bildeten, durch den sie aber einen passablen Durchschlupf fanden. Als sie aus einem kleinen Gehölz von Eschen und Buchen hervortraten, sahen sie sich plötzlich zwei Reitern mit gespannten Bögen gegenüber. »Schwester Fidelma!« Archüs erschrockener Ausruf ließ sie halten. Der andere Reiter war wohl einer der Männer, die Duban zurückgelassen hatte. Archü senkte sofort seinen Bogen und entschuldigte sich. »Wir wußten nicht, daß ihr es seid.« »Wir sahen zwei Gestalten über den Grat des Berges kommen. Ein seltsamer Weg«, brummte der Krieger neben ihm. »Seltsam und gefährlich«, seufzte Eadulf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wir beobachten euch schon seit einer Stunde, denn mein Gefährte hat euch gleich entdeckt, als ihr oben auf dem Berg auftauchtet. Warum habt ihr diesen steilen Weg genommen? Sonst kommen nur Schafe und Hirsche hier herunter.« »Das ist eine lange Geschichte, Archü«, erwiderte Fidelma. »Wenn Scoth eine Erfrischung für uns hat, erzählen wir sie euch.« »Natürlich«, stimmte Archü bereitwillig zu. »Verzeiht. Reiten wir gleich zu unserem Haus.« Der Krieger betrachtete noch immer mißtrauisch den Berg. »Wurdet ihr verfolgt, Schwester?« fragte er. Fidelma schüttelte den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte. Habt ihr jemanden hinter uns gesehen?« »Nein. Aber wir müssen vorsichtig sein. Habt ihr gehört, daß Muadnat umgebracht wurde?« »Ja. Vor ein paar Stunden haben wir unterwegs Duban getroffen. Er sagte uns, daß er noch einen weiteren Krieger zum Schutz für Archü hiergelassen hat, für den Fall, daß Agdae etwas Törichtes vorhätte.« »Vielleicht könntest du hierbleiben und aufpassen, ob jemand über den Berg kommt«, bat Archü seinen Begleiter. »Ich bringe inzwischen Schwester Fidelma und Bruder Eadulf zu meinem Haus.« Der Krieger tat, wie ihm geheißen. Fidelma und Eadulf folgten Archü zu dem fernen Hof. »Das ist eine schlimme Geschichte, Schwester. Wenn Duban nicht gestern einen seiner Männer hiergelassen hätte, der bezeugen kann, daß ich mich nicht vom Hof entfernt habe, wäre ich in großen Schwierigkeiten.« Fidelma nickte. »Ich habe Muadnat mein Leben lang gekannt«, fuhr Archü fort, »und wenn er mich auch haßte, kann ich nicht sagen, daß sein Tod mich nicht berührt. Er war schließlich mein Vetter. Möge er in Frieden ruhen.« »Dazu sage ich amen«, meinte Eadulf, der sich ein wenig erholt hatte. »Und wie stehst du zu Agdae? Wußtest du, daß Muadnat ihn adoptiert hatte?« erkundigte sich Fidelma. »Das wußte ich. Er ist ja auch mein Vetter. Seine Eltern starben vor vielen Jahren an der Pest. Agdae überlebte, und Muadnat nahm ihn in sein Haus. Meine Mutter erzählte mir, daß Muadnat sie drängte, Ag-dae zu heiraten, doch sie lehnte ab und entschied sich für meinen Vater. Wir mochten einander nicht, das gebe ich offen zu. Muadnat erzog ihn dazu, mich ebenso zu hassen, wie er es tat.« »Und haßt du ihn auch?« »Ich kann nicht behaupten, ein anderes Gefühl für ihn zu hegen. Agdae ist kein angenehmer Mensch.« »Wer, meinst du, hat Muadnat umgebracht?« fragte Fidelma. Archü schwieg lange. Eadulf dachte schon, er wolle die Antwort verweigern. Dann seufzte er tief. »Ich weiß es nicht. Ich begreife das alles nicht mehr. Die Morde an Eber und Teafa waren weit weg für mich, berührten mich nicht wirklich. Doch Muadnats Tod trifft mich, auch wenn ich ihn haßte. Ich weiß nicht, wer es getan haben könnte.« Scoth begrüßte sie an der Tür des Hauses. Der zweite Krieger, den Duban zurückgelassen hatte, nahm ihnen die Pferde ab. Archü führte sie ins Haus. »Wir haben Cider«, sagte Scoth und holte einen Krug und mehrere Becher. Eadulf lächelte dankbar. »Sei gesegnet dafür«, sagte er. »Mein Kehle ist total ausgetrocknet.« Archü bat sie, sich zu setzen. Scoth schenkte ein und brachte dann noch eine Schale mit Obst. Eadulf leerte seinen Becher mit einem einzigen Zug, Fidelma hingegen trank in kleinen Schlucken. »Sei vorsichtig«, riet sie ihm, als er sich nachschenken ließ. »Dieser Cider ist stark.« Archü grinste freudlos. »Zumindest hatte Muadnat die Güte, uns ein paar Fässer Cider hierzulassen.« Scoth sah das anders. »Na, ich war es schließlich, die den Cider gemacht hat. So können wir die Früchte meiner Arbeit wenigstens genießen.« Fidelma nahm einen Schluck und schaute Archü an. »Hast du dein ganzes Leben hier im Tal verbracht?« Die Frage überraschte Archü. »Ja. Ich wurde auf diesem Hof geboren und wuchs hier auf. Als meine Mutter starb, übernahm Muadnat den Hof, und von da an mußte ich in den Ställen bei den Tieren schlafen, bis ich das Alter der Wahl erreicht hatte und meinen Anspruch in Lios Mhor vorbrachte. Warum fragst du?« »Was ist mit dem Land auf der anderen Seite des Berges?« »Du meinst den Berg, über den ihr gekommen seid?« »Ja.« »Es gehört zu diesem Hof.« »Ich dachte, zu dem Hof gehören sieben cumals Land hier im Tal?« »Nur vier cumals liegen im Tal selbst. Der Hof besteht aus drei Teilen: die Äcker um das Gehöft herum, das Land der drei Wurzeln ...« Eadulf blickte interessiert von seinem Becher auf. »Das was?« fragte er. »Den Ausdruck habe ich noch nie gehört.« »Den findest du in unseren Gesetzen«, erklärte ihm Fidelma. »Nach unserer alten Einteilung gilt als der beste Boden eines Hofes derjenige, auf dem drei Pflanzen wachsen, die sich durch ihre großen Wurzeln aus-zeichnen: die Distel, das Kreuzkraut und die wilde Möhre. Ist der Acker so gut, daß sie darauf wachsen, dann wird er am höchsten eingeschätzt und gilt als besonders fruchtbar.« Eadulf schüttelte verwundert den Kopf. Fidelma wandte sich wieder an Archü. »Der Berg gehört also mit zum Hof, sagst du?« »Er ist der Teil des Hofes, der als Axtland bezeichnet wird. Wenn auf dem Berg etwas anderes wachsen soll als Bäume und Ginster, dann müßte er mit großem Aufwand gerodet werden.« »Er gehört jedenfalls zu deinem Hof?« »O ja. Das würde nicht einmal Muadnat bestreiten.« »Ich verstehe. Kennst du den Berg gut?« »Ich kenne ihn.« »Kennst du ihn wirklich ganz genau?« Archü lehnte sich sichtlich verwirrt zurück. »Weshalb sollte ich ihn mir besonders gründlich ansehen?« »Er grenzt an deine Äcker und ist ein Teil deines Landes.« »Ich habe den Hof gerade erst in Besitz genommen, wie du weißt, Schwester. Wann hätte ich da Zeit dafür haben sollen, die Berge rundherum zu untersuchen?« »Und als du Kind warst?« »Als Kind?« Er schüttelte den Kopf. »Als Kind bin ich auch nicht auf dem Berg gewesen.« »Weißt du etwas von Höhlen in diesem Gebiet?« Archü verstand das als einen Themenwechsel. Er zuckte die Achseln. »Ich habe davon gehört, daß es nördlich von hier Höhlen geben soll. Meine Mutter hat mir von der Höhle der Grauen Schafe erzählt. Aus der soll einmal ein graues Lamm herausgekommen sein, und ein Bauer zog es auf. Es wuchs zum Schaf heran und hatte selbst Lämmer. Aber eines Tages schlachtete der Bauer eins dieser Lämmer, und das Schaf nahm seine übrigen Lämmer und verschwand mit ihnen in der Höhle. Man hat nie wieder etwas von ihnen gesehen.« »Und Bergwerke? Hast du jemals von Bergwerken in dieser Gegend gehört?« fragte Fidelma ungeduldig. Archü dachte nach, doch dann schüttelte er den Kopf. »Vielleicht gibt es welche, aber ich könnte dir keins nennen. Warum willst du das wissen?« »Wir fanden ...«, begann Eadulf, verstummte aber sofort, als er unter dem Tisch einen kräftigen Tritt von Fidelma erhielt. Er verzog das Gesicht vor Schmerz. Archü und Scoth sahen ihn überrascht an. »Wir fanden, daß wir gern etwas mehr über die Umgebung des Hofes wüßten«, nahm Fidelma den Satz auf. »Du scheinst heftige Schmerzen zu haben, Bruder. Habe ich dich nicht gewarnt, daß der Cider sehr stark ist?« »Schon gut«, murmelte er. »Mir tut vom vielen Laufen der Fuß weh.« »Es war ein langer Tag, und wir haben noch nichts gegessen. Wir sollten zum rath zurückkehren.« »Ihr könnt doch mit uns essen«, lud Scoth sie ein. Bedauernd schüttelte Fidelma den Kopf. »Leider geht das nicht. Wenn wir j etzt nicht aufbrechen, kommen wir erst nach Sonnenuntergang dort an, und um die Zeit sollte man nicht mehr auf unbekannten Pfaden unterwegs sein.« Sie verabschiedeten sich und traten den Rückweg nach Araglin an. »Du brauchtest mich nicht so grob zu treten, Fidelma«, beklagte sich Eadulf schmollend. »Du hättest es mir doch sagen können, daß die jungen Leute nicht wissen sollten, was wir hinter dem Berg entdeckt haben.« »Es tut mir leid, Eadulf. Aber es ist besser, wenn wir das vorerst noch für uns behalten. Es ist doch offensichtlich, daß jemand dieses Bergwerk geheimhalten will. Da es auf Archüs Land liegt, lautet die logische Folgerung, daß Muadnat versuchte, das Bergwerk zu betreiben, ohne daß jemand etwas davon merkte, besonders Archü nicht. Der Weg zum Bergwerk geht ja von seinem Land aus. Also haben wir vielleicht durch Zufall den wahren Grund erfahren, weshalb Muadnat sich so verzweifelt bemühte, das Eigentum seines Vetters an sich zu bringen?« Eadulf stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich verstehe. Muadnat wollte das Land behalten, damit er das Bergwerk ausbeuten konnte.« »Ein Bergwerk gehört dem, auf dessen Land es liegt. Er muß die Erlaubnis erteilen, wenn jemand anders es betreiben möchte«, erklärte Fidelma. »Ja, aber das bringt uns der Lösung des Rätsels um den Mord an Eber und Teafa nicht näher.« »Vielleicht nicht. Aber es ist schon seltsam, daß Men-ma immer wieder in diesem Rätsel auftaucht und .« Sie hielt so plötzlich an, daß Eadulf dachte, sie habe eine neue Gefahr erblickt, und besorgt die Umgebung musterte. »Was ist?« fragte er nach einer Weile. »Ich bin blöd!« Eadulf schwieg wohlweislich. »Ich hätte das eher merken müssen.« »Was merken?« Eadulf hielt mühsam seine Neugier im Zaum. »Menma. Du erinnerst dich, daß Menma den Angriff auf Bressals Herberge geführt hat?« »Ja.« »Und jetzt taucht Menma am Bergwerk auf?« »Ja. Aber ich verstehe nicht .« »Was war die Verbindung zwischen Bressal und den Bergwerken?« fragte Fidelma. Eadulf überlegte. Fidelma knirschte beinahe mit den Zähnen, weil er so langsam schaltete. »Bressal hatte einen Bruder ...«, deutete sie an. Jetzt fiel es Eadulf ein. »Morna, ein Bergarbeiter. Er hatte eine Sammlung von Gesteinen .« »Noch wichtiger«, unterbrach ihn Fidelma. »Morna war kürzlich bei ihm und hatte ihm erzählt, er habe etwas entdeckt, was ihn reich machen würde. Er brachte Bressal einen Gesteinsbrocken.« Eadulf rieb sich das Kinn. »Ich kann dir nicht ganz folgen.« Fidelma bewahrte Geduld. »Ich bin überzeugt, das Gestein stammte aus der Höhle auf Archüs Land. Dort hatte Morna Gold entdeckt und geglaubt, er würde nun reich werden. Ich bin sicher, Menma überfiel Bressals Herberge, um den Gesteinsbrocken wiederzubekommen.« »Warum?« »Weil der Fund geheim bleiben sollte. Bressals Bruder Morna hatte das Geheimnis verraten.« »Meinst du, daß Menma das Bergwerk leitet? Ich hätte ihn für nicht intelligent genug dazu gehalten.« »Ich glaube, du hast recht. Jemand anders steckt dahinter. Es läuft auf Muadnat hinaus. Menma sollte nur dafür sorgen, daß das, was Morna seinem Bruder Bressal gesagt und gezeigt hatte, geheim blieb. Es war purer Zufall, daß wir zu der Zeit in der Herberge waren und den Angriff abschlagen halfen.« Eadulf überlegte einen Moment. »Ich hatte angenommen, Muadnat hätte den Überfall inszeniert, um Archü loszuwerden«, meinte er. »Muadnat wußte, daß Archü auf seinem Rückweg dort übernachten würde.« »Das habe ich auch erst geglaubt, aber Muadnat wußte, daß Archü und Scoth kein Geld für eine Herberge hatten. Zu Fuß hätten sie die Herberge an dem Abend auch nicht erreicht. Wir nahmen sie auf unseren Pferden mit. Denke daran, daß ich auch für ihre Übernachtung bezahlte. Nein, es mußte ein anderes Motiv für den Überfall geben, und nun haben wir es gefunden.« »Es ging also nur darum, das Geheimnis der Reich-tümer zu bewahren, die man in der Höhle gefunden hatte?« »Da bin ich mir sicher. Eigentlich schon seit gestern.« Eadulf sah sie ratlos an. »Da komme ich nicht mit, Fidelma«, gestand er. »Gestern haben wir eine unbekannte Leiche auf Archüs Hof entdeckt. Der Tote war weder Bauer noch Krieger. Seine schwieligen Hände und der Gesteinsstaub auf seiner Kleidung verrieten mir, daß er einen bestimmten Beruf ausübte.« In Eadulfs Augen leuchtete es auf. »Du erkanntest, daß er Bergarbeiter war?« »Hat er dich an jemanden erinnert?« »Nein.« »Du solltest aufmerksamer beobachten, Eadulf. Er hatte dieselben Gesichtszüge wie Bressal. Der unglückselige Tote war Morna, der Bruder des Herbergswirts Bressal.« Fidelma verfiel in nachdenkliches Schweigen, während sie weiter durch das Tal von Araglin zum rath ritten. Cron schien ihre Rückkehr ungeduldig zu erwarten, denn sie stand an der Tür der Festhalle und sah ihnen entgegen. Kapitel 16 Cron rief sie sogleich an, als sie in den rath einritten. Fidelma und Eadulf stiegen ab, und Eadulf brachte die Pferde in den Stall. Fidelma trat zu Cron. Es war niemand in der Nähe außer der alten Dienerin Dignait, die in der Halle saubermachte. »Laß uns allein, Dignait«, rief Cron ihr zu. Die Alte sah Fidelma mißtrauisch an und verschwand durch eine Seitentür. Fidelma setzte sich auf eine Bank, und nach kurzem Zögern ließ sich die Tanist neben ihr nieder. Es trat Schweigen ein, bis Fidelma es brach. »Du wolltest mich sprechen?« Cron sah Fidelma einen Moment mit ihren eisblauen Augen an und senkte dann den Blick. »Ja.« »Duban hat mit dir geredet, nehme ich an?« Cron errötete heftig und nickte. »Ich habe Duban gesagt, daß ich nicht naiv bin«, tastete sich Fidelma vor. »Glaubtest du, du könntest mich ewig mit Halbwahrheiten hinhalten? Ich weiß, daß du deinen Vater haßtest. Ich möchte den Grund erfahren.« »Es war wegen der Schande«, antwortete Cron nach einer kurzen Pause. »Am besten ist es, wenn man die Wahrheit offenlegt, denn dunkle Geheimnisse brüten Verdacht und Beschuldigungen aus.« »Teafa haßte meinen Vater auch.« »Warum?« »Mein Vater mißbrauchte seine Schwestern.« Fidelma hatte eine solche Antwort erwartet nach dem, was sie von Pater Gorman erfahren hatte. »Hat er sie körperlich mißbraucht?« fragte sie sicherheitshalber. Cron rümpfte die Nase. »Wenn du mit körperlich mißbrauchen meinst, daß er sie zwang, mit ihm zu schlafen - ja.« »Hat Teafa dir das gesagt?« forschte Fidelma. »Vor ein paar Jahren«, gestand sie. »So, jetzt habe ich dir verraten, weshalb ich meinen Vater haßte. Aber ich haßte ihn nicht so sehr, daß ich ihn töten würde. Anscheinend bist du der Aufklärung des Mordes an meinem Vater und Teafa noch keinen Schritt nähergekommen.« »Doch, das bin ich«, lächelte Fidelma. »Was du mir berichtet hast, bedeutet .« »Störe ich euch?« Eine weiche männliche Stimme unterbrach Fidelma, als sie sich gerade vertraulich vorbeugen wollte. Pater Gorman stand auf der Schwelle. Fidelma fing Crons warnenden Blick auf, der ihr sagte, sie solle das Thema nicht weiter verfolgen. Sie unterdrückte einen ärgerlichen Seufzer und stand auf. »Ich wollte sowieso gerade gehen. Ich habe einen langen, anstrengenden Tag hinter mir. Wir reden morgen weiter, Cron, wenn ich mich ausgeruht habe.« Das Frühstück war schon ins Gästehaus gebracht worden, als Fidelma aus dem Waschraum hereinkam. Eadulf saß am Tisch und ließ es sich schmecken. Fidelma setzte sich, sprach ein stilles Gratias und besah sich ihren Teller mit Brot, kaltem Fleisch und verschiedenen Beilagen. Sie nahm das Messer zur Hand. Eadulf meinte: »Wir müssen heute so schnell wie möglich wieder zum Bergwerk mit allen Männern, die Duban entbehren kann. Vielleicht können wir dann sämtliche Rätsel lösen?« Fidelma hing ihren eigenen Gedanken nach und war nur halb bei der Sache. Doch irgend etwas lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Pilze, die auf dem Tisch standen. In ihrem Hinterkopf schrillte eine Alarmglocke. Die Pilze hatten eine helle gelbbraune Haut mit zellenartigen Gruben auf dem ganzen Hut. Sie hatte oft miotog bhui gegessen, Pilze, die im Frühjahr in den Laubwäldern wuchsen. Meist aber kamen sie gekocht auf den Tisch, denn roh hatten sie einen scharfen Geschmack. Gekocht galten sie als Delikatesse. Warum hatte man sie ihnen roh serviert? Plötzlich lief es ihr eiskalt den Rücken herunter, und sie erzitterte, als sie sich die Pilze genauer ansah. Erst hatte sie gedacht, die gelblichen Pilze seien bloß vom Alter dunkel geworden, doch jetzt wurde ihr klar, daß das nicht stimmte. Sie waren braun. Erschrocken sah sie, wie Eadulf ein Stück Pilz in den Mund stecken wollte, und schlug es ihm aus der Hand. Er fuhr überrascht zurück und verschluckte einen Ausruf. »Wieviel davon hast du gegessen?« wollte sie wissen. Er starrte sie verständnislos an. »Wieviel?« fuhr sie ihn an. »Das meiste von dem, was ich auf dem Teller hatte«, gestand Eadulf verwirrt ein. »Was ist verkehrt daran? Ich weiß, was das für Pilze sind, wir haben zu Hause auch solche. Sie heißen Morcheln.« »Dia är säbhäil!« rief Fidelma und sprang auf. »Es sind Lorcheln.« Eadulf wurde bleich. Die Lorchel, die der eßbaren Morchel so ähnlich sah, war, roh gegessen, tödlich giftig. »Gott schütze uns, nun aber wirklich.« Eadulf war entsetzt. Fidelma reagierte sofort. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen dir den Magen entleeren, dich zum Erbrechen bringen. Das ist die einzige Möglichkeit.« Eadulf nickte. Er hatte an der berühmten medizinischen Hochschule Tuaim Brecain studiert und wußte sehr wohl, wie giftige Pilze wirkten. Er stand auf und strebte dem fialtech, dem Schleierhaus oder Abort, zu und vergaß in seiner Eile sogar, sich zu bekreuzigen, bevor er es betrat, um die Listen des Teufels abzuwehren, der an solchen Orten besonders aktiv war. »Trink so viel Wasser, wie du irgend kannst«, rief ihm Fidelma nach. Er gab keine Antwort. Fidelma betrachtete die Teller. Es gab keinen Zweifel. Jemand hatte versucht, sie beide zu vergiften. Warum? Waren sie der Aufklärung der Morde in Araglin so nahe, daß sie beseitigt werden mußten? Zornig nahm sie die Teller mit Essen und warf sie zur Tür des Gästehauses hinaus. Auch die Becher mit Met goß sie aus. Sie hörte, wie Eadulf im fialtech würgte. Sie biß die Zähne zusammen und eilte in die Küche auf der Suche nach Grella, die ihnen gewöhnlich das Essen brachte. Die Küche war leer. Sie fand das junge Mädchen in der Festhalle, wo sie saubermachte. Grella schien verlegen, als Fidelma auf sie zutrat. »Wer hat uns heute morgen das Frühstück ins Gästehaus gebracht?« »Ich, Schwester, wie immer. War etwas nicht in Ordnung?« Die arglosen Augen des Mädchens überzeugten Fidelma, daß die Schuldige woanders zu suchen sei. »Wer hat das Essen heute morgen zubereitet?« »Dignait, nehme ich an. Sie führt die Küche.« »Hast du gesehen, daß sie es getan hat?« »Nein. Als ich herkam, war Dignait hier in der Festhalle und sprach mit Lady Cranat. Dignait sagte zu mir, ich solle gleich in die Küche gehen. Dort würde ich ein Tablett mit dem Frühstück für dich und den angelsächsischen Bruder finden, und ich sollte es euch sofort bringen.« »Also hat Dignait das Essen zubereitet?« »Ja. Du machst mir Angst, Schwester, was ist passiert?« »Weißt du noch, woraus die Mahlzeit bestand?« »Wieso?« Die Frage überraschte sie. »Habt ihr sie nicht gegessen?« In bitterem Ton wiederholte Fidelma ihre Frage: »Woraus bestand die Mahlzeit?« »Kaltes Fleisch, Brot, ach ja, ein paar Pilze und Äpfel und ein Krug Met.« »Die Pilze waren giftig. Es waren Lorcheln.« Das Mädchen erbleichte. In Grellas Gesicht stand der Schock, aber kein Anzeichen von Schuld. »Das wußte ich nicht!« rief sie entsetzt. »Wo ist Dignait?« »Hier ist sie nicht. Ich glaube, nach dem Frühstück ist sie in ihre Hütte gegangen. Soll ich dir zeigen, wo die ist?« Das Mädchen lief angstvoll vor Fidelma her, bis sie vor einer baufälligen Holzhütte standen. »Hier wohnt sie.« Fidelma rief an der Tür. Keine Antwort. Sie zögerte einen Moment, dann hob sie mühelos den Riegel an und betrat den einzigen Raum der Hütte. Überrascht betrachtete sie die Unordnung darin. Bettzeug und Kleidungsstücke und einiges andere lagen wild durcheinander. Grella entfuhr ein erstaunter Ausruf, als sie Fidelma über die Schulter sah. Fidelma musterte den Raum gründlich. Jemand hatte hier nach etwas gesucht. War es Dignait, die diese Unordnung verursacht hatte, oder jemand anderes? Wo war Dignait überhaupt? Ihr Blick fiel auf den Tisch, und ihre Augen verengten sich. Ein schmaler roter Fleck zog sich über eine Ecke hin. Das konnte nur Blut sein. Mehr war in Dignaits verlassener Hütte nicht herauszubekommen. Grella stand aufgeregt und mit offenem Mund neben ihr. »Du machst dich am besten wieder an deine Arbeit, Grella. Wenn du fertig bist, geh bitte zu dem angelsächsischen Bruder und bleibe bei ihm. Vielleicht braucht er deine Hilfe. Er hat ein paar von den giftigen Lorcheln gegessen.« Mit einem leisen Ausruf bekreuzigte sich das Mädchen. »Er hat schon ein Brechmittel genommen«, erklärte ihr Fidelma, »aber er könnte später noch Hilfe benötigen. Ich muß Dignait suchen, möchte ihn aber nicht allein lassen. Wenn du mit deiner Arbeit fertig bist, geh ins Gästehaus, bleib dort und paß gut auf ihn auf. Hast du verstanden?« Grella nickte und lief fort. Fidelma schloß die Tür von Dignaits Hütte und ging zurück zum Gästehaus. Eadulf saß mit blassem Gesicht da und trank Wasser. Sie sah ihn fragend an. Er nickte langsam. »Wie geht es dir?« erkundigte sie sich leise. Eadulf zuckte trübselig die Achseln. »Frag mich das in ein paar Stunden. Dann wirkt das Gift. Ich hoffe, ich habe das meiste ausgebrochen. Aber das weiß man nie genau.« »Dignait ist weg. Ihr Zimmer ist in Unordnung, und auf ihrem Tisch ist ein Blutfleck.« Eadulfs Augen weiteten sich. »Du meinst, daß Dignait ...?« »Sie müßte man logischerweise zuerst befragen, denn sie hat anscheinend das Essen zubereitet und es uns von Grella bringen lassen. Ich habe das Mädchen gebeten, auf dich aufzupassen, solange ich weg bin.« »Ich komme mit und helfe dir, Dignait zu suchen«, wandte Eadulf ein. Fidelma sah ihn beinahe zärtlich an und schüttelte entschieden den Kopf. »Mein Freund, du mußt hierbleiben und versuchen, noch mehr von dir zu geben. Ich sehe zu, was ich noch herausbekommen kann.« Eadulf wollte protestieren, gab es aber angesichts des gefährlichen Glitzerns in Fidelmas Augen auf. Fidelma fand Cron in der Festhalle. Sie machte einen niedergeschlagenen Eindruck, richtete sich aber ein wenig auf, als Fidelma zu ihr kam. »Ist das wahr?« fragte sie. »Ich habe gerade mit Grella gesprochen.« »Nur zu wahr«, erwiderte Fidelma. »Hast du eine Ahnung, wo Dignait geblieben ist?« Cron schüttelte den Kopf. »Heute früh habe ich sie gesehen. Grella sagt, du hast dir ihre Hütte schon angeschaut?« »Sie scheint verschwunden zu sein. Ihre Hütte ist verlassen und in Unordnung, und auf ihrem Tisch ist ein Blutfleck.« »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Sie muß irgendwo hier im rath sein. Ich werde sofort nach ihr suchen lassen.« »Wo ist Cranat, deine Mutter? Sie soll Dignait besser kennen als alle anderen, und sie hat heute morgen mit ihr gesprochen.« »Meine Mutter macht ihren morgendlichen Ausritt mit Pater Gorman.« »Laß es mich wissen, wenn sie zurück ist.« Fidelmas nächstes Ziel war Teafas Hütte. Gadra öffnete, sah Fidelmas besorgtes Gesicht und ließ sie schweigend eintreten. »Du bist schon früh unterwegs, Fidelma, und deine Miene verheißt nichts Gutes.« »Wie geht es deinem Schützling?« »Moen? Er schläft noch. Wir waren lange auf und haben uns über theologische Fragen unterhalten.« »Über Theologie unterhalten?« Sie war überrascht. »Moen versteht sehr viel von Theologie«, versicherte ihr Gadra. »Wir sprachen auch über seine Zukunft.« »Ich nehme an, er wird hier nicht bleiben wollen?« Gadra lachte spöttisch. »Nach allem, was passiert ist?« »Wohl lieber nicht«, stimmte ihm Fidelma zu. »Aber wo will er hin?« »Ich habe ihm vorgeschlagen, daß er vielleicht in einem Kloster Schutz vor den Übeln der Welt finden könnte, etwa in Lios Mhor. Er braucht die Ordnung, die das Leben unter Mönchen bietet, und dort werden sich viele mit ihm verständigen können, denn wie du selbst bewiesen hast, geht das mit der alten Ogham-Schrift recht gut.« »Das klingt ganz vernünftig«, meinte Fidelma. »Aber es paßt doch kaum zu deiner eigenen Lebensauffassung.« »Meine Welt liegt im Sterben. Das gestehe ich ein. Moen muß ein Teil der neuen Welt werden, nicht der alten. Aber ich sehe, daß du Sorgen hast. Du bist nicht hergekommen, um über Moen zu sprechen. Ist etwas geschehen?« »Ich fürchte für das Leben meines Gefährten Ea-dulf«, sagte Fidelma kurz. »Jemand hat heute morgen versucht, ihn und mich zu vergiften.« Gadra sah sie erschrocken an. »Versucht? Womit?« »Mit Pilzen.« »Die meisten Leute kennen aber doch die Giftpilze.« »Stimmt. Aber die Lorchel kann man leicht mit der Speisemorchel verwechseln.« »Aber nur in rohem Zustand ist sie hochgiftig. Da man Morcheln niemals roh ißt, kann man doch kaum .« »Eben die Tatsache, daß die Morcheln roh waren, ließ mich genauer hinschauen. Ich habe sie nicht angerührt, doch Bruder Eadulf hatte unglücklicherweise schon angefangen, davon zu essen, bevor ich merkte, daß es Lorcheln waren.« »Er sollte sofort seinen Magen entleeren«, sagte Gadra ernst. »Er hat erbrochen, und ich lasse ihn so viel Wasser trinken wie möglich, um dem nachzuhelfen.« »Weiß man, wer versucht hat, euch zu vergiften?« »Wahrscheinlich war es Dignait. Sie scheint aber nicht im rath zu sein, sie ist verschwunden. Ihre Hütte ist in Unordnung, und auf ihrem Tisch ist Blut.« »Du hast die Pflicht, mir eine Frage zu stellen«, kam ihr Gadra zuvor. »Ich beantworte sie gleich: Weder ich noch Moen haben heute morgen diese Hütte verlassen.« Fidelma verzog das Gesicht. »Das hatte ich auch nicht angenommen.« Gadra langte in seinen sacculus, seinen Beutel, der auf dem Tisch lag, und holte eine kleine Flasche heraus. »Ich habe meine Arzneien bei mir. Dies ist eine Mixtur aus Gundelrebe und Wermut. Sag unserem angelsächsischen Freund, er soll sie mit ein wenig Wasser gemischt trinken, je weniger verdünnt, desto besser. Damit kann er seinen Magen vom Gift befreien.« Zögernd nahm Fidelma die Flasche entgegen. »Bring sie ihm«, drängte sie der alte Einsiedler und fügte lächelnd hinzu: »Es sei denn, du glaubst, ich wolle ihn vergiften.« »Ich bin dir wirklich dankbar, Gadra«, antwortete Fidelma, im Gefühl, unhöflich gewesen zu sein. »Dann geh schnell zu ihm. Laß es mich wissen, wenn ich sonst noch etwas für ihn tun kann.« Mit der Flasche in der Hand kehrte Fidelma zum Gästehaus zurück. Eadulf saß noch da und war merklich blasser geworden. Um Augen und Mund herum hatte sich die Haut bläulich verfärbt. »Gadra schickt dir das hier. Du sollst es gleich trinken, mit Wasser verdünnt.« Mißtrauisch nahm ihr Eadulf die Flasche aus der Hand. »Was ist das?« »Eine Mixtur aus Gundelrebe und Wermut.« »Sie soll wohl den Magen reinigen«, meinte Eadulf. Er nahm den Stopfen ab, roch an der Flasche und verzog das Gesicht. Dann goß er den Inhalt in einen Becher und fügte Wasser hinzu. Angeekelt starrte er die Mischung einen Augenblick an und schluckte sie dann herunter. Ein Hustenanfall schüttelte ihn. »Na«, sagte er, als er wieder sprechen konnte, »wenn das Gift mich nicht erledigt, dann tut es dieses Zeug bestimmt.« »Wie geht es dir?« fragte Fidelma besorgt. »Schlecht«, gestand Eadulf. »Aber es dauert ungefähr eine Stunde, bis das Gift richtig wirkt und .« Plötzlich traten seine Augen hervor. »Was ist?« rief Fidelma erschrocken. Mit der Hand vor dem Mund sprang Eadulf auf und verschwand in Richtung auf den fialtech. Durch die geschlossene Tür konnte sie sein schreckliches Würgen hören. »Kann ich dir helfen, Eadulf?« fragte sie, als er schließlich wieder auftauchte. »Kaum, fürchte ich. Wenn ich Dignait finde und wenn ich ihr diese Qualen zu verdanke habe, dann werde ich ... o Gott!« Mit der Hand vor dem Mund zog er sich wieder auf den Abort zurück. Es klopfte, und Cron trat ein. »Es hat sich herausgestellt, daß sich Dignait mit Sicherheit nicht mehr im rath aufhält«, sagte sie. »Das scheint ihre Schuld zu bestätigen.« Fidelma sah die Tanist verdrossen an. »Das habe ich mir gedacht.« »Ich habe einen Mann auf die Suche nach Duban geschickt, der ihm berichten soll, was hier geschehen ist«, fügte Cron hinzu. »Wo ist Duban jetzt?« »Oben im Tal des Schwarzen Moors. Muadnats Tod muß ja auch noch aufgeklärt werden.« Cron hielt inne und seufzte. »Es ist kaum zu glauben, daß Dignait versucht haben soll, euch zu vergiften.« »Im Moment scheint alles möglich zu sein«, erwiderte Fidelma. »Wir wissen nicht, welche Rolle sie dabei gespielt hat, ehe sie nicht gefunden und verhört worden ist.« »Sie hat meiner Familie treu gedient.« »Das hat man mir gesagt.« Eadulf kam zurück, erblickte Cron und brachte es fertig, verlegen auszusehen. Cron betrachtete sein blasses Gesicht mit offenkundigem Widerwillen. »Du bist krank, Angelsachse«, begrüßte ihn die Ta-nist ohne Mitgefühl. »Du bist scharfblickend, Cron.« Eadulf versuchte sich seinen Humor zu bewahren. »Kann ich etwas ... können wir .?« Eadulf setzte sich, äußerlich blieb er fröhlich. »Wartet nur ab«, meinte er. »Das kann ich doch wohl allein?« Fidelma lächelte ihn entschuldigend an. »Du hast recht, Eadulf. Wir stören dich nur. Ruh dich aus. Aber ich habe Grella gebeten, von Zeit zu Zeit nach dir zu sehen.« Sie führte Cron sanft, aber bestimmt aus dem Gästehaus. »Wo ist übrigens Critän?« fragte sie, als sie draußen standen. »Ist er wieder nüchtern?« »Er war nicht so betrunken, daß er nicht mehr wüßte, was geschehen ist. Du hast ihn erniedrigt, und das verzeiht er dir nie.« »Er hat sich selbst erniedrigt«, stellte Fidelma richtig. »Nachdem er sich gestern abend vor mir ausgetobt hatte, nahm er jedenfalls, kurz bevor ihr zum rath zurückkamt, sein Pferd und ritt fort. Er sagte, er wolle seine Dienste einem Fürsten anbieten, der seine Talente zu schätzen wisse.« »Das habe ich befürchtet. Er ist arrogant und kann Leute einschüchtern, das sind seine Talente. Aber es gibt genug skrupellose Herren, die sich solche Talente zunutze machen. Du sagst also, er hält sich nicht mehr im rath auf?« Crons Augen weiteten sich. »Du denkst doch nicht etwa, er habe sich mit Di-gnait zusammengetan ...?« »Ich verschwende meine Zeit nicht auf Spekulationen, Cron.« Auf einmal kam ihr ein Gedanke. Er hatte wirklich mit Critan zu tun. Sie wollte ihm nachgehen, da sah sie, wie der Pferdewärter Menma aus dem rath herausritt. Er saß auf einer stämmigen Stute und führte an der Leine einen Esel mit, dem ein schwerer Tragkorb aufgeschnallt war. »Wo will der denn hin?« fragte Fidelma mißtrauisch. »Ich habe ihm gesagt, er soll ins Hochland im Süden reiten und ein paar entlaufene Pferde einfangen«, erwiderte Cron. »Brauchst du ihn? Soll ich ihn zurückrufen?« »Im Augenblick ist das nicht nötig.« Fidelma hätte gern einen Augenblick in Ruhe nachgedacht. Doch plötzlich kamen Reiter über die Holzbrücke in den rath, es waren Cranat und Pater Gorman. Grußlos ritten sie an Menma vorbei. Cron lief sogleich zu ihrer Mutter und berichtete ihr, was sich ereignet hatte. Schwester Fidelma hielt sich im Hintergrund und beobachtete interessiert das Gespräch zwischen Mutter und Tochter. Zwischen ihnen schien eine eigenartige Distanz zu bestehen, eine Förmlichkeit, die nicht leicht zu erklären war. Pater Gormän hatte zugehört. Er war abgestiegen, hatte jemandem sein Pferd übergeben und trat nun auf Fidelma zu. »Bruder Eadulf gehört der römischen Kirche an«, sagte er kurz. »Wenn sein Leben in Gefahr ist, sollte ich ihn versorgen.« »Er wird gut versorgt, Pater Gormän«, erwiderte Fidelma leicht belustigt. »Wir können jetzt nur abwarten.« Pater Gormän errötete. »Ich meinte seine geistliche Versorgung. Die letzte Beichte. Die letzten Riten unserer Kirche.« »Ich habe ihn noch nicht ganz der anderen Welt übergeben«, antwortete sie. »Dum vita est spes est«, fügte sie hinzu. »Solange Leben ist, ist auch Hoffnung.« Sie wandte sich Cranat zu, die fortgehen wollte. »Cranat! Auf ein Wort.« Cranat, hochmütig wie sie war, lief rot an vor Ärger. »Es ist üblich, daß man .« »Ich habe keine Zeit für Formalitäten, das habe ich dir schon einmal gesagt«, unterbrach sie Fidelma. »Hier geht es um Leben und Tod. Ich glaube, du hast heute morgen mit Dignait gesprochen. Hast du gesehen, daß sie das Frühstück für das Gästehaus zubereitet hat?« »Ich gebe mich nicht mit der Küche ab«, erwiderte Cranat verächtlich. »Aber du bist Dignait heute morgen begegnet?« »Ich sah sie, als ich durch die Festhalle ging. Sie kam aus der Küche. Ich sprach sie wegen einer Haushaltsangelegenheit an. Ich erinnere mich, daß die Dienerin Grella hereinkam und Dignait sie anwies, in die Küche zu gehen und das Tablett mit dem Frühstück ins Gästehaus zu bringen. Das ist alles.« »Wir müssen Dignait unbedingt finden. Weißt du, wo sie sein könnte?« »Ich bin nicht gewohnt, mich um die privaten Angelegenheiten von Dienerinnen zu kümmern. Wenn das nun alles ist .« Sie schritt davon, ehe Fidelma noch etwas sagen konnte. Doch Pater Gorman war hartnäckig auf seinem Platz geblieben. »Ich bestehe darauf, den sterbenden angelsächsischen Bruder zu besuchen«, sagte er. »Du trägst einen Teil der Schuld an seinem Tod, Schwester. Du hast jenen Satanssproß freigelassen, obwohl du genau wußtest, daß unser Leben dann in Gefahr sein würde.« »Bist du sicher, daß du die christliche Lehre vertrittst?« fragte Fidelma gereizt. Pater Gorman wurde puterrot. »Mehr als du, das liegt auf der Hand. Christus selbst sagte: >So aber deine Hand dich ärgert, so haue sie ab. Es ist dir besser, daß du zum Leben als ein Krüppel eingehst, denn daß du zwei Hände habest und werdest in das ewige Feuer geworfen.< Es wird Zeit, daß wir dieses Ärgernis beseitigen. Vernichte und vertreibe das Übel in unserer Mitte!« »Bruder Eadulf wird deinen Segen nicht brauchen, Gormän von Cill Uird«, antwortete Fidelma mit einer Ruhe, zu der sie sich zwingen mußte. »Er wird noch nicht sterben.« »Bist du Gott, daß du darüber bestimmst?« höhnte der Priester. »Nein«, sagte Fidelma. »Aber mein Wille ist so stark wie der Adams!« Pater Gormän schien noch weiter mit ihr streiten zu wollen, doch dann wandte er sich ab, stürmte in seine Kapelle und knallte die Tür hinter sich zu. Cron blickte Fidelma verwundert an. »Laß es mich wissen, wenn ich noch etwas tun kann«, sagte sie, bevor sie in die Festhalle ging. Fidelma schritt zurück zum Gästehaus. »Schwester! Schwester!« Grella lief ihr entgegen. Fidelma sah ihrem Gesicht an, daß etwas nicht in Ordnung war, und ihr Herzschlag setzte einen Moment aus. »Was ist mit Bruder Eadulf?« »Komm schnell«, rief das Mädchen, doch Fidelma rannte bereits. »Ich war gerade hineingegangen, wie du angeordnet hattest«, berichtete das Mädchen atemlos und versuchte mit ihr Schritt zu halten. Weiter kam sie nicht, Fidelma war bereits im Gästehaus. Grella eilte ihr danach. Eadulf lag in seiner Schlafkammer auf der Strohmatratze ausgestreckt auf dem Rücken. Er zitterte, Schauer durchliefen seinen Körper, die Augen hielt er geschlossen, und das Gesicht war schweißgebadet. Fidelma sank auf die Knie und faßte Eadulfs Hand. Sie war heiß und feucht. Sie fühlte seinen Puls, er schlug heftig und unregelmäßig. »Wie lange geht es ihm schon so?« fragte sie Grella, die hinter ihr stand. »Ich bin eben erst hereingekommen, und da fand ich ihn so«, wiederholte das Mädchen. »Hol rasch den Einsiedler Gadra her!« Als das Mädchen zögerte, fügte sie hinzu: »Er ist in Teafas Hütte. Schnell!« Eadulf hatte offensichtlich Fieber und war sich seiner Umgebung nicht mehr bewußt. Fidelma stand auf, eilte in den Hauptraum und holte einen Krug Wasser und ein Handtuch, feuchtete es an und begann, Eadulf den Schweiß von seinem geröteten Gesicht zu wischen. Kurz darauf erschien Gadra, gefolgt von Grella. Sanft zog er Fidelma zur Seite. Er betastete Eadulfs Stirn, fühlte seinen Puls und trat zurück. »Im Moment können wir wenig tun. Er hat hohes Fieber, das er entweder besiegt oder dem er erliegt.« Fidelma spürte, wie sich ihre Hände verkrampften. »Können wir ihm nicht helfen?« »Das Gift tut jetzt seine Wirkung. Wir können nur hoffen, daß er soviel davon losgeworden ist, daß der kleine Rest nicht mehr tödlich ist und ihn nur noch ein paar Stunden plagen wird. Seine Körpertemperatur steigt. Wenn sie wieder fällt, haben wir gewonnen. Wenn nicht .« Er zuckte beredt mit den Schultern. »Wann werden wir es wissen?« »Erst in ein paar Stunden. Jetzt können wir nichts tun.« Fidelma fühlte eine törichte Wut in sich aufsteigen, als sie in Eadulfs gelbliches, eingefallenes Gesicht blickte. Sie erkannte, wie trostlos ihr Leben ohne ihn sein würde. Sie erinnerte sich, wie unruhig sie gewesen war, nachdem sie Eadulf in Rom verlassen hatte, um in ihre Heimat zurückzukehren, und wie leer die Monate danach waren. Sie hatte sich in Irland seltsam allein gefühlt, und Heimweh nach Rom hatte sie ergriffen. Es hatte lange gedauert, bis das vorbei war. Es fiel Fidelma schwer, sich einzugestehen, wie gern sie Eadulf hatte. Mit siebzehn hatte sie sich in einen jungen Krieger namens Cian verliebt, der zur Leibgarde des Großkönigs in Tara gehörte. Damals hatte sie bei dem großen Brehon Morann Rechtskunde studiert. Sie war jung und sorglos und sehr verliebt gewesen. Aber Cian hatte sie später wegen einer anderen verlassen. Anfangs war sie darüber verbittert, ganz verwunden hatte sie es nie. Eadulf von Seaxmund’s Ham war der einzige Mann ihres Alters, in dessen Gesellschaft sie sich wirklich wohl fühlte und mit dem sie reden konnte. In der ersten Zeit hatte sie ihn zu Streitgesprächen geradezu herausgefordert, und diese Streitgespräche bildeten die Grundlage ihres freundschaftlichen, unbeschwerten Verhältnisses, denn so heftig ihre verschiedenen Ansichten über Theologie und Kultur auch aufeinanderprallten, sie neckten sich eher auf diese Art, und es gab keine Feindschaft zwischen ihnen. Wie sehr hatte Fidelma sich gefreut, als sie erfuhr, daß der neuernannte Erzbischof von Canterbury, Theodore, der Vertreter des heiligen Vaters in den angelsächsischen Königreichen, Eadulf als Abgesandten an den Hof ihres Bruders Colgü von Cashel geschickt hatte. Das war eine Fügung des Schicksals. Konnte das Schicksal nun so grausam sein und ihr Eadulf nehmen, endgültig und unwiderruflich? »Jetzt können wir nichts tun, Fidelma«, wiederholte Gadra. »Ich bleibe bei dem armen Bruder, und du versuchst herauszufinden, wer euch vergiften wollte. Ich gebe dir Bescheid, sobald irgendeine Veränderung eintritt.« Fidelma betrachtete das leidende Gesicht ihres Freundes und nickte zögernd. Sie versuchte das leichte Zucken ihrer Mundwinkel zu unterdrücken. »Ich danke dir, Gadra«, sagte sie. »Grella wird dir helfen, nicht wahr, Grella?« Das Mädchen rang die Hände. »Ach, Schwester, werde ich dafür bestraft?« »Wofür solltest du bestraft werden?« fragte sie zerstreut. »Daß ich es war, die dir und dem Bruder das Essen gebracht hat«, erinnerte sie Grella. Fidelma begriff, in welcher Angst das Mädchen lebte, und schüttelte mit traurigem Lächeln den Kopf. »Du wirst nicht bestraft. Aber ich muß Dignait finden und feststellen, wer dafür verantwortlich ist, daß die giftigen Pilze auf die Teller kamen. Gadra wird hier deine Hilfe brauchen. Wirst du ihm helfen?« »Natürlich«, antwortete das Mädchen traurig. Fidelma warf noch einen Blick auf Eadulfs fiebergeschüttelte, bewußtlose Gestalt und verließ das Gästehaus. Draußen merkte sie, daß sie zum erstenmal in ihrem Leben ziellos umherlief. Unentschlossen blieb sie stehen. Kapitel 17 Vor der Holzhütte stieg Fidelma vom Pferd. Sie hatte den rath in unbestimmter Absicht verlassen. Bei Nennung des Namens Critan war ihr eine Zeile aus Ver-gils »Äneis« eingefallen: Dux femina facti! - Eine Frau führte zur Tat! Sie wußte nicht, weshalb sie immer wieder an diese Worte denken mußte, als sie den Weg zum Tal des Schwarzen Moors entlangritt und die kleine Hütte an der Flußbiegung erblickte. Die Frau, die sie vor ein paar Tagen dort gesehen hatten, stand vor der Tür. Sie schaute Fidelma neugierig entgegen. Sie war nicht mehr jung, aber wohlgebaut, eine kleine rundliche Blondine mit hervortretenden Backenknochen. Ihre Kleidung verriet, daß sie grelle Farben mochte. Fidelma band ihr Pferd an einen Pfahl. »Guten Tag, Schwester«, sagte die Frau zur Begrüßung. »Du bist hier willkommen, aber ich sollte dich warnen: Weißt du, was dies für ein Haus ist?« Fidelma lächelte leicht. »Das Haus Clidnas, nehme ich an. Stimmt das nicht?« »Ich bin Clidna, aber das Haus ist ein meirdrech loc«, erwiderte die Frau. »Ein Bordell? Ja, davon habe ich gehört.« »Frauen deines Berufs besuchen eine Frau mit Geheimnissen wie mich gewöhnlich nur, um sie zu einer anderen Lebensweise zu bekehren.« Fidelma lächelte bei dem beschönigenden Ausdruck »Frau mit Geheimnissen« für eine Prostituierte, obwohl er in den fünf Königreichen weit verbreitet war. Hier schien er ihr sehr angebracht. »Dux femina facti«, sagte sie laut. »Eben weil du so viele Geheimnisse hast, bin ich zu dir gekommen, Clidna.« Die Prostituierte schaute einen Moment verwirrt drein. »Würdest du es als Beleidigung auffassen, wenn ich dich in mein Haus und zu einer Erfrischung einlade?« fragte sie. »Das würde ich nicht.« »Dann tritt ein, Schwester. Ich kann dir etwas zu trinken anbieten. Bei meinen bescheidenen Mitteln wird es allerdings nicht köstlicher Wein oder süßer Met sein.« Sie ging voran in die Hütte, bat Fidelma, sich zu setzen, und wandte sich dann einem Topf zu, der über einem Holzfeuer hing. »Ich koche gerade Holzfällertee«, erklärte Clidna. »Vielleicht magst du ihn.« »Wie machst du ihn?« fragte Fidelma und sog prüfend den Geruch ein, dem das Aroma des Waldes eigen war. »Das ist ganz einfach«, lächelte die Frau. »Ich zapfe den Saft einer Birke ab und erhitze ihn zusammen mit Kiefernnadeln. Die heiße Flüssigkeit seihe ich durch Riedgrashalme.« Sie reichte Fidelma einen irdenen Krug. Fidelma nippte vorsichtig daran. Das Getränk schmeckte ungewöhnlich, aber nicht unangenehm. »Sehr gut«, meinte sie nach einem kräftigen Schluck. »Nicht zu vergleichen mit dem, was ihr im Palast von Cashel trinkt, nehme ich an?« Fidelma zog eine Braue hoch. »Du weißt also, wer ich bin?« »Ich bin eine Frau mit Geheimnissen.« In Clidnas Augen funkelte der Schalk. »Wo sonst landen Geflüster und Gerüchte als in den Ohren von solchen wie ich?« »Erzählst du mir etwas über dich? Wie bist du zu diesem Beruf gekommen?« »Ich war die Tochter von Geiseln. Meine Eltern gehörten zu den Ui Fidgente und wurden nach der Schlacht an der Apfelfurt gefangengenommen, in der Dicuil, der Sohn des Fergus, von den Männern von Cashel erschlagen wurde.« Geiseln hatten keine Rechte in der Gemeinschaft und mußten arbeiten, bis das Lösegeld gezahlt wurde oder die nächste Generation automatisch freikam. »Ich wurde geboren, bevor meine Eltern gefangengenommen wurden«, fuhr Clidna fort. »Deshalb bin ich keine freie Frau. Ich hatte keine Rechte im Clan, und deshalb bin ich das, was du vor dir siehst: eine Frau mit Geheimnissen. Ohne Sühnepreis, ohne Status, ohne Brautpreis. Ohne Eigentum.« »Wem gehört die Hütte hier?« »Sie steht auf Agdaes Land.« »Ach, Agdae vom Schwarzen Moor?« Clidna lächelte leicht. »Natürlich bezahle ich ihm Miete.« »Natürlich.« »Ich schäme mich nicht für das Leben, das ich führe.« »Habe ich gesagt, daß du das tun solltest?« »Leute deines Berufs, wie Pater Gormän zum Beispiel, möchten mich am liebsten auspeitschen und aus dem Lande jagen lassen.« »Pater Gormän vertritt sehr extreme Ansichten.« Clidna sah Fidelma einigermaßen überrascht an. »Du willst mir doch nicht sagen, daß du das gutheißt, was ich bin?« »Daß ich dich gutheiße oder deinen Beruf?« »Läßt sich das trennen?« »Das hängt vom Einzelfall ab. Mein Lehrer Morann von Tara hat mir beigebracht, ich solle nie andere Leute mit meiner eigenen Elle messen.« Fidelma hielt inne. »Ich bin aber nicht hergekommen, um mit dir über deine Lebensweise zu sprechen, Clidna. Ich bin gekommen, weil ich mich freuen würde, wenn du mir mit ein paar Auskünften helfen würdest.« Die Frau zuckte die Achseln. »Es gibt wenig in dieser Gegend, was ich nicht erfahre.« »Eben. Dux femina facti! Du hast vielleicht Geheimnisse gehört, die in den Wind geflüstert wurden.« »Aber nicht das Geheimnis, das du aufdecken möchtest. Es gibt zu viele Leute, die Eber haßten, die ihm alle möglichen Krankheiten wünschten. Aber ich wüßte nicht, wer so weit gehen würde, ihn zu ermorden.« »Vielleicht hatte zum Beispiel Agdae einen hinreichenden Grund?« Clidna errötete und schüttelte rasch den Kopf. »Außerdem war er in Lios Mhor, als Eber umgebracht wurde. Das weißt du doch«, sagte sie. Fidelma wußte das wohl, aber sie hatte Clidna prüfen wollen. Der Ton, in dem sie von Agdae als ihrem Wirt gesprochen hatte, ließ auf etwas mehr als eine rein geschäftliche Verbindung schließen. »Er wäre auch nicht imstande, jemand anderen für den Mord zu dingen?« »Das ist nicht seine Art. Er ist jähzornig, und die Anhänglichkeit an seinen Vetter Muadnat hat ihn manchmal auf Abwege geführt. Aber er ist nicht gewalttätig.« »Trotzdem überlegt Agdae vielleicht jetzt, während wir uns unterhalten, wie er Archü aus der Welt schaffen könnte. Zumindest soll er damit gedroht haben.« Clidna warf den Kopf zurück und lachte. »Da hast du was falsch verstanden!« »Bist du sicher?« fragte Fidelma. Clidna erhob sich, immer noch lächelnd, und ging zu einer Tür an der Rückseite der Hütte, die in einen dunklen Raum führte. Sie winkte Fidelma, die ihr vorsichtig folgte. Clidna machte ihr ein Zeichen, in das Düster zu schauen, und legte den Finger an die Lippen. Ein starker Geruch nach schalem Alkohol wehte ihr aus dem Raum entgegen, der offensichtlich als Schlafkammer diente. Sie hörte ein röchelndes Schnarchen und sah eine Gestalt auf einer hölzernen Pritsche ausgestreckt liegen. Clidna ging geräuschlos durch den Raum und stieß einen Fensterladen auf, um Licht hereinzulassen. Die Gestalt stöhnte leise. Fidelma spähte hinüber. Mühelos erkannte sie Agdae. Clidna zog den Laden wieder zu, und beide verließen den Raum. »Er ist seit dem Tode Muadnats hier und die ganze Zeit kaum nüchtern«, erklärte Clidna. »Der Tod seines Vetters hat ihn sehr mitgenommen. Er ist zu Gewalttaten nicht fähig. Soviel weiß ich.« Fidelma nahm wieder Platz und nippte nachdenklich an ihrem Holzfällertee. »Kam Eber auch manchmal her?« Clidna lachte und setzte sich kopfschüttelnd. Sie lachte anscheinend gern. »Ich war nicht nach seinem Geschmack, denn ich war weder ein junges Mädchen noch mit ihm verwandt«, antwortete sie. »Nein, er hatte andere Gelegenheiten.« »Du sagtest, daß viele ihn haßten?« »Er war für die Leute von Araglin, was ein Rabe für ein Aas ist«, meinte Clidna. »Woher kam dann der Ruf von Freundlichkeit und Großzügigkeit, von Sanftmut und Ritterlichkeit, in dem er stand?« »Eber bemühte sich um Einfluß in der Versammlung des Königs von Cashel. Er wollte alle zu Freunden machen und seinen Ruf verbessern, um einen Sitz im Rat zu erlangen.« »Weh euch, wenn euch jedermann wohlredet!« murmelte Fidelma. Sie lächelte Clidna zu, die sie fragend anschaute. »Das steht im Evangelium des Lukas. Oder mit anderen Worten, wie es Aristoteles sagt, wer behauptet, viele Freunde zu haben, hat gar keinen Freund. Erzähl mir von den Leuten, die ihn haßten.« »Und wo soll ich da anfangen?« fragte Clidna skeptisch. »Warum nicht bei seiner Familie?« »Eine gute Idee«, bestätigte sie. »Jeder seiner Angehörigen haßte ihn.« »Jeder?« Fidelma beugte sich interessiert vor. »Dann erörtern wir das genauer. Auch seine Frau?« »Cranat? Ja, sie haßte ihn. Daran gibt es keinen Zweifel. Wenn du mit ihr gesprochen hast, dann weißt du, daß sie sich schlecht behandelt fühlte. Daß sie sich unter ihrem Stand vermählt hat. Sie, eine Prinzessin der Deisi. Sie mochte nicht in Araglin leben. Sie hatte Eber nur des Geldes wegen geheiratet. Vorhin hast du eine Zeile Latein zitiert. Ich habe auch mal eine Zeile von einem« - sie zögerte und lächelte - »von einem Freund gelernt. Sie lautet: quaerenda pecunia primum est virtus post nummos.« »Eine Zeile aus den Briefen des Horaz« - Fidelma kannte sie -, »die viel zitiert wird. >Zuerst muß man Reichtum erwerben; Geld geht noch über die Tu-gend.< Also heiratete Cranat Eber, um Reichtümer zu erwerben, weil sie wichtiger sind als Tugend?« Clidna lächelte zustimmend. »Ist Cron ihr einziges Kind von Eber?« Clidna rieb sich die Nase und nickte: »Ja.« »Seit wann wohnt Cranat von Eber getrennt?« »Sie trennten sich, als Cron ungefähr zwölf oder dreizehn Jahre alt war. Es gab natürlich Gerede.« »Gerede?« »Daß Eber seine eigene Tochter der Gemeinschaft mit seiner Frau vorzog.« Fidelma lehnte sich zurück und sah Clidna lange nachdenklich an. »Noch mehr Tee?« fragte Clidna, ungerührt von der Wirkung ihrer Worte. Fidelma nickte automatisch und hielt ihr ihren Krug hin. »Reden wir also von Cron. Wie stand sie zu ihrem Vater?« »Ich habe gehört, sie hatten ein enges Verhältnis. Sie kam gut mit ihm aus, und kaum hatte sie das Alter der Wahl erreicht, da wurde sie zur Tanist gemacht. Wir sind hier eine ländliche Gemeinschaft, Schwester. Das gab ziemlichen Ärger.« »Ärger?« »O ja. Ein junges Mädchen wurde zur Nachfolgerin eines Fürsten gewählt.« »Das ist nicht ungewöhnlich«, wandte Fidelma ein. »Frauen können sich um alle Ämter in den fünf Königreichen bewerben.« »Aber in bäuerlichen Gegenden werden sie selten gewählt. Es gab jedoch noch ein anderes Problem. Muadnat war bereits zum Nachfolger gewählt.« Fidelma versuchte ihre Überraschung zu verbergen. »Muadnat?« »Ja. Wußtest du nicht, daß er Ebers Vetter war und daß er, weil Eber keine unmittelbaren männlichen Erben hatte, schon vor langer Zeit zum Tanist ernannt worden war? Als Eber ihn absetzte und seine eigene Tochter zur Tanist wählen ließ, wurde gemunkelt, Eber habe sich die Unterstützung dafür mit viel Geld erkauft.« Fidelmas Gedanken wirbelten. »Wecke Agdae für mich!« Clidna wollte protestieren, unterließ es aber angesichts Fidelmas entschlossener Miene. Es dauerte etwas, bis Agdae zu sich kam. Er saß blinzelnd auf dem Bett und rieb sich die Augen. Nüchtern war er offensichtlich noch nicht. »Hör zu, Agdae«, redete Fidelma ihn barsch an, »hör genau zu. Und sag mir die Wahrheit. Wenn du das nicht tust, könnte dein Leben in Gefahr geraten. Hast du mich verstanden?« Agdae stöhnte. »Wann wurde Muadnat von den derbfhine des Hauses der Fürsten von Araglin als Tanist abgesetzt?« Agdae starrte sie mit leerem Blick an. »Wann?« fragte Fidelma noch einmal. »Wann?« wiederholte Agdae benommen. »Ach, vor drei Wochen.« »Erst vor drei Wochen? Und gehörst du zu den derbfhine?« Agdae fuhr sich durch sein wirres Haar und nickte widerwillig. »Gib mir was zu trinken.« »Gehörst du zu den derbfhine?« fragte Fidelma mit lauterer Stimme. »J .« »Hast du dafür gestimmt, daß Muadnat Tanist bleibt?« »Natürlich, ich ...« »Wer hat sonst noch für Muadnat gestimmt ... Wer noch?« Agdaes Augen schlossen sich wieder, als sei er am Einschlafen. »Wer außer dir hat Muadnat in der Versammlung unterstützt?« Sie rüttelte ihn an den Schultern. »Schon gut, schon gut!« protestierte er. »Nur Cra-nat, Teafa und ich ... ach, und Menma. Weiter keiner.« »Also gehört Menma auch den derbfhine an?« »Der Pferdewärter hat eine Stimme bei den derbfhine«, bestätigte Clidna. Agdae sank wieder in Trunkenheit auf das Bett. Fidelma blieb einige Augenblicke nachdenklich stehen, ehe sie in den anderen Raum zurückkehrte. Clidna folgte ihr und schloß leise die Tür zur Schlafkammer. Fidelma setzte sich wieder. Vorsichtig folgte Clidna ihrem Beispiel. »Also wurde Cron erst vor drei Wochen zur Tanist gewählt?« überlegte Fidelma. »Ich weiß, daß es eine Verbindung zwischen Cron und Duban gibt. Wie war das Verhältnis Dubans zu Eber?« »Es heißt, daß Duban Eber haßte«, antwortete Clidna. »Trotzdem befehligte er seine Leibwache. Wußte Eber von diesem Haß?« »Eber war vollständig mit sich selbst beschäftigt. Er war empfänglich für Schmeicheleien, und wenn er auf Feinde traf, dann bestach er sie eben. Als Duban nach vielen Jahren nach Araglin zurückkehrte und Eber seine Dienste anbot, fühlte Eber sich geschmeichelt, daß ein Krieger, der sich im Kampf gegen die Ui Fid-gente Ruhm erworben hatte, bei ihm dienen wollte.« »Ich verstehe«, sagte Fidelma nachdenklich. Clidna las in ihrer Miene. »Falls du Duban des Mordes an Eber verdächtigst, irrst du dich meiner Meinung nach. Duban ist ehrgeizig und zielbewußt, aber er besitzt den Ehrbegriff eines Kriegers. Er würde Eber im Zweikampf töten, aber sich niemals nachts zu ihm schleichen und ihm die Kehle durchschneiden.« »Ich habe es erlebt, daß Menschen zu ganz unwahrscheinlichen Mitteln greifen, die überhaupt nicht zu ihnen passen.« »Nun, ich würde sagen, daß von allen Menschen in Araglin Duban, trotz seines Hasses auf Eber, der letzte wäre, der einen Mord beginge.« »Weißt du, weshalb Duban Eber haßte?« »Ach, das ist eine alte Geschichte aus der Zeit, als Duban noch ein junger Mann war. Irgend etwas ver-anlaßte ihn damals, sich den Truppen der Könige von Cashel anzuschließen.« »Du sagtest, du würdest eher anderen Leuten als Duban den Mord an Eber zutrauen. Wem zum Beispiel?« Clidna lächelte verlegen. »Du bist nicht gekränkt, wenn ich offen meine Meinung sage?« »Weshalb sollte ich?« »Vielleicht gefällt dir nicht, was ich zu sagen habe.« »Es ist egal, ob es mir gefällt, wenn es mich auf den Weg zur Wahrheit bringt. Wir suchen die Wahrheit, wo sie auch liegen mag. Vincit omnia Veritas.« »Pater Gorman haßte Eber. In allem, was er für Moral hält, ist er ein Fanatiker. Ständig droht er den Leuten mit der Hölle und dem ewigen Feuer. Er drohte auch Eber und Teafa.« »Woher weißt du das?« »Ich erfuhr es von dem eingebildeten kleinen Jungen, der so tut, als sei er ein Krieger. Er war oft hier.« »Critan?« »Genau der. Eines Abends betrank er sich hier, und in seinem Rausch erzählte er mir, daß Pater Gorman sowohl Eber als auch Teafa in heftigster Weise beschimpft habe. Eber habe er einen üblen Hurenbock genannt, der in der Hölle schmoren werde, und gemeint, Teafa sei nicht besser. Pater Gorman warf ihnen viele Sünden vor, so viele, daß er erklärte, die Hölle sei nicht heiß genug und die Ewigkeit nicht lang genug, um sie hinreichend zu bestrafen.« »Wann war das?« »Laut Critan vor zwei Wochen. Eber wurde so wütend auf Gorman, daß er ihn schlug.« »Eber schlug den Priester?« Selbst Fidelma war überrascht. »So war es.« »Gab es Zeugen?« »Critan sagt, er habe es selbst gesehen, weil es sich im Pferdestall abspielte. Sie bemerkten ihn nicht, denn er war auf dem Heuboden.« »Worum ging es bei dem Streit?« »Danach solltest du Critan fragen.« »Ich glaube kaum, daß er es mir verraten würde. Mach dir keine Sorgen. Wenn du mir erzählst, was Critan gesagt hat, richte ich es so ein, daß dein Name nicht erwähnt wird, falls daraufhin etwas unternommen werden muß.« »Critan lag auf dem Heuboden über dem Pferdestall, wahrscheinlich schlief er. Eine laute Auseinandersetzung weckte ihn. Gorman, Eber und Teafa waren im Stall. Er verstand nicht genau, worüber sie sich stritten, nur soviel, daß Pater Gorman den beiden unmoralisches Verhalten vorwarf. Critan meinte, daß Moen irgendwie erwähnt wurde. Dann schlug Eber tatsächlich den Priester.« »Wie ging es weiter?« fragte Fidelma. »Pater Gorman stürzte hin. Critan sagte, daß er etwas in der Art rief wie, für diesen Schlag werde Eber der Tod treffen.« »Das hat er gesagt?« »Laut Critan ja.« »Was waren genau seine Worte?« »Ich glaube, Critan sagte, daß Pater Gorman schrie: >Der Himmel wird dich töten für diesen Schlag< -oder so ähnlich.« »Ach, der Himmel. Er hat nicht gesagt, daß er selbst den tödlichen Streich führen würde?« Clidna schüttelte den Kopf. »Nun gut, ich werde dich da heraushalten. Aber verrate mir noch eins«, Fidelma lächelte leicht, »ist Agdae ein guter Wirt?« »Nicht besser und nicht schlechter als andere«, wich Clidna verlegen aus. »Aber du magst ihn mehr als andere?« »Es ist schön, wenn man von einem besseren Leben träumen kann«, gab sie zu. »Was kannst du mir über Muadnat sagen?« »Ein Hitzkopf. Er war es gewohnt, immer seinen Willen durchzusetzen.« »Haben Muadnat und Agdae häufig dein . dein Haus besucht?« Clidna lachte fröhlich. »Sie und halb Araglin. Ich schäme mich nicht. Ich lebe davon.« »Hast du mal gehört, daß einer von beiden von einem Bergwerk sprach?« »Einem Bergwerk? Meinst du hier in Araglin?« »Ja. Oder im Schwarzen Moor, auf Muadnats Land zum Beispiel.« »Nein, auch nicht woanders in dieser Gegend. Aber weißt du ... vielleicht hat es nichts zu bedeuten ...« Fidelma schwieg erwartungsvoll. »Menma sagte mal was. Er sagte was von einem Mann, der Steine gefunden hatte, die ihn reich machen würden.« »Wie?« »Ich verstand es damals nicht, und ich verstehe es auch jetzt nicht, Schwester. Menma ist oft hier, und meistens ist er betrunken. Vor ein paar Wochen redete er im Suff davon, Reichtümer aus der Erde zu holen. Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. Dann sagte er was von einem Mann, der das Geheimnis kenne, Steine zu Reichtum zu machen, und daß Reichtum mehr Macht bedeute, als Eber sich vorstellen könne.« »Erwähnte er den Namen des Mannes?« »Es klang so wie Mor ... Mor und noch was.« »Morna?« fragte Fidelma. »Ich glaube ja. Da du nach Bergwerke fragst - holt man aus ihnen nicht Steine, die wertvolle Metalle enthalten?« »Hast du noch mehr davon erzählen hören? Hat Muadnat etwas darüber gesagt?« »Nein. Interessant ist noch, daß zu der Zeit Menma und Muadnat anscheinend dicke Freunde wurden. Vorher war Muadnat nie freundlich zu dem Pferdewärter gewesen. Das war eigenartig. Ich weiß es, weil Agdae sich mal darüber beklagte, daß Muadnat und Menma nun oft in den Bergen auf die Jagd gingen und er sich ausgeschlossen fühlte.« Langsam und nachdenklich stand Fidelma auf. »Ich bin dir sehr dankbar für alles, was du mir berichtet hast, Clidna. Du warst mir eine große Hilfe.« Kapitel 18 Zunächst hatte sie vorgehabt, Duban zu suchen, um festzustellen, ob er herausgefunden hatte, wohin Di-gnait sich geflüchtet haben könnte. Sie war äußerst beunruhigt. Wenn ihr Clidna auch gesagt hatte, es gäbe andere in Araglin, denen sie eher einen Mord zutrauen würde als dem stämmigen Krieger, so konnte das Fidelmas Verdacht nicht ausräumen. Wenn er Eber haßte, warum war Duban dann nach Araglin zurückgekehrt und in seine Dienste getreten? Und wenn er Cron liebte, dann war der Tod Ebers von Vorteil für beide. Sie traute ihnen nicht mehr wegen der Lügen, die sie ihr aufgetischt hatten. Unbewußt lenkte sie ihr Pferd über die Berge zum Bergwerk hin. Es war ein mühsamer Ritt, denn mehrmals hielt es Fidelma für besser, sich vor einem einsamen Reisenden zu verbergen oder einen weiten Bogen um Gebäude herum zu machen, als beobachtet zu werden. Sie hatte das deutliche Gefühl, daß sich die Ereignisse verdichteten wie die Fäden eines Spinnennetzes, immer enger miteinander verflochten waren zur Mitte hin, wo die schattenhafte Gestalt eines großen Drahtziehers saß, der die verschiedenen Stränge manipulierte. Fidelma erreichte das Waldstück, in dem sie und Eadulf den Höhleneingang entdeckt und Menma daraus hervortreten gesehen hatten. Sie überlegte, wie nahe sie wohl herankäme, ohne bemerkt zu werden, und wie viele Arbeiter da sein mochten. Ihr Instinkt sagte ihr, daß sie dort einen der Schlüssel zu all den Geheimnissen finden werde. Mit geschärften Sinnen ritt sie durch den Wald und nahm die düsteren Eichen wahr, deren Blütenstände sich färbten, die weißen, roten und sogar rosafarbenen Blüten des kräftigen Weißdorns und die gerade abgeblühten Eiben. Die Buchen standen in leuchtend frischem Grün. Alles schien so friedlich, so idyllisch. Es war schwer zu glauben, daß Mord und Totschlag in diesem schönen Land umgingen. Plötzlich scheute ihr Pferd, denn ganz in der Nähe war das eigenartige hohe Bellen eines jagenden Fuchses zu hören. Es war klug, nicht zu vergessen, daß auch in so idyllischer Umgebung Raubtiere ihre Opfer suchten. Sie näherte sich der Stelle, an der sie und Eadulf ihre Pferde angebunden hatten, und entschloß sich, das wieder zu tun und zu Fuß weiterzugehen. Das war gut so, denn als sie den Waldrand erreichte, hörte sie Hufschlag und duckte sich ins Unterholz. Auf dem nahen Weg kam aus der Richtung der Höhle ein Pferd angaloppiert. Fidelma sah eine schlanke Gestalt tief auf den Hals des Pferdes gebückt, und ein bunter Mantel wehte im Wind. Dann waren Pferd und Reiter vorbei. Fidelma verhielt einen Augenblick. Plötzlich meinte sie, von der Lichtung her einen Schrei zu hören, und ging vorsichtig darauf zu. Bald blickte sie über die Lichtung auf den Berghang, in dem sich der Höhleneingang befand. Zwei Pferde waren davor angebunden. Sie hielt sich im Schutz der Büsche verborgen. Von dem Wagen war diesmal nichts zu sehen, und von dem Feuer war nur noch eine geschwärzte Stelle übrig, doch die Werkzeuge lagen noch an ihrem Platz. Sie horchte, aber außer dem Gesang der Waldvögel und dem Rauschen des Windes in den Wipfeln war nichts zu vernehmen. Fidelma betrachtete die Pferde. Sie waren gesattelt und bestimmt keine Ackergäule, sondern von der Art, wie sie Krieger ritten. Eins von ihnen kam ihr bekannt vor, und sie zürnte ihrem Gedächtnis, weil sie sich nicht erinnern konnte, wo sie es gesehen und wer es geritten hatte. Sie wollte aufstehen und sich der Höhle nähern, als sich plötzlich die Ereignisse überschlugen. Eben waren ihre Gedanken noch bei den Pferden, da ließ ein Schrei sie erstarren. Eine Gestalt tauchte aus dem Höhleneingang auf. Sie lief auf die Pferde zu. Es war der rothaarige Menma. Der Pferdewärter hatte es fast bis zu den Pferden geschafft, als eine zweite Gestalt im Höhleneingang erschien. Sie trat gemächlich heraus, einen gespannten Bogen mit aufgelegtem Pfeil in der Hand. »Menma!« Die Stimme war nicht laut, aber so durchdringend, daß sie über die ganze Lichtung schallte. Der Pferdewärter fuhr herum. Selbst aus der Entfernung sah Fidelma das Entsetzen in seinem Gesicht. »Um der Liebe Gottes willen!« stammelte er. »Ich kann dich bezahlen! Ich kann .« Dann riß er das Schwert an sich, das am Sattel seines Pferdes hing, und stürmte, die Waffe schwingend, auf seinen Verfolger zu. Die zweite Gestalt hob lässig den Bogen. Menma war jetzt in vollem Lauf und verzweifelt bemüht, den Abstand zu überwinden. Es gab einen dumpfen Laut. Menma wurde rückwärts zu Boden geschleudert, das Schwert flog ihm aus der Hand. Ein Pfeilschaft ragte aus seiner Brust. Er zuckte noch kurz, dann lag er still. Die zweite Gestalt schritt langsam zu ihm hin und betrachtete gelassen seinen reglosen Körper. Sie stieß ihn mit der Zehenspitze an, wie um sicherzugehen, daß er tot war. Dann beugte sie sich über ihn und zog den Pfeil aus seiner Brust. Fidelma konnte erkennen, wie dabei ein kleiner Blutstrom herausschoß. Ruhig steckte die zweite Gestalt den Pfeil wieder in den Köcher, löste die Bogensehne, ging zu ihrem Pferd, band es los und schwang sich in den Sattel. Sie beugte sich zu Menmas Pferd, band es ebenfalls los und ritt von der Lichtung, das zweite Pferd mitführend. Erst als der Reiter auf dem Waldweg verschwunden war, atmete Fidelma tief durch. Sie war wie erstarrt vor Entsetzen. Die zweite Gestalt war Duban. Es dauerte einige Zeit, bis Fidelma ihr Versteck verließ und langsam zur Leiche Menmas ging. Sie sah, daß jede irdische Hilfe zu spät kam, also bekreuzigte sie sich und sprach ein leises Gebet für den Frieden seiner Seele. Sie hatte den übelriechenden Stallwärter nicht besonders gemocht, doch sie fragte sich, ob er einen solchen Tod verdient hatte. Welchen Grund hatte Duban, den Rothaarigen so kaltblütig niederzuschießen? Ihr Blick fiel auf einen Gegenstand im Hosenbund des Stallwärters, der ihr an ihm merkwürdig vorkam. Sie beugte sich nieder und zog ihn heraus. Es war ein Stück beschriebenes Pergament, aus dem noch etwas anderes herausfiel, ein kleines, einfach gearbeitetes goldenes römisches Kruzifix. Sie hob es auf. Das Gold glänzte rötlich von dem Anteil des Kupfers darin. Sie besah sich das Pergament. Etwas Lateinisches stand darauf, das sich leicht übersetzen ließ: »Wenn du Antwort auf die Morde in Araglin haben willst, dann sieh unter dem Bauernhof des Landräubers Archü nach.« Sie runzelte die Stirn. Das Latein war einfach, aber klar formuliert und grammatisch korrekt. Sie blickte auf Menmas Leiche hinunter. Er hatte das Pergament in seinen Hosenbund gesteckt, und Duban hatte es offensichtlich nicht bemerkt. Es hatte keinen Zweck, sich an dieser Stelle zu fragen, was es zu bedeuten habe. Sie faltete es sorgfältig zusammen und tat es samt dem Kruzifix in ihren Beutel. »Terra es, terram ibis«, murmelte sie, den Blick auf die Leiche gerichtet. Das war nur zu wahr. In einer Welt voller Ungewißheiten war es die einzige verläßliche Aussicht. Wir sind alle von Staub gemacht und werden eines Tages wieder zu Staub. Sie wandte sich zum Höhleneingang. Sie war sich sicher, daß nach Dubans Fortgang dort niemand mehr sei. Die Höhle lag dunkel und still da. Sie sah die Werkzeuge am Eingang und daneben eine Öllampe mit Feuerstein und Zunder. Im Nu hatte sie sie angezündet und ging ins Dunkle hinein. Anscheinend war in der Höhle noch vor kurzem gearbeitet worden. Sie brauchte nicht weit zu gehen, um ihre Vermutung bestätigt zu finden. Sie erblickte eine glitzernde Gesteinsader etwa in Schulterhöhe. Sie betastete sie, im Lampenlicht blitzte es rötlichgolden auf. Ein Goldbergwerk. War dies der wahre Grund für alle Geheimnisse? Sie untersuchte die Goldader sorgfältig. Sie kannte sich ein wenig damit aus, denn an mehreren Stellen in den fünf Königreichen wurde Gold gewonnen, sogar in Kildare, dem großen Kloster, das die heilige Brigitta gegründet und in dem Fidelma den größten Teil ihres Lebens als Nonne verbracht hatte. Es hieß, daß Tigernmas, der sechsundzwanzigste Großkönig, der tausend Jahre vor Christi Geburt über Eireann herrschte, der erste war, der in diesem Lande Gold schmolz. Ob das nun stimmte oder nicht, jedenfalls hatte das Gold die Rinder als Maßstab für den Wert von Waren, Diensten und Verpflichtungen fast verdrängt. Wegen seiner Beständigkeit besaß Gold viele Vorteile gegenüber dem traditionellen Tauschhandel. Es war inzwischen eine gängige Währung ebenso wie Silber, Bronze und Kupfer. Wer diese Ader ausbeutete, der würde reich werden. Die Dinge fügten sich allmählich zu einem Bild zusammen, aber noch fehlten einige Details, damit es vollständig war. Morna, der Bruder Bressals, war Bergarbeiter gewesen, und er hatte das Gold entdeckt. Jetzt war Morna tot. Muadnat hatte sich verzweifelt bemüht, dieses Land zu behalten, weil es hier Gold gab. Aber auch er war tot. Menma? Menma hatte anscheinend für Muadnat gearbeitet. Doch er hatte nicht genug Verstand, um dieses Bergwerk selbst auszubeuten. Nun war Menma ebenfalls tot. Und was war mit Duban, der Menma getötet hatte? Sie verließ eilig die Höhle und trat hinaus in das erlösende Tageslicht. Menmas Leiche lag noch immer auf dem Rücken auf der Lichtung. Die Sonne stand nach wie vor am Himmel, und der Gesang der Vögel war nicht verstummt. Alles schien so unwirklich. Fidelma überquerte die Lichtung und eilte in den Schutz des Waldes und zu ihrem Pferd. Ihr nächstes Ziel war Archüs Hof. Zum zweitenmal innerhalb kurzer Zeit führte sie ihr Pferd über den Berg, der sie von dem L-förmigen Tal des Schwarzen Moors trennte, in dem Archü wohnte. Am späten Nachmittag begann sie den Abstieg zu seinem Hof. Scoth eilte ihr entgegen und begrüßte sie mit einem warmen Lächeln. »Es ist schön, dich so bald wiederzusehen, Schwester. Wo ist Bruder Eadulf?« Fidelma erklärte es ihr. Sie bemühte sich, ihre Gefühle nicht zu verraten, doch das Mädchen durchschaute sie sofort und faßte ihre Hand. »Können wir irgend etwas tun?« Fidelma versuchte ihre schlimme Vorahnung zu verdrängen. »Nichts. Erst muß das Fieber zurückgehen ... Falls es zurückgeht. Wo ist Archü?« »Er ist oben auf der Wiese mit Dubans Kriegern. Sie reparieren einen Zaun, denn es sollen sich hier hungrige Wölfe herumtreiben.« »Es ist nicht gut, daß du hier allein bleibst. Einer der Krieger sollte immer zu deinem Schutz bei dir sein«, sagte Fidelma besorgt. »Sie sind in Rufweite«, versicherte ihr Scoth. »Ich glaube nicht, daß ich Angst haben muß. Archü kann von der Wiese aus gut sehen, ob Fremde ins Tal kommen.« »Ich kam über den Berg, und das hat er anscheinend nicht bemerkt.« »Er sah dich vor einer halben Stunde über den Berg kommen und sagte mir, ich solle dich empfangen«, erklärte Scoth fröhlich. »Ich werde schon gut beschützt. Aber du bist zu einem bestimmten Zweck hier, Schwester, das sehe ich dir an den Augen an.« »Gehen wir einen Moment ins Haus«, schlug Fidelma vor. »Hat es etwas mit Archü zu tun?« erkundigte sich Scoth. Fidelma führte sie am Arm in das Bauernhaus. »Es ist wahrscheinlich nichts weiter als ...« Sie langte in ihr marsupium und holte das Stück Pergament heraus. »Kannst du Latein lesen, Scoth?« Das Mädchen schüttelte traurig den Kopf. »Ich war nur Küchenmagd. Archü sagt, er will mir Lesen und Schreiben beibringen, wenn wir den Hof in Ordnung haben. Er hat es von seiner Mutter gelernt.« »Nun, es ist eine Botschaft auf Lateinisch. Jemand rät mir, wenn ich Antworten auf die Morde in Araglin finden wolle, hier danach zu suchen.« »Das ist böse. Wer will denn da ... ach«, das Mädchen unterbrach sich, »ich glaube, das kommt von Agdae.« »Agdae?« Fidelma schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß Agdae in der Lage ist, so etwas zu schreiben. Warum sollte er außerdem Lateinisch schreiben?« »Ich denke, das gehört auch zu dem Plan, uns von diesem Land zu vertreiben.« »Was gehört dazu?« Archü stand in der Tür und sah Scoth und Fidelma stirnrunzelnd an. Er zögerte einen Moment und fuhr dann fort: »Ich sah dich kommen. Ich repariere gerade den Zaun oben an der Wiese. Gibt es noch mehr Ärger?« »Jemand hat Fidelma geschrieben, wir wären verantwortlich für die Morde in Araglin.« Fidelma verbesserte sie sofort. »Das habe ich so nicht gesagt, Scoth. Ich fand ein Stück Pergament, Archü. Kannst du Latein lesen?« »Meine Mutter hat mich gelehrt, es zu entziffern«, gestand er. »Aber ich beherrsche es nicht gut.« »Was hältst du davon?« Sie reichte ihm das Pergament. »Wenn du Antwort auf die Morde in Araglin haben willst, dann sieh unter dem Bauernhof des Landräubers Archü nach«, las er stockend. Verwirrt sah er Fidelma an. »Was bedeutet das?« »Deshalb bin ich hier, um das herauszubekommen. Ich fand das Blatt bei der Leiche von ... bei einem Toten.« »Einem Toten?« wiederholte er verständnislos. »Ja. Menma.« »Aber Menma war doch erst heute morgen hier mit einer Nachricht«, sagte Archü erstaunt. »Was hatte er euch mitzuteilen?« »Es ging darum, daß Dignait vermißt wurde. Ich sollte Dubans Männer auffordern, nach ihr Ausschau zu halten.« »Ist das schon wieder ein Versuch, uns anzuschwärzen und uns aus dem Schwarzen Moor zu vertreiben?« fragte Scoth und hielt sich an Archüs Arm fest. »Wir müssen davon ausgehen, daß jemand eine Spur gelegt hat, der ich folgen soll. Schauen wir mal, was wir finden.« »Du kannst gern den Hof absuchen.« Archü breitete dramatisch die Arme aus. »Wir haben nichts zu verbergen.« Fidelma nahm ihm das Pergament aus der Hand und rollte es zusammen. »Da steht ausdrücklich >suche unter dem Bauernhofs Archü«, erklärte sie. »Was befindet sich unter dem Hof?« Der junge Mann überlegte eine Weile. »Unter dem Hof ist nichts.« »Hast du irgendwo eine Stelle gesehen, an der kürzlich gegraben wurde? Vielleicht .« Archü überraschte sie damit, daß er plötzlich mit den Fingern schnippte. »Ich glaube, ich weiß, was gemeint ist.« »Was denn?« fragte Scoth. »Mir ist gerade eingefallen, daß meine Mutter mir etwas von einer unterirdischen Kammer erzählt hat. Dieser Hof wurde an einem Ort errichtet, an dem man in alten Zeiten eine unterirdische Vorratskammer angelegt hatte zur Vorsorge gegen Mißernten und Unwetter.« »Hast du sie mal gesehen?« »Daran kann ich mich nicht erinnern. Meine Mutter meinte, die Kammer sei verschlossen worden, als ich noch ein kleiner Junge war. Das Kind einer Dienstmagd war hineingefallen und hatte sich tödlich verletzt. Pater Gorman machte damals gerade einen Besuch hier. Er holte das Kind heraus und riet, die Kammer zu verschließen. Soviel ich weiß, ist sie seitdem nie wieder geöffnet worden. Ich hatte es fast vergessen, bis du mich darauf gebracht hast.« »Der Schreiber dieses Briefes hat es anscheinend nicht vergessen. Wir müssen den Eingang suchen«, sagte Fidelma. »Das ist unmöglich. Ich wüßte nicht, wo wir anfangen sollten.« »So unmöglich ist es nicht. Der Briefschreiber erwartet von uns, daß wir ihn finden, also muß er in der letzten Zeit benutzt worden sein.« Der Boden des Bauernhauses war mit Steinplatten ausgelegt, und ein Abklopfen blieb ergebnislos. Es gab weder hohl klingende Stellen noch lose Platten. »Vielleicht ist die Kammer irgendwo draußen?« vermutete Scoth. Sie gingen um das Haus herum, doch keine Stelle lud zu näherer Untersuchung ein. »Was ist mit der Scheune da?« fragte Fidelma und wies auf ein nahes Gebäude. Es stand neben dem, das nun nur noch eine geschwärzte Ruine war. »Sie ist noch nicht gesäubert und umgebaut«, erklärte ihr Archü. »Man hat Schweine darin gehalten.« »Dann ist es vielleicht der richtige Ort«, meinte Fidelma und ging den anderen voraus. Drin stank es so, daß ihr fast der Atem wegblieb. Trotz des Tageslichts war es in der Scheune dunkel und feucht. »Ich habe die Schweine herausgebracht und wollte saubermachen«, erklärte Archü, als Fidelma zögernd im Dunkel stehenblieb. »Wir brauchen eine Lampe.« »Ich hole eine«, erbot sich Scoth. Bald war sie zurück. Fidelma hob die Lampe hoch, betrat wieder die stinkende Scheune und sah sich um. Auch hier war der Boden mit Steinplatten ausgelegt. Sie schienen alle fest zu sein, doch dann bemerkte Fidelma in einer Ek-ke unter einer Strohlage eine Erhöhung aus Holzbohlen. Sie schob das feuchte Stroh mit dem Fuß beiseite und entdeckte eine Klapptür. »Das muß der Eingang sein«, stellte sie mit Befriedigung fest. »Halt die Lampe, Scoth. Hilf mir, Archü, damit wir die Ecke frei machen und die Klapptür öffnen können.« Es dauerte eine Weile, bis sie die große Holztür entriegelt und gegen die Wand gelehnt hatten. Wie erwartet, führte darunter eine Reihe grob behauener Steinstufen in die Tiefe. Die künstliche Höhle hatte Trockenmauern und eine Decke aus mächtigen Holzbalken. Fidelma nahm Scoth die Lampe ab und stieg wortlos hinunter. Die Stufen endeten in einem Gang, der so niedrig war, daß man sich darin nur gebückt fortbewegen konnte. Wie Archü gesagt hatte, dienten solche unterirdischen Kammern, uaimh talamh genannt, zur Aufbewahrung von Lebensmitteln für Notzeiten. Den Gang nannte man »Kriechgang«, und von ihm zweigten kleine Kammern ab. Die Höhle stank scheußlich, sie war offensichtlich lange nicht benutzt worden. Fidelma brauchte nicht weit zu gehen, bis sie fand, was sie suchte. Sie hatte etwas Ähnliches erwartet, war aber doch nicht ganz gefaßt auf die Leiche, auf die das Licht ihrer Lampe fiel. Es war Dignait. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten. Das sah man auf den ersten Blick. Die Wunde klaffte rot, obwohl das Blut schon geronnen war. Sie war seit mehreren Stunden tot. Fidelma zwang sich dazu, die Wunde genau zu untersuchen. Sie stammte von einem einzigen Schnitt mit einem scharfen Gegenstand, durch den der Kopf fast vom Rumpf getrennt worden war. Sie hatte diese Art von Wunden nun schon zweimal gesehen und wurde erneut an ein geschlachtetes Tier erinnert. Archü half ihr, die Leiche aus der Höhle zu schaffen. Das war schwierig, aber schließlich gelang es. Scoth holte noch eine Laterne, und in ihrem Licht suchte Fidelma die Leiche sorgfältig nach Spuren ab, die das grausige Geheimnis lüften könnten. Sie fand nichts. Fidelma war klar, daß Menma die Leiche Dignaits hierhergebracht haben mußte. Ihr fiel ein, daß er früh am Morgen aus dem rath geritten war und einen Esel mit einem schweren Tragekorb mitgeführt hatte. Sie biß sich auf die Lippen. In dem Korb mußte der Leichnam Dignaits gelegen haben. »War Menma mal eine Weile unbeobachtet, als er heute morgen hier war?« wollte sie wissen. »Nachdem er seinen Auftrag an Dubans Leute ausgerichtet hatte, die bei mir oben auf der Wiese waren, kehrte er allein zum Haus zurück. Aber Scoth war hier.« »Ich war im Haus«, bestätigte Scoth. »Menma kam ins Haus, um sich zu verabschieden.« »Sahst du ihn von der Wiese herunterkommen?« Scoth schüttelte den Kopf. »Ich wusch gerade Wäsche und bemerkte ihn erst, als er mich anrief.« »Dann hatte er also reichlich Zeit, von der Wiese herunterzukommen, sich zu versichern, daß er unbeobachtet war, Dignaits Leiche aus dem Tragekorb zu nehmen und sie in die unterirdische Kammer zu schaffen, bevor er sich bei Scoth meldete.« Scoth starrte Fidelma entsetzt an. »Die Leiche war in dem Tragekorb? Aber woher wußte Menma, wo er sie lassen sollte? Kannte er etwa die unterirdische Kammer?« »Menma war mit Muadnat verwandt«, erklärte Archü. »Und Muadnat war dieser Hof so vertraut wie sein eigener.« Der Hufschlag eines auf dem Weg herantrabenden Pferdes unterbrach sie. Archü fuhr nervös herum, beruhigte sich aber sofort. »Es ist nur Duban«, meinte er und fügte überflüssi-gerweise hinzu: »Deshalb haben uns seine Männer nicht gewarnt.« Fidelma fühlte sich sofort beklommen beim Anblick des Kriegers. Sie wußte schließlich nicht, aus welchem Grunde er Menma getötet hatte. Duban schwang sich vom Pferd und begrüßte sie alle mit einem freundlichen Lächeln. Dann erblickte er die Leiche zu ihren Füßen. »Was ist passiert?« fragte er. »Das ist ja Dignait!« »Wir fanden sie in einer unterirdischen Vorratskammer«, erklärte Archü. Der Krieger hockte sich hin und untersuchte die Leiche. Dann stand er auf. »Na, das löst ein Rätsel«, brummte er. »Heute morgen hat man mir gesagt, Dignait sei verschwunden, nachdem sie anscheinend dem Angelsachsen Giftpilze vorgesetzt hatte. Was hat das zu bedeuten, Schwester?« Fidelma zwang sich dazu, unbefangen zu erscheinen. »Darüber weiß ich auch nicht mehr als du.« »Wie hast du die Leiche entdeckt?« »Ich fand dieses Blatt Pergament«, erklärte Fidelma rasch, bevor jemand Menma erwähnen konnte. Sie hielt es Duban hin und beobachtete sein Gesicht genau. Es zeigte keine Reaktion, also kannte er das Blatt noch nicht. »Das verstehe ich nicht«, meinte er. »Hier steht, du sollst an dieser Stelle suchen. Aber wieso klärt die Entdeckung der Leiche Dignaits die Morde in Araglin auf?« »Vielleicht«, erwiderte Fidelma und nahm das Blatt wieder an sich, »soll ich glauben, daß Dignait für die Morde verantwortlich ist.« »Na, das kann nicht sein«, erklärte Duban. »Es ist offenkundig, daß dieselbe Hand, die Muadnat tötete, auch Dignait umbrachte. Die Schnittwunden sind so ähnlich, daß sie nicht von verschiedenen Händen stammen können.« »Du beobachtest scharf, Duban«, stimmte ihm Fidelma ruhig zu. »Krieg und Tod sind mein Beruf, Schwester. Ich bin es gewohnt, Wunden zu betrachten. Doch wer das Blatt auch geschrieben hat, er gab uns einen unbeabsichtigten Hinweis.« »Einen Hinweis?« »Es ist in Latein geschrieben. Nur wenige Leute in Araglin können Latein.« »Ja, das stimmt«, überlegte Fidelma. »Und wie ich schon zu Scoth sagte, Agdae gehört nicht dazu. Das schließt ihn also aus. Kannst du Latein, Duban?« Der Krieger zögerte keinen Moment. »Natürlich. Die meisten gebildeten Leute verstehen etwas davon. Selbst Gadra kann Latein, obwohl er Heide ist.« Fidelma wandte sich an Archü. »Ich möchte, daß ihr beide, du und Scoth, morgen mittag in den rath kommt«, ordnete sie an. Als er protestieren wollte, fuhr sie fort: »Duban wird seine Krieger anweisen, euch zu begleiten.« Dann sagte sie zu Duban: »Und du wirst deinen Kriegern auch befehlen, Agdae mitzubringen .« »Wir haben Agdae nicht finden können«, wandte Duban ein. »Er ist in Clidnas Bordell. Sorgt dafür, daß er ausgenüchtert ist, wenn er im rath erscheint. Ach, und Clidna könnt ihr auch gleich mitbringen.« Duban blickte sie erschrocken an. »Weißt du, was du da verlangst?« fragte er. »Das weiß ich sehr wohl. Ich denke, morgen werden wir in der Lage sein, das ganze Geheimnis aufzuklären.« Dubans Augen weiteten sich sichtlich. »Tatsächlich?« Fidelma lächelte freudlos. »Gibst du nun deinen Männern die Anweisungen für das Geleit der Leute, die ich erwähnt habe?« Der Krieger zögerte, neigte dann aber zustimmend den Kopf, schritt in die Dämmerung hinein und rief seine Männer zusammen. Fidelma ging rasch zu ihrem Pferd. »Warte, Schwester!« rief ihr Scoth nach. »Du willst doch jetzt nicht fort. Es wird schon dunkel. Den rath erreichst du erst, wenn es vollkommen finster ist.« »Macht euch keine Sorgen um mich. Den Weg kenne ich inzwischen. Ich habe noch viel zu erledigen. Ich sehe dich und Archü morgen mittag im rath.« Sie schwang sich in den Sattel, setzte ihr Pferd in Trab und ritt in die sinkende Dämmerung hinaus. Schon nach einer halben Meile hörte sie galoppierenden Hufschlag hinter sich. Sie sah sich nach einem Versteck um, aber hier war der Weg weit und offen. Es gab nicht einmal eine Hecke, hinter der sie Schutz finden konnte. »Hoigh! Schwester!« Es war Dubans Stimme. Widerwillig hielt sie an und wandte sich im Sattel um. Duban schloß zu ihr auf. »Es ist nicht klug, in die Dunkelheit zu reiten«, ermahnte er sie. »Davon, daß Dignaits Leiche gefunden ist, wird das Tal nicht sicherer.« Fidelma lächelte gepreßt, doch das war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. »Das habe ich auch nicht angenommen«, erwiderte sie. »Du hättest warten sollen. Ich reite ja auch zum rath zurück. Bleiben wir zusammen.« Fidelma hätte es vorgezogen, allein den Weg zurückzulegen und nicht in Dubans Gesellschaft, nach dem, was sie am Bergwerk gesehen hatte, fand aber keine Ausrede. Entweder mußte sie Dubans Begleitung annehmen, oder sie mußte ihm ihren Verdacht offenbaren und ihr Wissen darum, daß er Menma getötet hatte. »Nun gut«, sagte sie. »Aber ich kann mit den meisten zweibeinigen Raubtieren fertig werden.« »Das habe ich schon gehört«, lachte Duban. »Aber ich dachte eher an Vierbeiner. Archü erzählte mir, daß in den letzten Tagen Wölfe das Schwarze Moor unsicher machen.« »Wölfe sind meine geringste Sorge.« Gemächlich ritten sie weiter. »Ach, du denkst an Agdae ...« »Eher an Critan«, antwortete sie. »Du weißt, ich habe mit dem jungen Mann gekämpft, und er könnte sich rächen wollen.« Wirkte Dubans Ton unsicher, als er schließlich weitersprach? »Natürlich, das hatte ich vergessen. Aber Critan brauchst du nicht zu fürchten. Ich habe gehört, er ist fort aus Araglin und will nach Cashel. Hast du es ernst gemeint, als du sagtest, du denkst, daß morgen alles geklärt wird?« »Ich meine es gewöhnlich ernst mit dem, was ich sage«, entgegnete Fidelma spitz. »Da wird Cron aber erleichtert sein.« »Und du wirst sicherlich .« Ihre Rede wurde vom klagenden Muhen eines Rindes ganz in der Nähe unterbrochen. Es war ein eigenartiger, aufgeregter Angstlaut. Duban parierte sein Pferd und starrte im Zwielicht auf den Berghang. Fidelma hielt neben ihm. Schattenhaft sah sie langhaarige Rinder, die sich unruhig bewegten und merkwürdige Warnrufe ausstießen. »Was ist das?« fragte sie flüsternd. »Ich weiß es auch nicht«, gestand Duban. »Irgend etwas ängstigt sie, vielleicht ein Tier. Ich schaue lieber mal nach.« Er glitt vom Pferd und reichte Fidelma die Zügel. Sie sah, wie er vorsichtig in die Dunkelheit hineinging zu der Herde hin. Es war kalt, und sie zog sich den Mantel fest um die Schultern. Dubans Pferd schnaubte und riß am Zügel. »Brrr!« rief sie ärgerlich. »Halt still!« Im nächsten Moment bäumte sich ihr eigenes Pferd ohne Warnung hoch auf, Fidelma verlor den Halt, rutschte über die Kruppe ab und landete mit der Schulter zuerst auf dem Boden. Zum Glück war die Grasnarbe weich und federte den Fall ab. Einen Moment lag sie leicht benommen da, nicht verletzt, aber vom Schreck gelähmt. Dann erhob sie sich auf die Knie und rieb sich den rechten Arm, der den Aufprall am meisten gespürt hatte. Sie schämte sich, weil sie sich hatte abwerfen lassen wie ein Neuling, der noch nie auf einem Pferd gesessen hat. »He!« rief sie, als beide Pferde im Dunkeln wegtrabten. Sie machte ein paar zögernde Schritte ihnen nach und erschauerte plötzlich. Sie hatte ein leises Rascheln im nahen Unterholz gehört. War das eben nicht ein tiefes Knurren? Sie blieb stocksteif stehen. Ein langer, niedriger schwarzer Schatten glitt aus dem Gebüsch und verhielt. Seine Augen funkelten im Dämmerlicht, und dann öffnete sich der Rachen und ließ die weißen Reißzähne sehen. Der Wolf starrte sie an und knurrte drohend. Fidelma wußte, wenn sie auch nur die geringste Bewegung machte, würde das mächtige Tier sie anspringen, ihr die scharfen Zähne in die Kehle schlagen, reißen und zerren. Sie zwang sich, nicht die Augen zu schließen, den Atem anzuhalten. Fidelma hatte schon Wölfe gesehen, war auch schon von ihnen bedroht worden, doch war sie zu Pferde immer schneller gewesen als sie oder hatte anderen Schutz besessen. Wölfe waren die häufigsten Raubtiere in den fünf Königreichen, aber meist blieben sie in den Bergen oder Wäldern und griffen nur an, wenn sie gestört wurden oder einen unglücklichen waffenlosen Wanderer antrafen. Es gab leichtere Beute als Menschen, zum Beispiel Haustiere oder Hirschrudel. Aber hier stand sie ohne Pferd und ohne Waffen nur wenige Schritt entfernt von einem großen Wolf, der offenbar auf Beute aus war. Ihr Verstand, der trotz der Angst, die sie gepackt hatte, noch arbeitete, sagte ihr, daß es eine Wölfin war, die Nahrung für ihre Jungen suchte. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während Wolf und Mensch sich anstarrten. Fidelma spürte, wie sie zu zittern begann. Sie wußte, jede plötzliche Bewegung wäre tödlich. Auf einmal flog etwas an ihr vorbei. Es traf offenbar den Wolf, denn der jaulte fürchterlich auf. Eine rauhe Hand packte Fidelma und riß sie beiseite. Sie nahm gerade noch wahr, daß der Wolf sich umdrehte und ins Unterholz verschwand. Sie fuhr herum und stand Duban gegenüber. »Bist du unversehrt?« fragte der Krieger besorgt. Fidelma lachte nervös. »Anscheinend ja«, antwortete sie. Sie atmete mehrmals tief durch, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Vorsichtig rieb sie sich den Arm, an dem er sie gepackt hatte. »Du hast rauhe Hände, Krieger.« Duban lachte. »Lederhandschuhe, Schwester. Die ersparen mir Schwielen. Jetzt schauen wir erst mal nach den Pferden. Der Wolf holt vielleicht das Rudel heran und sucht uns.« »Es tut mir leid«, sagte Fidelma reumütig. »Was denn?« fragte der Krieger. »Daß ich in meiner Dummheit die Pferde habe laufen lassen.« Duban zuckte gleichmütig die Achseln. »Selbst der beste Reiter kann nicht auf alles gefaßt sein, Schwester. Der Wolf hat die Rinder so unruhig gemacht. Er muß durch das Unterholz hinter dir herangeschlichen sein und hat die Pferde erschreckt. Ich hörte deinen Schrei und eilte zurück. Gott sei Dank lagen ein paar Steine auf dem Boden. Ich habe einen nach dem Wolf geworfen. Nur gut, daß du dich nicht bewegt hast, dann hätte er dich angefallen.« Er hielt inne. »Du hast dich beim Sturz doch nicht verletzt?« »Nur meine Würde hat gelitten«, sagte Fidelma lächelnd. Und mein Stolz auf meine Logik, fügte sie im stillen hinzu. Wäre Duban der gewesen, für den sie ihn hielt, dann läge sie jetzt mit vom Wolf aufgerissener Kehle da. »Dann danke Gott, daß es nur das ist und nichts weiter«, antwortete Duban. Sie machten sich auf die Suche nach ihren Pferden. »Meinst du wirklich, daß der Wolf zurückkommt?« fragte Fidelma. »Nach der Größe zu urteilen war es eine Wölfin«, bestätigte Duban ihre eigene Beobachtung. »Sie kehrt bestimmt zurück, denn sie sucht Futter für ihre hungrigen Jungen.« »Kommen die Wölfe oft so dicht an die Bauernhöfe heran?« »Eher im Winter als im Frühling oder Sommer. Gelegentlich dringen sie sogar in den rath ein und holen sich Hühner oder auch ein Ferkel.« Er blieb stehen und hob die Hand. »Sieh mal, unsere Pferde stehen da bei den Bäumen. Sie sind nicht weit gerannt.« Fidelma sprach ein stummes Dankgebet. Ein langer Fußmarsch durch die Nacht war jetzt nicht nach ihrem Geschmack. Die beiden Pferde schienen ehrlich erfreut, ihre Reiter wiederzusehen, und ließen sich ohne Mühe einfangen. Nachdem sie ein Stück geritten waren, sagte Fidelma: »Du hast mir das Leben gerettet, Duban.« Der Krieger zuckte die Achseln. Ihre Worte schienen ihm peinlich zu sein. »Ich habe vor Maenach, dem damaligen König von Cashel, meinen Kriegereid geleistet und geschworen, Menschen in Not zu helfen.« Fidelma blickte ihn interessiert an. Das bedeutete, daß Duban ein Krieger des alten Ordens vom Goldenen Halsreif war. Die Überlieferung besagte, daß tausend Jahre vor Christi Geburt ein Großkönig aus Cashel über die fünf Königreiche von Eireann geherrscht hatte, Muinheamhoin Mac Fiardea, der achte König nach Eber, dem Sohn von Mile. Dieser Großkönig von Cashel hatte den Orden vom Goldenen Halsreif unter seinen Kriegern gegründet. »Ich wußte nicht, daß du ein Krieger des Ordens von Cashel bist«, sagte Fidelma. »Ich trage meine goldene Amtskette nicht oft«, gestand er. »Ich bin ja erst vor ein paar Jahren nach Ara-glin zurückgekehrt, als ich mich nicht mehr jung und kräftig genug fühlte, den Königen von Cashel zu dienen. Und Eber brauchte einen erfahrenen Mann als Kommandeur seiner Leibwache.« Er seufzte. »Diese Aufgabe war nicht so schwierig. Aber vielleicht hätte ich lieber in Cashel bleiben sollen.« Sein Ton ließ Fidelma aufhorchen. »Ich habe gehört, du mochtest Eber nicht?« »Den freundlichen und großzügigen Eber?« Jetzt war die Ironie in seinen Worten unüberhörbar. »Wieso, war er das etwa nicht?« konterte Fidelma. »Jemand sollte dir die Wahrheit über Eber sagen, Schwester.« »Vielleicht solltest du es tun.« »Ich bin nicht in der Lage, meine Beschuldigungen zu beweisen. Und wenn ich das nicht kann, verliere ich das bißchen Sicherheit, das ich mir in Araglin für mein Alter geschaffen habe.« »Ich möchte dir die Aussicht auf ein friedliches Leben nicht zerstören, Duban. Aber wenn du Sicherheit suchst, dann kann ich mich dafür verbürgen, daß mein Bruder als König von Cashel und derzeitiges Oberhaupt des Ordens, dem du den Eid geschworen hast, nicht zulassen wird, daß dir ein Schaden entsteht, weil du deinem Eid gemäß die Wahrheit sagst. Ich habe dich bereits darauf hingewiesen, daß ich weiß, wie hier die Wahrheit verdreht wird. Warum hast du Menma getötet?« Die Frage flog ihm so schnell entgegen wie ein Pfeil von der Bogensehne. Sie hörte, wie er tief Luft holte. »Das . weißt du?« Er schwieg einen Moment. Dann gab er Antwort. »Ich bin Menma zu dieser Höhle gefolgt. Ich war auf der Suche nach Dignait, als ich bei Muadnats Hof auf Menma und ein paar andere Männer mit einem schweren Wagen stieß. Sie sahen mich nicht. Ich erkannte die Männer wieder, sie gehörten zu denen, die uns auf dem Waldweg begegnet waren, zu den Viehdieben. Menma gab ihnen Anweisungen, dann ritt er allein in die Berge auf dem Weg, von dem Agdae uns gesagt hatte, er führe nirgendwo hin. Natürlich blieb ich ihm auf den Fersen.« »Wo wollten die anderen Männer hin?« »Sie wandten sich nach Süden. Menma ritt zu der Höhle. Es war schon jemand dort.« »Wer war das?« »Das konnte ich nicht sehen. Menma und dieser andere waren bereits in der Höhle, als ich ankam. Ich hörte von draußen, daß der andere Menma den Auftrag gab, jemanden zu töten, um ihn zum Schweigen zu bringen.« »Du konntest nicht sehen, wer dieser andere war, der den Auftrag erteilte?« »Nein. Aber mich packte eine fürchterliche Wut. Ich dachte nicht daran, daß ich nur meinen Bogen bei mir hatte, stürmte in die Höhle und griff die beiden an. Menma wehrte sich heftig, während der andere, den ich nur als dunklen Schatten in der Finsternis der Höhle wahrnahm, an mir vorbei flüchtete. Ich hörte ihn davongaloppieren, während ich noch mit Menma kämpfte. Der riß sich los, rannte aus der Höhle und auf sein Pferd zu. Ich durfte ihn nicht entkommen lassen. Was dann geschah, hast du gesehen.« »Ja. Ich kann auch bestätigen, daß jemand von der Lichtung floh.« »Wer?« »Das konnte ich nicht sehen. Aber du hast seine Stimme gehört.« »Ich habe sie leider nicht erkannt.« »War sie männlich oder weiblich?« »Sie flüsterte, war aber tief. Ich glaube, es war die Stimme eines Mannes.« »Sag mir, warum du Eber haßtest. Sag die Wahrheit, auf deine Ehre.« In der Dunkelheit bemerkte sie, wie Duban die Hand zum Hals hob, als erwarte er dort die goldene Halskette des Kriegerordens zu finden. »Du tust recht daran, mich an meine Ehre zu erinnern, Fidelma«, sagte er. »Vielleicht habe ich in den letzten Jahren in Araglin vergessen, was Ehre wirklich bedeutet.« »Weil du dich zu lange mit jungen Raufbolden abgegeben hast, die sich einbilden, Krieger zu sein? Schlägern wie Critan?« In der Ferne tauchten vor ihnen Lichter auf. »Dort liegt der rath. Wir sind bald da«, murmelte Duban. »Dann wäre es das beste, du erzählst mir, was du auf dem Herzen hast, Duban, bevor wir ihn erreichen.« »Eber war nicht das, was er zu sein vorgab. Er war ein Fürst ohne Ehre.« »Warum?« »Er war moralisch verdorben.« »Moralische Verdorbenheit kann viele Formen annehmen. Kannst du dich genauer ausdrücken?« »Hast du danach gefragt, warum seine Frau sein Bett verließ? Es hieß, er sei wie ein Hirsch in der Brunft und jede Hindin, die ihm in den Weg komme, sei ihm ausgeliefert.« »Ich verstehe ...«, murmelte Fidelma. »Nein, ich glaube nicht, daß du das richtig verstehst. Ich meine ... wirklich jede Hindin seines Rudels. Sogar in der eigenen Familie«, murmelte Duban. »Du meinst, daß er Frauen aus seiner eigenen Familie sexuell mißbrauchte?« fragte Fidelma ruhig. Sie hatte es ja bereits erfahren, wollte hören, was Duban sagte. »Ich kann es nicht beweisen. Auch die andere Sache kann ich nicht beweisen, spüre es aber im Innern ... daß Eber ein Mörder war.« Diese Behauptung überraschte Fidelma. »Du kannst im Vertrauen mit mir sprechen, Duban. Du mußt mir sagen, warum du Eber des Mordes verdächtigst.« »Nun gut. Ich liebte Ebers jüngere Schwester.« »Teafa?« »Nein, nicht Teafa. Sie war ein Jahr älter als Eber. Tomnat war seine jüngere Schwester. Sie hatte Angst vor ihrem Bruder. Als ich sie bat, meine Frau zu werden und mit mir nach Cashel zu kommen, sagte sie, das könne sie nicht wegen der Schande, die auf ihr laste.« »Hat sie dir erklärt, was sie damit meinte?« »Nein, und damals habe ich es auch nicht verstanden. Aber ein oder zwei Tage später verschwand Tomnat aus dem rath und aus dem Tal von Araglin, und man hat nie wieder etwas von ihr gehört. Ich bin überzeugt, daß Eber sie getötet hat, damit sie nicht offenbarte, wie abgrundtief verdorben er war.« »Wie kannst du das behaupten? Du mußt doch etwas wissen, was diesen Verdacht begründet.« »Ich weiß, daß es an dem Abend, bevor Tomnat verschwand, einen furchtbaren Streit zwischen ihr und Eber gab.« »Warst du Zeuge davon?« »Ich hörte, wie sie sich anschrien. Ich stand Wache und konnte Ebers Privaträume nicht betreten. Nach einer Weile wurde es still, und am nächsten Morgen war Tomnat fort. Ich liebte Tomnat. Sie war so schön, wie es Cron heute ist.« »Und es wurde weit und breit nach dem verschwundenen Mädchen gesucht?« »Monatelang erkundigte sich jeder nach Tomnat. Schließlich kam Teafa zu mir und erklärte mir, es wäre das beste für mich, wenn ich ihre Schwester vergäße. Teafa war die einzige, die von meinen Gefühlen für Tomnat wußte. Sie gestand mir, daß Eber Tomnat schon gezwungen hatte, mit ihm zu schlafen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Sie wurde nie gefunden, und schließlich ging ich nach Cashel und trat in die Leibgarde König Maenachs ein.« »Behauptete Teafa, daß Eber ihre Schwester Tom-nat getötet habe?« »Nein, das nicht.« »Wann ereignete sich das alles?« »Vor mehr als zwanzig Jahren. Nein, ich kann es genauer sagen. Es geschah ein paar Monate, bevor Teafa Moen zu sich nahm.« »Hast du Eber nicht angeklagt oder deinen Verdacht geäußert, daß Eber Tomnat ermordet habe?« »Ich? Was sollte ich allein machen ohne Beweise?« »Und was war mit Teafa, die dir von dem sexuellen Mißbrauch berichtet hatte?« »Teafa war der Meinung, sie dürfe ihren Bruder nicht verraten und nicht Schande über ihre Schwester bringen. Ich konnte nicht Anklage erheben, solange ich keine Beweise hatte. Ich verließ Araglin, wie ich schon sagte, in der Hoffnung, ein neues Leben zu be-ginnen. Doch es stimmt, was die alten Barden sagen: Wenn man in einem kleinen Winkel der Welt sein Leben zerstört hat, dann hat man es in jedem Winkel zerstört. Ich begriff das erst, als ich im Dienst von Cashel alt geworden war. Ich konnte Araglin nicht vergessen. Ich träumte davon, eines Tages Tomnat wiederzufinden. Nach mehr als zwanzig Jahren kam ich schließlich hierher zurück.« »Du kamst zurück, Duban, doch mit welchem Ziel?« »Das ist leicht zu sagen: Ich kam zurück, um Rache zu nehmen.« Fidelma versuchte, im Dunkeln in seiner Miene zu lesen, gab es aber auf. »Rache ist eine häßliche Sache, Duban. Suchtest du Rache oder Gerechtigkeit?« »Es stimmt, daß ich auch nach Beweisen für das suche, von dem mir mein Herz sagt, daß es die Wahrheit ist. Aber ich will ehrlich sein: ich wollte Rache. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Feuertod für Feuertod. Genau so, wie es Pater Gorman in seiner Kapelle predigt.« Fidelma neigte den Kopf zur Seite. »Ist dir klar, was du mir erzählt hast, Duban? Du hast gesagt, daß du allen Grund hattest, Eber zu töten. Und da du in jener Nacht auf Wache standest, hattest du auch die Gelegenheit dazu.« Duban nickte ernst. »Das ist wahr, Schwester. Ich hätte niemanden lieber getötet. Der Grund, weshalb ich zurückkehrte und in den Dienst des Fürsten von Araglin trat, war der, daß ich endlich herausfinden wollte, was Tomnat zugestoßen war, und ihn dafür bestrafen, wenn ich das konnte. Falls mich das verdächtig macht, Fidelma, dann bin ich eben verdächtig. Ich stehe dazu. Mach mit mir, was du willst. Wenn ich es auch lieber sähe, daß du die Wahrheit herausfindest.« »Du streitest also ab, daß du Eber getötet hast?« »So gern ich auch zugebe, daß ich Rache gesucht und keine Träne vergossen habe, als ich von Ebers Tod erfuhr, so muß ich doch sagen, daß es nicht meine Hand war, die diesen verworfenen Mann ermordete. Auch hatte ich keinen Grund, Teafa zu töten, die eine sehr ehrenhafte Dame war.« »Konnte Eber sich nicht gebessert haben? Besonders nach dem Verschwinden Tomnats?« Duban spie beinahe aus. »Gebessert? Einmal ein Wolf heißt immer ein Wolf. Sie können ihre Natur nicht ändern.« »Du hast deine Natur geändert«, erklärte ihm Fidelma. »Das verstehe ich nicht«, meinte Duban verblüfft. »Du hast deine Liebe zu der seit langem verschollenen Tomnat auf Ebers Tochter Cron übertragen.« »Das leugne ich nicht.« Es klang irgendwie entschuldigend. »Man kann nicht ewig eine Erinnerung lieben. Es ist richtig, als ich herkam, suchte ich Rache für eine verlorene Liebe, doch ich fand eine neue.« »Willst du mir damit sagen, daß mehr als zwanzig Jahre deinen Haß auf Eber gemildert haben?« »Nein, das will ich damit nicht sagen. Ich sage nur, daß ich in Ebers Tochter eine neue Liebe gefunden habe. Ich kann dir versichern, daß ich Eber nicht getötet habe. Wenn ich es nicht tat und dieser arme taubstumme und blinde Idiot auch nicht, dann war es jemand anderes. Und das könnte durchaus jemand gewesen sein, der Ebers wahren Charakter ebenfalls kannte. Finde die Person, die im Dunkel der Höhle mit Menma sprach, und ich glaube, dann hast du den Mörder.« Fidelma schwieg eine Weile und meinte schließlich: »Da kannst du recht haben, Duban. Eber hat für seine schlimmen Taten gebüßt, und Gott möge ihm vergeben.« »Gott mag ihm vergeben, aber ich nicht«, erklärte Duban unversöhnlich. »Hast du eigentlich wirklich gedacht, Moen sei schuldig, als der Mord entdeckt wurde?« »Ich hatte keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. Gott handelt auf rätselhafte Weise, Schwester. Ich glaubte wirklich, Gott habe das unglückliche Geschöpf als das Werkzeug Seiner höheren Vergeltung benutzt.« »Es ist wohl klar geworden, daß Menma ebenfalls irgendwie in die Sache verwickelt war. Teilst du meine Vermutung, daß er das Werkzeug eines Mächtigeren war?« Duban nickte sofort zustimmend. »Menma war ehrgeizig, aber ein einfacher Mensch. Er führte Befehle aus, er gab keine Befehle. Also war es die Person in der Höhle, die Menma die Befehle gab. Diese Person war es auch, die die Nachricht auf dem Pergament schrieb, und sie zieht die Drähte bei all dem Übel, das sich in diesem Tal ausbreitet.« »Da ist was Wahres dran«, meinte Fidelma. »Sag auf jeden Fall niemandem im rath etwas davon, was du mit Menma gemacht hast oder was wir eben besprochen haben.« Sie waren nun dem rath schon ganz nahe gekommen. Die Wachhunde schlugen an, als sie Fidelma und ihren Gefährten witterten. Kapitel 19 Nachdem Fidelma im Stall ihr Pferd abgesattelt und versorgt hatte, verließ sie Duban und eilte zum Gästehaus. Gadra erwartete sie an der Tür. Sie versuchte seiner ernsten Miene zu entnehmen, wie es Eadulf ging. »Ich glaube, er hat das Schlimmste überstanden«, begrüßte er sie. Fidelma schloß die Augen, schwankte einen Moment leicht und stieß dann einen tiefen Seufzer aus. Gadra ignorierte das und fuhr fort: »Er schläft jetzt. Krankheit und Fieber hat er hinter sich gelassen. Ich glaube, dein Gott hat dich rechtzeitig zu mir geschickt, so konnte ich ihm meine Arznei im Anfangsstadium geben. Es ist uns gelungen, das Gift aus ihm auszutreiben.« »Wird er ganz gesund?« fragte sie. »Ich glaube, ja. Aber nun braucht er Ruhe.« »Kann ich ihn sehen?« »Weck ihn nicht auf. Der Schlaf ist immer ein großer Heiler.« »Ich lasse ihn schlafen.« Gadra trat beiseite, und sie ging ins Gästehaus. Ea-dulf lag auf dem Rücken auf seiner Matratze. Sein Gesicht war bleich, aber gelöst im natürlichen Schlaf der Erschöpfung. Fidelma trat an sein Bett, kniete nieder und berührte mit ihrer schmalen Hand sanft seine Stirn. Sie war noch ziemlich heiß, wahrscheinlich hatte das Fieber gerade erst nachgelassen. Ein zärtliches Gefühl für den Angelsachsen, das sie nicht genau erklären konnte, durchströmte sie. Sie war nahe daran gewesen, ihn zu verlieren. Sie schloß die Augen und sprach ein stummes Dankgebet. Dann erhob sie sich und ging zu Gadra in den Hauptraum des Gästehauses. »Wie kann ich dir jemals danken?« Der Alte musterte sie mit seinen blassen Greisen-augen. »Grella hat mir viel geholfen. Ich habe sie eben erst zu Bett geschickt. Sag ihr deinen Dank.« »Aber ohne dich ...«, wandte Fidelma ein. »Wenn du mir danken willst, dann sorge dafür, daß sich an diesem Ort die Wahrheit durchsetzt.« Fidelma neigte leicht den Kopf. »Ich bin der Wahrheit nahe, Alter. Die Antwort auf eine Frage kann mich ihr noch näher bringen. War Tomnat Moens Mutter?« Gadras Miene blieb undurchdringlich. »Du hast wahrlich einen scharfen Verstand, mein Kind.« Fidelma gestattete sich ein Lächeln. »Dann wird sich die Wahrheit durchsetzen.« Als Gadra gegangen war, suchte Fidelma das fial-tech auf, um sich zu waschen und auf die Nachtruhe vorzubereiten. Der morgige Tag würde bewegt werden. Fidelma war allein im Wald. Sie war allein und hatte Angst. Zwischen den Bäumen schlichen geheimnisvolle Gestalten umher, im Unterholz raschelte und knisterte es. Es war stockdunkel. Sie rief. Sie wußte nicht genau, nach wem sie rief. Nach ihrem Vater? Ja, nach ihm rief sie wohl. Er hatte sie in den Wald gebracht und dann verlassen. Sie war ein Kind. Allein und verlassen im Wald. Irgendwie sagte ihr der Verstand, daß das nicht so sein konnte. Ihr Vater war gestorben, als sie noch ein Baby war. Warum sollte er sie hierherbringen und sie dann verlassen? Sie stolperte weiter durch die bedrohliche Finsternis des Waldes. Sie bahnte sich einen Weg. Doch die Bäume schienen immer dichter zu werden, je weiter sie ging. Schließlich kam sie gar nicht mehr voran, blieb stehen und schaute nach oben. Es war seltsam, wie sehr die Stämme der Bäume den Stielen von Pilzen ähnelten, riesigen Pilzen, die über ihr aufragten. Die drohenden Gestalten kamen immer näher. Sie schrie auf. Dann wurde ihr klar, daß es nicht ihr Vater war, der sie hierhergebracht und dann verlassen hatte. Es war Eadulf, nach dem sie rief. Eadulf! Sie beugte sich vor, streckte eine Hand aus . Sie stöhnte, als helles funkelndes Sonnenlicht in ihre offenen Augen fiel. Sie saß in ihrem Bett, beugte sich vor und hielt eine Hand ausgestreckt. Sie blinzelte und bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. Es war heller Morgen, und sie saß in ihrem Bett im Gästehaus. Sie vernahm eine Bewegung in der benachbarten Schlafkammer. Sie sprang aus dem Bett und zog sich ihr Gewand über. Gadra saß draußen. Er lächelte, als sie zu ihm trat. »Ein guter Morgen, Schwester.« »Ist er wirklich gut?« erkundigte sie sich und schaute auf Eadulfs Schlafkammer. Der Alte nickte feierlich. »Das ist er.« Fidelma ging sofort hinein. Eadulf lag still da, hatte aber die Augen geöffnet. Sein Gesicht war noch blaß, und um die Mundwinkel zogen sich kleine Schmerzfalten. Doch die dunklen Augen blickten klar und ruhig. »Fidelma!« begrüßte er sie mit schwacher Stimme. »Ich dachte schon, ich sähe den Morgen nicht mehr.« Sie kniete an seinem Bett und lächelte beruhigend. »So leicht solltest du nicht am Leben verzagen, Ea-dulf.« »Es war ein harter Kampf«, gestand er. »Ich möchte ihn nicht noch einmal führen.« »Dignait ist tot«, teilte sie ihm mit. Eadulf schloß einen Moment die Augen. »Dignait? War sie schuld an meiner Vergiftung?« »Anscheinend wußte Dignait, wer die Giftpilze hinzugetan hatte.« »Wer hat dann Dignait umgebracht?« »Ich glaube, ich weiß es. Aber vorher muß ich noch die Antworten auf ein paar andere Fragen herausbekommen.« »Wo hat man Dignait gefunden? Ich dachte, sie wäre aus dem rath verschwunden?« »In einer unterirdischen Kammer auf Archüs Hof.« »Das verstehe ich nicht.« »Zur Mittagsstunde rufe ich alle in der Festhalle zusammen, und dann werde ich den Mörder entlarven.« Eadulf lächelte grimmig. »Bis dahin habe ich mich sicher so weit erholt, daß ich auch kommen kann«, verkündete er. Sie schüttelte den Kopf. »Du bleibst hier bei Grella, bis du gesund bist.« Daß Eadulf nicht widersprach, bewies, wie schwach er noch war. »Willst du damit sagen, daß alle Morde von ein und derselben Person verübt wurden?« »Ich gehe zumindest davon aus, daß eine einzige Person für alle Morde verantwortlich ist«, antwortete sie ausweichend. »Wer?« Fidelma lachte leise. »Werde gesund, Eadulf. Ich sage es dir, sobald ich meiner Sache sicher bin.« Sie nahm seine Hand und drückte sie. Draußen verkostete Gadra gerade eine Kräuterbrühe für Eadulf, die Grella aus der Küche gebracht hatte. In Fidelmas Gegenwart wirkte Grella noch immer befangen, doch Fidelma lächelte ihr ermutigend zu und dankte ihr für alles, was sie getan hatte. Grella knickste aufgeregt. »Ich bringe dir jetzt das Frühstück, Schwester.« Während Fidelma sich wusch, wurde ihr das Essen aufgetragen. Gadra flößte inzwischen dem nicht eben begeisterten Eadulf die Kräuterbrühe ein. Offenbar war er kein einfacher Patient, denn er beschwerte sich immer wieder laut und vernehmlich, daß die Brühe scheußlich schmecke. Fidelma steckte den Kopf in seine Schlafkammer. »Schäm dich, Eadulf. Wenn du dich nicht erholst, erzähle ich dir nicht, was sich zur Mittagszeit ereignet.« Gadra blickte stirnrunzelnd auf. »Was passiert am Mittag?« »Ich habe Eadulf erklärt, daß sich am Mittag alle, die irgend etwas mit all den seltsamen Ereignissen zu tun haben, in der Festhalle einfinden werden. Das gilt auch für dich und Moen. Ist Moen wohlauf?« »Es geht ihm viel besser durch all das, was du für ihn getan hast«, erwiderte Gadra. »Er ist ein gescheiter, sensibler junger Mann, Fidelma. Er verdient eine Chance im Leben. Wir werden kommen.« Eine halbe Stunde später ging sie zur Kapelle Cill Uird und trat ein. Eine Gestalt kniete vor dem Altar und betete. »Pater Gorman!« Der Priester fuhr überrascht herum. »Du hast mich im Gebet gestört, Schwester Fidelma.« Seine Stimme klang verärgert. »Ich muß dich dringend sprechen.« Pater Gorman wandte sich erneut zum Altar, bekreuzigte sich und erhob sich langsam aus seiner knienden Haltung. »Was ist denn, Schwester?« fragte er mürrisch. »Ich dachte, du solltest wissen, daß Dignait tot ist.« Der Priester fuhr sichtlich zusammen, schien aber nicht übermäßig überrascht. »So viele Todesfälle«, seufzte er. »Zu viele Todesfälle«, erwiderte Fidelma. »Fünf bereits in diesem lieblichen Tal von Araglin.« Gorman sah sie unsicher an. »Fünf?« fragte er. »Ja. Diesem Morden muß ein Ende gesetzt werden. Wir müssen ihm ein Ende bereiten.« »Wir?« Pater Gorman schien verblüfft. »Ich meine, du kannst mir dabei helfen.« »Was soll ich tun?« »Du warst Muadnats Seelenfreund, nicht wahr?« »Ich ziehe die römische Bezeichnung vor - sein Beichtvater. Ich bin übrigens der Beichtvater der meisten Menschen hier in Araglin.« »Nun gut. Wie du deine Rolle auch nennst, ich möchte wissen, ob Muadnat dir jemals etwas von Gold erzählt hat.« »Verlangst du von mir, das heilige Beichtgeheimnis zu brechen?« donnerte Pater Gorman. »Das ist ein Geheimnis, das ich nicht anerkenne, aber ich respektiere dein Recht, daran zu glauben. Ich möchte dir ein paar Fragen stellen. Dignait hat hier viele Jahre lang Dienst getan, stimmt das?« »Dignait? Ich dachte, du wolltest mich etwas über Muadnat fragen?« »Befassen wir uns erst mal mit Dignait. Sie war hier, seit Cranat herkam, um Eber zu heiraten, nicht wahr?« »Das stimmt.« »Hast du bemerkt, wem ihre Anhänglichkeit galt?« »Nun, dem Fürstenhaus von Araglin.« »Nicht einer einzelnen Person? Cranat zum Beispiel?« Pater Gorman zögerte und sah verlegen drein. »Und war es nicht so, daß Dignait Eber haßte?« drängte ihn Fidelma. »Haßte?« Pater Gorman schüttelte den Kopf. »Sie achtete ihn nicht, aber das ist noch kein Haß. Sie stand Cron näher als ihrer Mutter und tat alles für sie.« »Sie tat alles für Cron?« wiederholte Fidelma nachdenklich. »Das ist kein Verbrechen«, bemerkte Gorman. »Nein. Das ist an sich kein Verbrechen.« Sie hielt inne. »Du magst Duban nicht, oder?« Die Frage kam plötzlich. Pater Gorman nahm sie übel. »Was hat das, was ich mag oder nicht mag, mit dieser Angelegenheit zu tun?« wollte er wissen. »Nichts weiter«, gab sie zu. »Ich habe gesehen, wie du dich mit ihm gestritten hast. Da habe ich mich einfach gefragt, warum du ihn nicht magst.« »Er ist sehr ehrgeizig. Ich glaube, er möchte Fürst von Araglin werden. Weißt du, daß er versucht, Cron zu umgarnen?« »Umgarnen? Das ist ein merkwürdiger Ausdruck. Verlocken, betören oder täuschen. Ist es das, was du meinst?« Pater Gorman schob das Kinn vor. »Beobachte doch ihr Verhältnis selbst.« »Das habe ich bereits getan.« »Cranat tut mir leid. Sie war die Frau eines Fürsten ohne moralische Bedenken und ist die Mutter einer jungen Frau, deren Unschuld sie blind macht für den Ehrgeiz eines Mannes, der so alt ist, daß er ihr Vater sein könnte.« »Ich erinnere mich, daß du Eber auch haßtest.« »Es stimmt, daß ich ihn kaum ertragen konnte. Eber war ein Sünder vor Gott und den Menschen. Es gibt keine Vergebung für solch einen Mann, der gegen die Gesetze der Menschen und seines Gottes verstoßen hat.« »Als Priester solltest du Nachsicht üben. Statt dessen spüre ich großen Haß in dir. Es ist deine Aufgabe zu vergeben. Schrieb nicht Paulus im Brief an die Epheser: >Seid aber untereinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem andern, gleichwie Gott euch vergeben hat in ChristoDenn das sollt ihr wissen, daß kein Hurer oder Unreiner oder Geiziger, welcher ist ein Götzendiener, Erbe hat in dem Reich Christi und Gottes.< Eber wird keinen Anteil am ewigen Leben haben.« »Weil er mit seinen eigenen Schwestern schlief oder noch Schlimmeres tat?« »Ich sage nur, daß die Welt ohne Eber von Araglin besser dran ist. Je eher dieses Tal vom Übel gereinigt wird, desto besser.« »Also ist es in deinen Augen noch nicht gereinigt? Wußtest du, daß Muadnat ein Goldbergwerk besaß?« Pater Gorman biß sich auf die Lippen. »Was weißt du darüber?« »Das wirst du noch erfahren. Sei um Mittag in der Festhalle.« Fidelma verließ die Kapelle so plötzlich, wie sie ge-kommen war, und Pater Gorman stand reglos da und starrte ihr nach. Dann eilte er in die Sakristei. Draußen traf Fidelma auf Cron. »Wie geht es Bruder Eadulf heute?« fragte die Ta-nist mit ernster Miene. »Recht gut, Gott sei Dank«, antwortete Fidelma. »Ich sprach heute morgen mit Duban«, fuhr Cron etwas verlegen fort. »Er sagt, du bist nahe daran, zu entdecken, wer soviel Elend über die Menschen in diesem Tal gebracht hat?« »Ja, möglich. Ich möchte dich bitten, mir heute mittag die Benutzung der Festhalle zu gestatten. Ich ersuche alle Beteiligten, sich dort einzufinden, damit ich ihnen die Namen derer nennen kann, die für das Blutvergießen in diesem Tal verantwortlich sind.« »Dann weißt du also, wer Eber und Teafa getötet hat?« »Ich glaube es zu wissen.« »Du glaubst es?« Cron schaute sie zweifelnd an. »Heute mittag werde ich meine Theorie begründen«, sagte Fidelma, und es klang fast fröhlich. »Würdest du deine Mutter bitten, auch zu erscheinen? Sie wird doch sicher hören wollen, wer den Mord an ihrem Gatten verübt hat?« »Das werde ich tun«, stimmte die Tanist zu. Fidelma ging weiter, ohne sich darum zu kümmern, daß Cron ihr neugierig nachschaute. Kapitel 20 Die Festhalle schien überfüllt. Cron hatte in ihrem Amtssessel Platz genommen. Fidelma hatte sie darum ersucht, denn es war ihr Recht als Tanist. Sie trug auch ihren bunten Mantel und die Wildlederhandschuhe ihres Amtes. Neben ihr saß ihre Mutter und starrte hochmütig in den Raum, als ginge sie alles ringsumher nichts an. Auf einem Sitz etwas seitlich unterhalb des Podiums lag Bruder Eadulf zurückgelehnt, noch blaß und mit Ringen um den Augen. Ein wenig besser ging es ihm offenbar schon, denn trotz aller Proteste Fidelmas hatte er sein Krankenbett verlassen. Neben ihm hatte der stämmige Duban Platz genommen, vorgebeugt saß er da mit den Unterarmen auf den Knien. In der Mitte der Halle hatten sich Archü und Scoth niedergelassen, neben ihnen der Einsiedler Gadra mit Moen. Gadra lehnte sich zu Moen hin und übersetzte ihm das Geschehen. Seine Finger trommelten auf die erhobene Handfläche des jungen Mannes. Agdae rutschte unruhig auf einer Bank auf der anderen Seite der Halle neben Pater Gorman hin und her. Im Hintergrund der Halle saß die »Frau mit Geheimnissen«, Clidna, ganz allein, doch mit erhobenem Kopf, als erwarte sie, daß ihr jemand das Recht streitig machen würde, anwesend zu sein. Einige Stühle weiter hatte sich das Dienstmädchen Grella niedergelassen. Duban hatte mehrere seiner Männer an den Türen der Halle postiert. Fidelma stellte sich links von Cron unterhalb des Podiums auf. »Es sieht so aus, als seien alle da«, bemerkte sie. »Bist du bereit anzufangen?« fragte Cron. Agdae rief von seinem Platz aus: »Aber Menma ist noch nicht hier. Sollte er nicht auch dabeisein? Schließlich hat er Ebers Leiche entdeckt und Moen als seinen Mörder erkannt.« Cron schien beunruhigt. »Ich habe ihn gestern losgeschickt, damit er die Rinder auf der Weide zusammentreibt. Seltsam, daß er noch nicht wieder hier ist. Sollten wir nicht auf ihn warten?« »Ich fürchte, da könnten wir lange warten, Tanist von Araglin«, meinte Fidelma. »Nein, wir fangen an, denn ich habe nicht damit gerechnet, daß Menma hier anwesend wäre.« »Was soll das heißen? Beschuldigst du Menma ...?« setzte Cranat an und vergaß die Gleichgültigkeit, die sie zur Schau trug. Fidelma hob die Hand. »Alles zu seiner Zeit. Vincit qui patitur. Der Geduldige setzt sich durch.« Erwartungsvolles Schweigen trat in der Halle ein, alle schauten gespannt auf Fidelmas schlanke, ruhige Gestalt. Sie betrachtete ihre erhobenen Gesichter und musterte eins nach dem anderen. »Dies war eine der schwierigsten Untersuchungen, die ich je zu führen hatte«, begann sie. »Schwierig deshalb, weil man es normalerweise mit einem Mörder und einem Umfeld zu tun hat. In diesem eurem schönen Tal sah ich mich schließlich fünf gewaltsamen Todesfällen gegenüber, und zunächst schien es keinen Zusammenhang zwischen ihnen zu geben. Es hatte den Anschein, als passierten viele ganz verschiedene Dinge zur gleichen Zeit. Doch indem ich das zu Anfang annahm, irrte ich mich. Alles hängt zusammen und ist in der Mitte verbunden wie die Fäden eines riesigen Spinnennetzes. Alles läuft in einem Punkt zusammen, wo eine alles beherrschende Gestalt sitzt und die Fäden zieht.« Sie hielt inne und ließ die Überraschung aufbranden und wieder verebben. »Wo fangen wir an, dieses hauchdünne Netz von Täuschung zu zerreißen, in dem so viele Leben gefangen sind? Ich könnte im Zentrum beginnen und direkt auf die Spinne losgehen, die dort lauert. Damit aber ließe ich vielleicht der Spinne die Möglichkeit, auf einem Faden, der mir bisher entgangen ist, aus dem Netz zu flüchten. Deshalb werde ich am Rand beginnen und langsam, aber sicher die äußeren Fäden kappen, so daß die Spinne nicht mehr entrinnen kann.« Cron beugte sich mit skeptischer Miene vor. »Das klingt alles sehr poetisch, Schwester Fidelma. Kommst du mit deiner Rhetorik auch zur Sache?« »Du kennst meine Methoden, Cron«, erwiderte Fidelma und musterte sie abschätzend, »und du hast gesagt, daß du sie zu würdigen weißt. Ich glaube nicht, daß ich mein Vorgehen rechtfertigen muß.« Die Tanist errötete. Fidelma wandte sich wieder ihren Zuhörern zu. »Fangen wir mit dem ersten Faden an. Das ist Mu-adnat vom Schwarzen Moor.« »Was hat Muadnat mit dem Mord an meinem Gatten zu tun?« fragte Cranat mit schneidender Stimme. »Er war Ebers Freund und früher sein Tanist.« »Mit Geduld macht man aus der Flachspflanze ein Leinenhemd«, antwortete Fidelma mit einer alten Volksweisheit, die zu den Lieblingssprüchen ihres Lehrers Morann von Tara gehört hatte. »Meine Beteiligung an dieser Angelegenheit begann tatsächlich mit Muadnat, deshalb ist es auch angebracht, mit ihm anzufangen. Muadnat kam vor einiger Zeit in den Besitz eines Goldbergwerks. Er fand es auf dem Land, das er seinem Vetter Archü abnehmen wollte.« »Wo soll das sein?« fragte Archü überrascht. »Ich habe noch nie von einem Goldbergwerk im Schwarzen Moor gehört.« »Es liegt auf der anderen Seite des Berges, auf Boden, den man nicht bebauen kann. Du hast ihn als Axtland bezeichnet. Ich muß dazu sagen, daß es wahrscheinlich nicht Muadnat war, der die Mine entdeckte, sondern ein Bergmann namens Morna. Er war der Bruder des Herbergswirts Bressal, dessen Herberge nicht weit von diesem Tal an dem Weg nach Westen liegt, der nach Lios Mhor und Cashel führt.« »Meinst du die Herberge, in der wir übernachteten?« fragte Archü. »Eben die«, bestätigte Fidelma. »Erinnert ihr euch, daß Bressal von seinem Bruder Morna sprach, der ihm einen Gesteinsbrocken gebracht hatte, von dem er behauptete, er werde ihn reich machen? Der stammte aus der Höhle auf deinem Land, in der man Gold gefunden hatte.« »Das ist eine Lüge!« fuhr Agdae zornig dazwischen. »Muadnat hat mir gegenüber nie etwas von einem Goldbergwerk erwähnt. Ihr wißt alle, daß ich sein Neffe und sein Adoptivsohn bin.« »Muadnat wollte die Mine geheimhalten«, sprach Fidelma unbeeindruckt weiter. »Sein Problem bestand darin, daß er einen Vetter hatte, der Anspruch auf das Land erhob. Dieser Vetter, nämlich Archü, beschloß, die Sache vor Gericht zu bringen. Muadnat bemühte sich verzweifelt, das Land zu behalten. Muadnat wollte zwar die Gesetze zu seinen Gunsten verdrehen, sie aber nicht völlig brechen. Die Sache war heikel. Mu-adnat hatte jedoch insofern Glück, als Archü lieber das Gericht in Lios Mhor anrief, als den Fall von Eber entscheiden zu lassen. Eber war ein gerissener Mann und hätte zu viele Fragen gestellt, um zu erfahren, warum Muadnat so versessen auf das Land war.« Agdae zog eine säuerliche Miene. »Warum hat mich Muadnat nicht zum Teilhaber an seiner Goldmine gemacht?« »Du bist nicht rücksichtslos genug dafür«, rief Clidna. Fidelma sah, daß Cron sie tadeln wollte, weil sie in der Festhalle gesprochen hatte. »Clidna hat recht«, kam sie ihr schnell zuvor. »Ag-dae ist nicht der Mann, der sich an geheimem Bergbau beteiligen würde. Muadnat suchte jemanden, der Befehle ausführen würde, ohne zu fragen. Er entschied sich für seinen Vetter Menma.« »Menma?« fragte Agdae stirnrunzelnd. »Arbeitete Menma für Muadnat?« Fidelma sah ihn traurig an. »Menma war sein Aufseher. Menma leitete das Bergwerk, heuerte die Bergleute an und sorgte dafür, daß sie verpflegt wurden und das Gold nach dem Süden gebracht wurde, wo es sicher gelagert werden konnte. Wie verpflegt man heimlich einen Trupp hungriger Bergleute in einem friedlichen ländlichen Tal, ohne daß die Bauern etwas merken? Das Versteck war kein Problem, die Höhle selbst bot ihnen Schutz. Aber wo kriegt man die Verpflegung her?« »Man überfällt Bauernhöfe und treibt Vieh weg«, antwortete Eadulf triumphierend. »Nicht zu viel, nur hier und da ein paar Kühe.« »Aber Muadnat besaß einen reichen Hof«, wandte Cron ein. »Er hätte die Bergleute verpflegen können, ohne Viehdiebstähle vorzutäuschen.« »Dann hätte aber Agdae erfahren, was vor sich ging. Agdae war ja Muadnats Oberhirt. Agdae hätte es gemerkt, wenn Muadnat immer mehr Rinder schlachtete und das Fleisch an einen Ort schaffte, von dem Agdae nichts wußte. Und hätte Muadnat Agdae aus seiner Stellung entfernt, hätte das noch mehr Verdacht erregt. Schließlich war Agdae Muadnats nächster Verwandter.« Agdae wurde rot vor Beschämung. »Wie bist du darauf gekommen, daß mit den Viehdiebstählen etwas nicht stimmte?« fragte Duban. »Ich habe davon gehört, daß Viehdiebe oder Geächtete Rinder wegtreiben. Aber, wie Eadulf schon sagte, nicht nur eins oder zwei. Solche Diebe suchen Vieh, das sie verkaufen können. Sie treiben also ganze Herden weg oder jedenfalls so viele Tiere, daß sich der Verkauf lohnt. Mir kam der Verdacht, daß diese Rinder nur zum Schlachten gestohlen wurden. Dieser Verdacht bestätigte sich, als uns auf dem Rückweg von Gadras Einsiedelei einige der Viehdiebe begegne-ten. Sie ritten nach Süden und hatten Esel mit Tragekörben bei sich. Die Körbe waren zweifellos mit Gold gefüllt.« »Nur einige der Viehdiebe?« fragte Duban. »Menma war nicht dabei und ein paar andere auch nicht, die wir gleich nennen werden«, erklärte Fidelma. »Ich sehe allerdings keine Verbindung zwischen Muadnats Goldbergwerk und dem Mord an Eber und Teafa«, protestierte Agdae mürrisch. »Dazu kommen wir noch, wenn wir den anderen Fäden des Spinnennetzes nachgehen«, versicherte ihm Fidelma. »Muadnat wollte das Bergwerk unbedingt behalten. Dafür tat er alles. Vielleicht sogar gegen den Rat seines Partners.« Schweigen trat ein. »Muadnat hörte nie auf Menmas Rat, in keiner Sache«, spottete Agdae. »Noch als Muadnat in Lios Mhor war, hatte sein Partner wahrscheinlich schon beschlossen, daß er das Bergwerk übernehmen werde«, erwiderte Fidelma. »Muadnat hatte durch seinen Rechtsstreit mit Archü zuviel Aufsehen erregt. Das Bergwerk sollte geheim bleiben. Noch wichtiger war, daß Muadnat sich mit Eber überworfen hatte. Bis vor wenigen Wochen war Muadnat Ebers Tanist. Er sollte Fürst werden, wenn Eber starb. Doch plötzlich sah er sich abgesetzt. Eber hatte die derbfhine seiner Familie überredet, seine Tochter Cron anstelle von Muadnat als Tanist anzuerkennen. Der Überfall auf Bressals Herberge zum Beispiel wurde wahrscheinlich ohne Wissen Muadnats unternommen. Ihn führte ein Mann, in dem ich später Menma wiedererkannte. Man hatte ihm gesagt, daß Bressals Bruder Morna - der Bergmann, der die Mine entdeckt hatte -, zuviel redete. Morna hatte seinem Bruder sogar einen Gesteinsbrocken mit einer Spur von Gold mitgebracht und ihm erzählt, davon würde er reich werden. Daß Morna sonst nichts weiter ausgeplaudert hatte, wußte derjenige nicht. Zufällig waren wir anwesend und halfen Menmas Überfall abwehren.« »Was ist aus Morna geworden?« wollte Duban wissen. »Wurde er umgebracht?« »Ja. Er wurde gefangengenommen und getötet. Die Leiche schaffte man auf Archüs Hof und hoffte, man werde ihn einfach für einen Geächteten halten, der bei dem Viehdiebstahl getötet wurde. Auf seine Verwandtschaft mit Bressal kam ich nur durch die Ähnlichkeit der beiden Brüder.« »Du denkst also, daß Muadnat nichts von dem Überfall auf Bressals Herberge und dem Mord an Bressals Bruder wußte?« fragte Eadulf erstaunt. »Ich begreife nicht, was die Geschichte von Muad-nats Goldbergwerk mit dem Mord an meinem Vater zu tun hat«, fuhr Cron dazwischen. Fidelma gestattete sich ein kurzes Lächeln. »Ich bin nur dem ersten Faden des Spinnennetzes gefolgt. Muadnat mußte sterben, weil zwei alte menschliche Gefühle es verlangten - Furcht und Habgier. Natürlich war es Menma, der ihn tötete. Menma tötete Muadnat, wie man ein Tier schlachtet. Genauso hatte er Morna getötet. Es war diese kalte, berufsmäßige Technik, die Menma verriet. Eine seiner Aufgaben im rath bestand darin, die Tiere zu schlachten, die das Fleisch für die Tafel des Fürsten lieferten. Ich weiß nicht, ob es seine Idee war, Muadnat danach an dem Steinkreuz aufzuhängen. Vielleicht sollte mich das auf eine falsche Fährte locken. Menma beging einen Fehler. Bevor er den Todesstreich führte, ließ er es zu, daß Muadnat sein Haar packte und ein Büschel ausriß. Es blieb am Tatort liegen.« »Welchen Nutzen sollte Menma davon haben, seinen Partner Muadnat umzubringen?« fragte Pater Gorman. »Das ergibt für mich keinen Sinn. Agdae hätte doch sowieso Muadnats Reichtum geerbt.« »Wie wir gehört haben, wußte Agdae nichts von dem Bergwerk, und wenn das geheim blieb, konnte der Partner allein den Nutzen daraus ziehen, ob Ag-dae nun den Hof erbte oder nicht.« »Behauptest du, daß Menma für alle Morde in Ara-glin verantwortlich ist?« fragte Duban. »Ich habe Schwierigkeiten, dir darin zu folgen.« »Menma war nur verantwortlich für die Morde an Morna, an Muadnat und an Dignait ... denn die wurden alle auf dieselbe Art verübt. Menma tötete seine Opfer wie ein Fleischer, der ein Lamm schlachtet.« »Aber warum wurde Dignait getötet?« fragte Pater Gorman. »Aus einem einfachen Grunde, und zwar demselben, aus dem Morna getötet wurde«, erwiderte Fidelma. »Sie wurde zum Schweigen gebracht. Dignait war nicht diejenige, die uns zum Frühstück die Giftpilze auf die Teller legte, an denen Bruder Eadulf beinahe gestorben wäre. Eine erfahrene Köchin hätte bessere Methoden gewußt, jemanden zu vergiften, als ihm ein Gericht Lorcheln vorzusetzen, die man leicht erkennen konnte.« »Der Angelsachse erkannte sie nicht«, wandte Cron spöttisch ein. »Ich weiß, daß Morcheln gewöhnlich gekocht gegessen werden. Ich bin fremd in eurem Land und dachte, dies wäre eure Art, sie zuzubereiten«, verteidigte sich Eadulf errötend. »Deshalb habe ich nicht gemerkt, daß es Lorcheln waren.« »Dignait wäre auf etwas anderes gekommen, hätte sie uns vergiften wollen. Nein, Dignait wurde getötet, weil sie den wirklichen Täter gesehen hatte.« »Und wer war das? Menma?« Grella fand den Mut, die Frage zu stellen. »Menma war an dem Morgen wie immer bei den Häusern zugange.« »Das sage ich euch zu seiner Zeit. Erst wollen wir das Spinnennetz noch weiter aufreißen. Kommen wir nun zu dem Mord an Eber und Teafa. Was den Fall so schwierig machte, war die Tatsache, daß die meisten Leute einen Grund hatten, Eber umzubringen. Er war ein gehaßter Mann. Bei Teafa war das anders. Wer haßte sie? Ich sah, daß es leichter sein würde, den Mord an Teafa aufzuklären als den an Eber. Wenn derselbe Täter beide getötet hatte, dann schieden viele Verdächtige aus.« Sie hielt einen Moment inne. »Als ich hierherkam, sagte man mir, Eber, der Fürst von Araglin, sei ermordet worden und seinen Mörder hätte man gefaßt. Ich sollte den Fall untersuchen und dafür sorgen, daß mit dem Mörder nach Recht und Gesetz verfahren würde. Das hörte sich ganz einfach an. Nur war es nicht so einfach. Der angebliche Mörder erwies sich als blind und taubstumm. Ich spreche von Moen. Er sollte nicht nur Eber, sondern auch die Frau getötet haben, die ihn aufgezogen hatte. Anfangs sagte man mir, Eber sei freundlich und großzügig gewesen und habe keine Feinde gehabt. Er sei ein Abbild aller Tugenden auf Erden gewesen. Wer würde ihn da töten außer einem wildgewordenen Tier? Als solches wurde mir Moen beschrieben.« Moen gab ein zorniges Knurren von sich, als Gadra ihm das übersetzte. Fidelma überging es. »Bald stellte sich jedoch heraus, daß Eber nicht das Abbild aller Tugenden war, wie zuerst jeder behauptet hatte. Offenbar war Eber ein seltsamer, abnormer Mensch. Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, was ihn dazu gemacht hat. Wie ich hörte, trank er auch und führte beleidigende Reden. Wen er verletzt hatte, den machte er sich durch Bestechung wieder gewogen. Man übersah seine Fehler, denn er war ja der Fürst. Doch er und seine Familie verbargen ein düsteres Geheimnis ... Es gab Inzest unter ihnen.« Cron erblaßte. Cranat neben ihr machte keinen Versuch, ihre Tochter zu trösten, sondern saß steif da, den Blick starr auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. »Die Anfänge davon liegen lange zurück, Cron«, sagte Fidelma. »Es begann zu der Zeit, als Eber in die Pubertät kam und seine beiden Schwestern in ähnlichem Alter waren. Mehrere Leute hier wußten, daß er seine Schwestern zwang, mit ihm zu schlafen, und andere vermuteten es vielleicht. Ich erfuhr in einem Gespräch, daß Moen in diesem Inzest gezeugt wurde.« Es wurde plötzlich still in der Halle. Cron warf einen Blick hinüber zu Moen. Ihr Gesicht war totenblaß. »Willst du damit sagen, daß er . daß Teafa . seine Mutter? Eber ...?« Die Worte blieben ihr im Halse stecken. »Ich habe keinen Zweifel daran, daß Teafa unter Ebers Nachstellungen zu leiden hatte«, fuhr Fidelma ruhig fort. »Aber er hatte noch eine andere Schwester namens Tomnat.« Duban sprang mit zornrotem Gesicht auf. »Wie kannst du es wagen, ihren Namen da hineinzuziehen!« schrie er. »Wie kannst du es wagen, anzudeuten, sie sei die Mutter eines ... eines ...« »Gadra!« Fidelma überging seinen Ausbruch und wandte sich dem alten Einsiedler zu. »Gadra, wer war Moens Mutter?« Der Alte ließ die Schultern resigniert sinken. »Du kennst die Antwort bereits.« »Dann sag sie allen, damit sie die Wahrheit erfahren.« »Es geschah in dem Jahr, bevor Eber Cranat heiratete. Tomnat wurde schwanger von Eber. Teafa wußte es.« »Tomnat liebte mich!« rief Duban dazwischen mit vor Erregung brüchiger Stimme. Cron starrte ihn an und traute ihren Ohren nicht. »Sie hätte es mir gesagt, wenn es so gewesen wäre. Sie ist verschwunden. Eber hat sie umgebracht, dessen bin ich mir sicher.« »So war es nicht«, entgegnete Gadra traurig. »Tom-nat und Teafa bewahrten das Geheimnis. Sie wußten, wenn es bekannt würde, wenn entweder Eber oder Pater Gorman davon erführen, dann hätten sie das Kind wohl töten lassen, Eber, um seine Schande zu verbergen, und Pater Gorman wegen seines unversöhnlichen Glaubens. Gorman findet es in Ordnung, was in vielen christlichen Ländern getan wird, daß nämlich im Inzest gezeugte Kinder im Namen der Moral getötet werden. Bei Pater Gorman hätte die arme Tomnat keine Hilfe gefunden, wenn sie sich an ihn gewandt hätte.« »Warum wandte sich Tomnat nicht an Duban? Er behauptet, daß er sie liebte und sie ihn.« Fidelmas Mund wurde schmal. »Wenn es so war, hätte sie sich doch Duban anvertrauen können.« »Wenn du die Wahrheit erfahren willst, sollst du sie hören«, erwiderte der Alte. »Tomnat wußte, daß Du-ban viel zu sehr in seinem Ehrgeiz befangen war, nach Cashel zu gehen und den goldenen Halsreif des Kriegers zu erringen. Trotz seiner Liebesbeteuerungen hätte Duban niemals die Erfüllung seines ehrgeizigen Wunsches gefährdet. Durfte sie damit rechnen, daß er das Kind annehmen würde, das Kind ihres eigenen Bruders?« Duban beugte sich vor und verbarg das Gesicht in den Händen. »Also wandte sie sich an dich, Gadra?« fragte Fidelma ruhig. »Bevor man Tomnat ihren Zustand anmerkte, verließ sie Araglin und kam zu mir in meine Einsiedelei. Sie wußte, daß sie dort sicher war. Nur Teafa kannte ihren Aufenthaltsort.« »Wenn Tomnat es mir nicht sagen konnte, warum hat es Teafa mir nicht gesagt?« rief Duban. »Ich habe wochenlang das ganze Tal nach Tomnat abgesucht und gedacht, Eber hätte sie umgebracht.« »Teafa bewahrte das Geheimnis auf Tomnats Wunsch hin«, erklärte der Alte. »Sprich weiter«, sagte Fidelma. »Was geschah dann?« »Als ihre Zeit kam, gebar Tomnat Moen und starb dabei. Teafa war bei ihr und beschloß, das Baby zu sich zu nehmen und aufzuziehen. Sie wollte es als Findelkind ausgeben. Erst später merkte sie, daß das Kind behindert war, aber sie behielt es trotzdem, denn das hatte sie ihrer toten Schwester geschworen.« Alle Blicke richteten sich auf Moen, dessen Gesicht sich kummervoll verzog, als Gadra ihm übersetzte, was er gesagt hatte. Fidelma schaute sich verächtlich in der Halle um. »Ihr seid hier eine bäuerliche Gemeinschaft. Bauern! Ihr wißt doch Bescheid über Inzucht. Ihr wißt, daß die Nachkommen eng verwandter Tiere meist bestimmte Verhaltensweisen oder Eigenschaften der Elterntiere verstärkt aufweisen. Das kann günstige Auswirkungen haben, zum Beispiel zu höherer Intelligenz führen, aber es kann auch Behinderungen wie Taubheit, Blindheit oder die Unfähigkeit zu sprechen nach sich ziehen.« Cron unterbrach sie mit Abscheu in der Stimme. »Willst du damit sagen, daß wir Moen annehmen müssen als den Sohn meines Vaters . seines eigenen Onkels? Daß er mein . mein Halbbruder ist?« Sie erschauerte bei diesen Worten. »Tomnat starb und hinterließ ein lebendes Kind«, bestätigte Fidelma. »Wie wir alle wissen, gab Teafa Moen als Findelkind aus, das sie auf der Jagd im Wald gefunden hätte. Anfangs fiel es nicht auf, daß das Kind anders war als andere Kinder. Doch dann merkte Tea-fa, daß mit dem Kind etwas nicht stimmte. Sie ließ Gadra holen, und als weiser Mann und Heiler erkannte Gadra das Problem. Er konnte die durch den Inzest hervorgerufenen Behinderungen nicht beheben, aber er lehrte Teafa eine Methode, sich mit Moen zu verständigen. Von seinen körperlichen Mängeln abgesehen, war das Kind hochintelligent und lernfähig. Teafa zog einen begabten Jungen groß.« »Meinst du, daß Eber nicht einmal wußte, daß Moen sein Sohn war?« fragte Agdae. »Nach allem, was man hört, war er freundlich zu dem Jungen«, erwiderte Fidelma. »Während alle Leute hier Eber haßten, tat Moen das nicht.« Sie wandte sich wieder Gadra zu. »Frage Moen, ob er wußte, daß Eber sein Vater war.« Gadra schüttelte den Kopf. »Das brauche ich ihn nicht zu fragen. Er hat viel gelitten. Ich kann dir aber sagen, daß Teafa das dem Jungen nie verraten hat. Es geschah zu seinem eigenen Schutz. Soviel ich weiß, hat auch Eber nie erfahren, daß Moen sein eigen Fleisch und Blut war.« »Später hat man es Eber doch gesagt«, warf Fidelma rasch ein. »Eines Tages gab es einen Streit, den Critan mit anhörte. Dazu kommen wir noch.« »Was hat meines Vaters ... sexuelles Verhalten«, mischte sich Cron ein, hielt dann inne und formulierte ihren Einwand neu. »Das alles mag von Interesse sein, aber es sagt nichts darüber aus, wer an dem Tod Ebers und Teafas schuld war.« »Oh, das tut es wohl«, erwiderte Fidelma. »Bitte erkläre das«, forderte die Tanist kühl. »Willst du damit sagen, daß du jetzt doch Moen für schuldig hältst? Daß er herausfand, wer sein wirklicher Vater war? Daß er Eber wegen des Unrechts haßte, das er seiner Mutter und ihm angetan hatte?« Fidelma schüttelte den Kopf. »Die Beschuldigung, Moen sei der Mörder, habe ich schon in einem frühen Stadium der Untersuchung verworfen. Noch bevor ich mit ihm gesprochen hatte, wußte ich, daß Moen nicht der Mörder war.« »Kannst du das bitte genauer darlegen?« fragte Pater Gorman trocken. »Mir schien es ganz offensichtlich zu sein, daß Moen der Täter war.« »Die ursprüngliche Anklage lautete, Moen habe Teafa umgebracht und sich dann den Weg zu Ebers Wohnung gesucht und ihn ermordet. Mehrere Dinge paßten da nicht zusammen. Erstens erfuhr ich von Critan, daß er Teafa lebend gesehen hatte, nachdem Moen in Ebers Wohnung gegangen war. Wenn Moen beide Morde verübt haben sollte, dann mußte er erst Teafa und dann Eber getötet haben.« »Warum das?« fragte Agdae. »Weil Menma aussagte, er habe Moen mit dem Messer in der Hand über Ebers Leiche gebeugt angetroffen, nachdem er ihn gerade erstochen hatte. Die ganze Anklage beruhte darauf, daß Moen beinahe auf frischer Tat ertappt worden war.« Das nahmen die Zuhörer schweigend zur Kenntnis. Dann sagte Cron: »Aber du hast Menma bereits als Mörder und somit auch als Lügner überführt. Vielleicht hat er gelogen.« »Er hat sicherlich gelogen«, stimmte ihr Fidelma gelassen zu, »aber nicht in diesem Fall. Daß er Moen am Schauplatz der Tat entdeckte, kam ihm sehr gelegen. Etwas Besseres hätte er sich nicht wünschen können. Aber Teafa war noch am Leben, als Moen Ebers Wohnung betrat. Critan kam von Clidnas Haus zurück, begegnete Moen auf dem Weg zu Ebers Wohnung und sah dann Teafa lebendig an ihrer Hütte stehen mit einer Laterne in der Hand. Als Critan mir das erzählte, kam ihm, glaube ich, für einen Augenblick zum Bewußtsein, wie unlogisch das war, aber da er wollte, daß Moen der Schuldige wäre, überging er es. Moen war in den frühen Morgenstunden spazierengegangen und wollte gerade zurück in Teafas Hütte, als ihm jemand einen Ogham-Stab in die Hand drückte. Mit Hilfe von Ogham kann man sich mit Moen verständigen. Moen berichtete mir, es sei jemand mit schwieligen Händen gewesen, doch wegen des starken Parfüms, das er roch, meinte er, es sei eine Frau gewesen. Die Schrift auf dem Ogham-Stab forderte ihn auf, sofort in Ebers Wohnung zu kommen. Er ging hin, stolperte über die Leiche, und so fand ihn Menma. Die Person, die Moen den Ogham-Stab in die Hand drückte, hatte den Mord begangen und wollte es so einrichten, daß er bei Eber entdeckt und verurteilt würde.« »Welchen Beweis hast du für die Existenz dieses sagenhaften Ogham-Stabes, mit dem man Moen aufforderte, zu Eber zu kommen?« fragte Pater Gorman. »Beweis? Ich habe den Stab selbst.« Fidelma lächelte selbstzufrieden. »Moen hatte nämlich den Stab an der Tür verloren. Er wurde ihm aus der Hand geschlagen, bevor er zu Ebers Wohnung ging. Der Mörder wollte nicht, daß dieses Beweisstück gefunden würde. Eber war bereits ermordet worden. Gerade als der Mörder den Stab wieder an sich bringen wollte, kam Teafa, von der Unruhe an der Tür geweckt, heraus. Sie hielt eine Lampe in der Hand und hatte eben erst gemerkt, daß Moen nicht da war. Sie sah den Og-ham-Stab und hob ihn auf. In dem Moment erblickte sie Critan und fragte ihn, ob er Moen gesehen habe. Der Bursche log sie an und ging seiner Wege. Der Mörder hatte im Schatten warten müssen, bis Critan fort war, und nun befand er sich in einem Dilemma. Teafa war in ihre Hütte gegangen, um die falsche Botschaft in Ogham zu lesen. Also mußte sie ebenfalls getötet werden. In dem Kampf mit ihr fiel die Öllampe, die Critan in Teafas Hand gesehen hatte, zu Boden und fing Feuer. Das Feuer mußte gelöscht werden, denn der Mörder wollte sichergehen, daß man auch diesen Mord Moen zur Last legte. Den Ogham-Stab mit der Anweisung darauf warf er ins Feuer, er verbrannte aber nicht ganz. Was auf dem Rest steht, läßt sich noch mit dem vergleichen, was in Moens ausgezeichnetem Gedächtnis haftenblieb. Er erinnerte sich, daß auf dem Stab stand: >Eber will dich sofort sprechen^ Die Buchstaben ER und WILL sind noch erhalten.« Bruder Eadulf lächelte darüber, wie einfach Fidel-mas Erklärung war. »Moen sollte noch etwas getan haben, was geradezu unmöglich war«, warf er ein. »Als Menma Moen über die Leiche gebeugt antraf, war es kurz vor Sonnenaufgang, sagte er. Und neben Ebers Bett brannte eine Lampe.« »Na und? Was ist daran verkehrt?« fragte Duban. »Vor Sonnenaufgang ist es immer dunkel.« »Und wozu hätte Moen eine Lampe gebraucht?« wollte Eadulf wissen. »Das widerlegt die Beschuldigung, Moen habe sich heimlich eingeschlichen und Eber im Schlaf erstochen.« »Genau«, meinte Fidelma anerkennend. »Es sei denn, wir glaubten, ein Blinder brauche eine Lampe, um zu sehen, was er tut.« »Eber könnte die Lampe selbst angezündet haben«, erklärte Agdae, »um Moen hereinzulassen, und dann .« »Natürlich!« spottete Fidelma. »Eber war wach, zündete die Lampe an und ließ Moen ein. Dann ging er wieder zu Bett und wartete bereitwillig, bis Moen sich dorthin getastet hatte, wo die Jagdmesser hingen, sich eins aussuchte, den Weg zum Bett fand und ihn erdolchte. Moens Version erklärt das Geschehen viel besser. Daß nämlich Eber schon tot war, als er den Raum betrat. Der Mörder hatte ihn bereits erstochen. Dann ging der Mörder hinaus, um Moen zu Ebers Wohnung zu locken, und mußte dabei auch noch Tea-fa töten. Eber wurde nicht im Schlaf erstochen. Er wurde von jemandem umgebracht, den er gut kannte und gegen den er keinen Verdacht hegte. Er hatte die Lampe angezündet und den Täter in sein Schlafzimmer gelassen.« »Wem sollte Eber so weit vertrauen, daß er ihn in sein Schlafzimmer ließ?« fragte Agdae. »Seiner Ehefrau?« Cron holte tief Luft. »Beschuldigst du meine Mutter?« Fidelma sah Cranat nachdenklich an. Ebers Witwe warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Ich habe schon darauf gewartet, daß du deine üblen Anschuldigungen gegen mich richtest«, zischte Cranat. »Schwester Fidelma, ich erinnere dich daran, daß ich eine Prinzessin der Deisi bin. Ich besitze mächtige Freunde.« »Dein Rang und deine Freunde bedeuten mir nichts, Cranat. Vor dem Gesetz sind wir alle gleich. Aber wir kommen nun endlich zu der Spinne im Zentrum ihres komplizierten Netzes.« Cron starrte ihre Mutter entgeistert an. »Das kann doch nicht sein.« »Cranat hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß sie nach Geld und Macht strebt«, höhnte Agdae. »Du kannst nicht beweisen, daß Cranat Anlaß hatte, ihren eigenen Gatten zu ermorden«, erhob Pater Gorman Einspruch bei Fidelma. »Daß Cranat Anlaß dazu hatte? Ich kann es versuchen. Seit Cron dreizehn Jahre alt war, fand sich Cra-nat bereit, ihren Haß auf Eber zu unterdrücken, solange er sie unterstützte. Als Teafa ihr verriet, was Eber tat, verließ sie zwar sein Bett, lebte aber weiter als Fürstin: Reichtum geht über Tugend. Eber schien geneigt, das so zu akzeptieren. Vielleicht brauchte er eine Gattin, um den äußeren Anschein zu wahren? Von Duban hörte ich, daß es vor wenigen Wochen, als Cron Tanist wurde, erneut Streit zwischen Teafa und Cranat gab. Dabei wurde auch Moen erwähnt. Da erst erfuhr Cranat die Wahrheit über den Sohn ihres Gatten. Wollte sie nun Rache nehmen?« Fidelma hielt inne. Niemand sprach. »Reichtum geht über Tugend. Quaerenda pecunia primum est virtus post nummos. Cranat mochte Ebers Bett verlassen haben, doch eigenartigerweise begann sie nun eine Liebschaft mit Muadnat. Starb Eber, könnte sie die Gattin des neuen Fürsten werden.« Bruder Eadulf meldete sich aufgeregt zu Wort. »Moen sagte, die Person, die ihm den Ogham-Stab gab, habe schwielige Hände gehabt wie ein Mann. Aber er roch Parfüm und glaubte, es sei eine Frau. Dignait hatte schwielige Hände. Dignait stand Cranat nahe, denn sie stammte auch von den Deisi und war als Cra-nats Dienerin hergekommen, als Cranat Eber heiratete.« »Nur Damen von Rang verwenden Parfüm«, korrigierte ihn Duban. »Dignait hätte kein Parfüm benutzt.« »Willst du damit behaupten, meine Mutter wäre Muadnats Partnerin bei dem Goldbergwerk gewesen und habe beschlossen, meinen Vater zu töten, um ihn heiraten zu können?« fragte Cron ungläubig. »Cranat hatte Grund, Eber und Moen zu hassen. Teafa hatte sie über die Verwandtschaft aufgeklärt.« Sie hielt inne und blickte Cron an. »Du kannst gut Latein, nicht wahr?« »Meine Mutter hat es mich gelehrt«, erwiderte die Tanist. »Sie hat dich gut erzogen. Es war eine lateinische Nachricht auf einem Stück Pergament, die zur endgültigen Lösung des Rätsels führte. Nachdem Menma Dignait in ihrem Zimmer getötet hatte, damit sie nicht aussagen konnte, wer die Lorcheln in der Küche auf die Teller gelegt hatte, erhielt er den Auftrag, die Leiche in Archüs unterirdische Vorratskammer zu schaffen. Dann sollte er mir das Pergament geben, auf dem der Hinweis darauf in Latein geschrieben stand. Es war gutes Latein.« »Werde ich angeklagt, weil mein Latein so gut ist?« höhnte Cranat. »Ist dein Ogham ebenso gut?« erkundigte sich Fidelma. Sie fuhr fort, bevor Cranat antworten konnte. »Man tut gut daran, sich an den Ausspruch von Publius Terentius Afer zu erinnern, daß noch nie jemand einen Plan ersonnen habe, der nicht in der Ausführung abgeändert werden mußte. Duban war Menma zum Bergwerk gefolgt, weil er ihn mit den sogenannten Viehdieben beobachtet hatte. Er erreichte den Eingang der Höhle und hörte, wie Muadnats Partner Menma letzte Anweisungen gab. Duban stürmte in die Höhle. Menma hielt ihn auf und ermöglichte seinem Herrn damit die Flucht. Ich war auch da und sah die Gestalt davonreiten.« »Du sahst eine Gestalt?« spottete Cranat. »Schwörst du, daß ich es war?« »Es war eine Gestalt in einem bunten Amtsmantel.« Crons Versuch zu lächeln geriet zu einer Grimasse. Sie wies auf das Amtsgewand, das sie trug. »Aber ich trage solch einen Mantel.« »Das stimmt«, rief Eadulf. »Und ich habe eine Gestalt in einem ähnlichen bunten Mantel den Weg über die Berge zum Bergwerk hinaufreiten sehen an dem Tag, als wir auf Muadnats Gehöft waren.« »Jetzt komme ich ganz durcheinander. Klagst du Cranat oder ihre Tochter an?« rief Pater Gorman. »Vor einiger Zeit erzählte mir Cron, daß ein solcher bunter Mantel von allen Fürsten von Araglin und ihren Gattinnen getragen wird. Du trägst auch einen, nicht wahr, Cranat? Und du benutzt auch ein starkes Rosenparfüm.« Ebers Witwe blickte Fidelma finster an, doch diese wandte sich nun an Gadra. »Gadra, sag Moen, daß ich ihn etwas riechen lassen möchte. Bring ihn her.« Sie erklärte den Zuhörern: »Zum Ausgleich für das Fehlen seiner anderen Sinne besitzt Moen einen hochentwickelten Geruchssinn, den ich früher schon an ihm beobachten konnte.« Gadra tat, wie ihm geheißen, und führte Moen nach vorn bis vor das Podium. »Pater Gorman, würdest du bitte hinzutreten und das Verfahren bezeugen? Es darf später nicht heißen, Moen sei im Zweifel gewesen.« Etwas widerwillig kam der Priester nach vorn. Dann wandte sich Fidelma an Gadra. »Erkläre Moen, er solle riechen, was ihm vorgehalten wird, und jeden Geruch identifizieren, den er schon einmal gespürt hat. Sag ihm, ich möchte es wissen, wenn er denselben Geruch wahrnimmt wie bei dem, der ihm den Ogham-Stab reichte.« Sie streckte ihre Hand hin, damit Moen daran riechen konnte. Cranat hatte sich erhoben. »Ich lasse dieses Ungeheuer nicht in meine Nähe!« kreischte sie und wollte die Halle verlassen. »Du hast keine Wahl«, versicherte ihr Fidelma und gab Duban das Zeichen, vorzutreten und sich hinter sie zu stellen. Bei Fidelmas Handgelenk hatte Moen den Kopf geschüttelt. Fidelma nötigte Cron, die Hand auszustrecken. Moen roch daran, dann schrieb er einige Zeichen auf Gadras Hand. Gadra schüttelte den Kopf. Cranat hielt die Hände entschlossen hinter dem Rücken. »Pater Gorman«, entschied Fidelma, »da Cranat sich weigert, dem Jungen ihre Hand hinzuhalten, würdest du ihr bitte helfen? Sie wird wohl nichts dagegen haben, wenn die Hand eines Priesters sie berührt.« »Es tut mir leid, Lady«, murmelte Pater Gorman und nahm mit sichtlichem Widerwillen ihren linken Arm. Cranat drehte empört den Kopf zur Seite, während Moen an ihrem Handgelenk roch. Erregung packte die Zuschauer, als er sich umwandte und schnell Zeichen auf Gadras Hand schrieb. Der Alte blickte ihn entsetzt an. »Das ist ein falsches Spiel!« kreischte Cranat. »Ihr habt euch abgesprochen, mir die Schuld zuzuschieben!« Aber der Alte sah nicht Cranat an. »Es ist nicht der Geruch der Frau, den er wiedererkannt hat«, sagte Gadra langsam und starrte entgeistert Pater Gorman an. Der Priester war totenblaß geworden. Duban war automatisch vorgetreten und hatte den Priester am Handgelenk gepackt. Dann sah er verwirrt zu, wie dieser sich wehrte. »Aber Moen sagte doch, die Person, die er an Tea-fas Tür roch, habe schwielige Hände gehabt. Die Hände des Priesters sind so weich wie Frauenhände.« Fidelma blieb gelassen. »Heute trägst du deine Lederhandschuhe nicht, Pater Gorman?« bemerkte sie. »Weißt du, Duban, gestern gabst du mir die Antwort, die mir noch fehlte, denn als ich glaubte, deine Hände wären schwielig, hattest du einfach nur Lederhandschuhe an.« Mit einem plötzlichen Schrei riß sich Pater Gorman aus Dubans Griff los, sprang vom Podium und wollte aus der Halle stürmen. Aber auf halbem Wege wurde er überwältigt und weggeführt. Mit wutverzerrtem Gesicht schrie er kaum verständlich: »Und Christus sprach: >Ihr Schlangen, ihr Otterngezüchte! Wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen?Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, da sie die Motten und der Rost fressen und da die Diebe nachgraben und stehlendaß das Gesetz gut ist, so es jemand recht braucht««, erwiderte Fidelma. »Und ein weiser Grieche, Heraklit, sagte einmal, die Bürger sollten für ihr Gesetz kämpfen, als verteidigten sie ihre Stadtmauer gegen ein fremdes Heer.« »Darin bleiben wir wohl verschiedener Ansicht. Das Gesetz kann nicht Moral erzwingen. Aber ich danke dir für das, was du getan hast. Lebe wohl, Fidelma von Kildare. Lebe wohl, mein angelsächsischer Bruder. Friede sei mit euch auf eurem Wege.« Sie sahen dem Alten nach, als er Moen auf dem Waldweg fortführte. Traurigkeit überkam Fidelma. »Ich wünschte, ich hätte ihn davon überzeugen können, daß unser Gesetz geheiligt ist, das Ergebnis von Jahrhunderten menschlicher Weisheit und Erfahrung, das uns ebenso beschützt, wie es uns bestraft. Wenn ich das nicht glaubte, könnte ich nicht Anwältin sein.« Eadulf neigte zustimmend den Kopf. »Hat nicht mal jemand gesagt, daß es nicht die Gesetze sind, die sich korrumpieren lassen, sondern die, die sie auslegen?« Fidelma schwang sich wieder in den Sattel. »Vor vielen Jahren schrieb Aischylos, daß ungerechtes Handeln sich nicht vermittels rechtlicher Kniffe durchsetzen darf. Infolgedessen müssen wir das Gesetz unserem eigenen Urteil unterwerfen. Ich glaube, das hat der Evangelist Matthäus tatsächlich gemeint, als er schrieb: >Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet<.« Sie lenkten ihre Pferde nordwärts auf den Weg nach Cashel.